Paris. Sitzung vom 26. Juni. Morgens 8 1/2 Uhr. Ich fühle mich glücklich ‒ begann Sénard ‒ Ihnen anzeigen zu können, daß der Erfolg unsere Anstrengungen krönt. Die Lage von Paris läßt sich in Folgendem zusammenfassen. Auf der Stadtseite des linken Ufers ist der Aufstand verschwunden. Es gibt dort nichts mehr, nichts! Würde sich durch Zufall noch eine Bewegung zeigen, so kann sie keinen Ernst haben. Auf der rechten Stadthälfte ist der Erfolg nicht minder vollständig. Das Temple-Faubourg ist gänzlich beherrscht. Die Barrière du Temple ist von der der Linie besetzt. Die Gegend des Stadthauses verräth keine Spur mehr von Aufstand. Von den elisäischen Feldern bis zum Bastillenplatz ist die Cirkulation hergestellt; die breiten Seineufer sind frei. Aber vom Bastillenplatz rückwärts noch an den Straßeneingängen beginnt der Widerstand. Das Faubourg St. Antoine ist noch der Schauplatz schauriger Ereignisse. Heute früh zwischen 2 bis 3 Uhr erschien unser Kollege Larabit in Begleitung von vier Individuen bei mir, welche sich als Delegirte des Faubourgs St. Antoine erklärten. Larabit, der ihnen als Geleitsmann diente, erzählte mir, daß er sowohl in seinem Namen, als im Auftrage des Erzbischofs von Paris und zweier anderer unserer Kollegen, den Auftrag zu Vergleichsvorschlägen habe. (Lärm.) Larabit hatte sich in die Mirte der Insurgenten begeben und sich zwischen den Barrikaden mit ihnen unterhalten. Die Unterredung, die ich mit den vier Delegirten hatte, welche mir aufrichtige Männer schien nen, bestand wesentlich in Folgendem: Was wollt ihr? fragte ich sie. Sie antworteten mir mit dem, was sie in den Journalen gelesen hätten. In welchen Journalen? wiederhole ich; wahrscheinlich weder im Constitutionnel noch im National noch in den Debats? O nein, antworteten die Delegirten, der Arbeiter liest nur Blätter, die für 1 Sous auf der Straße verkauft werden (die genannten Blätter, mit Ausnahme des National aus Privatrücksichten, wurden bisher nicht ausgeschrien). Nach dieser Einleitung überreichten mir die Delegirten ein Papier, auf welchem viele Brigadiers der Nationalwerkstätten den Vorschlag machten, das Faubourg St. Antoine vor einem mörderischen Kampfe zu bewahren, wenn man ihnen einen Waffenstillstand bewillige. „Wir wünschen kein Blutvergießen (heißt es darin), wir wollen nur unsere Rechte als Bürger gesichert wissen; wir wollen die demokratische Republik und das Recht zu leben.“ Ich antwortete den Delegirten nach Durchlesung dieses Schreibens: „Bürger, wenn Ihr Euer Recht als französische Bürger erhalten wollt, so reißt Eure Barrikaden nieder. Wo nicht, so seid Ihr nur Empörer. Unterwerft Euch und kehrt in den Schooß jener demokratischen Republik zurück, welche die Nationalversammlung zu gründen die Absicht hat.“ (Stimmen: Zu welcher Stunde geschah das?) Senard: die Delegirten haben mich in meiner Präsidialwohnung (dicht neben dem Bourbonpalaste) um 5 Uhr Morgens verlassen. Gegen 6 Uhr kamen sie wieder. Aber mit neuen Anträgen, mit neuen Bedingungen. Die Form ihrer Ansprüche hatte sich geändert. Sie verlangten einen Waffenstillstand, ganz und gar, ohne alle Bedingung. General Cavaignac war anwesend. Er erwiderte ihnen mit Entschlossenheit, daß er ihre unbedingte Unterwerfung verlange und auf keinerlei Bedingungen oder Vorbehalt eingehe. Sie brauchten ihn nicht weiter zu belästigen. Sie wüßten, daß seine Maßregeln so vortrefflich angeordnet seien, daß sich das Faubourg unmöglich lange halten könne. Die Generale Lamoricière und Perrot (Duvivier ist blessirt) haben dasselbe umringt und würden eher das Faubourg in Trümmer verwandeln, als sich Bedingungen von den Insurgenten gefallen lassen. Eine furchtbare Artillerie sei aufgefahren, um die Befehle auszuführen. Bis 10 Uhr habe er ihnen Ueberlegungsfrist bewilligt. So stehe es auf dem rechten Seine-Ufer. Ich muß Sie jetzt noch, fuhr Senard fort, auf einige Verwaltungsmaßregeln aufmerksam machen. Die Erste derselben ist, Ihnen anzuzeigen, daß in allen Häusern eine Nachforschung angestellt worden ist, um allen denjenigen Bewohnern die Waffen zu entreißen, welche am Straßen- und Wachtdienst keinen Theil nahmen und trotz des Generalmarsches in ihren Zimmern blieben. Die zweite Maßregel ist, alle Klubs zu schließen, welche gefährlich sind. (Lärm zur Linken). 3. Die Preßfreiheit zu beschränken. (Ja, ja). 4. Einen Ausschuß zu ernennen, der den Fäden des Aufruhrs nachspüre, welchen wir seit drei Tagen bekämpfen und welcher mit dem Komplott des 15. Mai in Verbindung zu stehen scheint, das direkt gegen die Versammlung gerichtet war. Dieser letzte Entwurf lautet wörtlich: Art. 1. ' Eine Kommission von 15 Mitgliedern der Nationalversammlung ist eingesetzt, um den Ursprung und die Gründe der Insurrektion zu untersuchen, welche seit 3 Tagen die Hauptstadt in Trauer versetzt. Art. 2. Dieselbe Kommission hat sich mit der Staatsanwaltschaft in Verbindung zu setzen, welche den Prozeß des 15. Mai leitet. Die dritte Maßregel endlich ist das bereits gestern mitgetheilte Verbannungsdekret aller mit den Waffen in der Hand gefangenen Insurgenten. Die Redaktion ist etwas geändert worden. Art. 1. Jedes mit den Waffen in der Hand ergriffene Individuum wird sofort in eine der französischen überseeischen Besitzungen deportirt. Art. 2. Die Vollziehungsgewalt ist mit den nöthigen Maßregeln zur Ausführung des Dekrets beauftragt. Art. 3. Dasselbe findet jedoch auf Diejenigen keine Anwendung, welche eine die Menschheit verletzende Handlung verübten.
Die Versammlung zog sich zur Prüfung in ihre Bureaus zurück.
Um 111/2 Uhr wurde die Sitzung wieder aufgenommen. Viele Mitglieder waren noch in den Abtheilungen. Aber eine große Lebendigkeit zeigte sich im Saale. In einem der äußern Seitengänge hört man den Präsidenten den Huissiers zurufen: „Ja, ja, Alles ist gewonnen! Eilen Sie in die Bureausäle, um die Mitglieder in die Sitzung zu holen.“ Darauf erscheint er im Saale, steigt hastig die Treppe zu seinem Sitze hinauf und ruft enthusiastisch vor etwa dreißig Mitgliedern : „Bürger Repräsentanten, das Faubourg St. Antoine hat sich ergeben!“ (Bravos von den Zuschauerbühnen). „Ich beeile mich, Ihnen das Ende der Krisis anzuzeigen. Ein Adjutant des Kriegsministers Cavaignac hat so eben gestreckten Galopps die Nachricht gebracht, daß das Faubourg St. Antoine gefallen sei, d. h. sich ergeben habe. Zur festgesetzten Stunde hätten nämlich die Generale Lamoriciere und Perrot ihre Operationen begonnen; da sei ein Parlamentär erschienen und habe unterhandelt. Drei Bataillone nahmen Besitz vom Faubourg als der erwähnte Adjutant hierher eilte.“ ‒ Falloux: haben Sie Nachrichten vom Erzbischof? ‒ Präsident: derselbe scheint am Schienbeine schwer verwundet worden zu sein. ‒ Bischof Langres: Im Augenblick, wo er nach einer Unterredung mit Cavaignac und Senard auf den Barrikaden mit den Insurgenten als Friedensbote unterhandelte, machte sich in der Entfernung ein Trommelwirbel hörbar, welchem zwei starke Gewehrsalven unmittelbar folgten. Der Erzbischof wurde von einer Kugel durchbohrt, sie fuhr in die Eingeweide. Die Verletzung ist lebensgefährlich. Der Prälat hat das Abendmahl verlangt. Sobald die Insurgenten ihn fallen sahen, verlangten sie sofort ein Zeugniß, das ihnen bescheinige, daß die tödtende Kugel nicht von ihren Barrikaden, sondern aus den Reihen der anrückenden Bürgerwehren und Linientruppen Lamoricieres und Perrots geschossen worden sei. (Murren.) Gen. Subervic: was weiß man von unseren Kollegen Larabit und Cazalat? ‒ Beslay: als ich hörte, daß mein Freund Larabit sich hinter die Barrikaden begeben, eilte ich ihm nach. Ich sprach mit den Arbeitern, die ich als Fabrikant kenne, und erkundigte mich nach dem Schicksal meiner Kollegen. Sie erklärten mir, daß sie uns alle drei als Unterpfänder zurückhalten und uns auf die Barrikaden stellen würden, wenn Lamoriciere und Perrot mit ihren Soldaten und Bürgerwehren heranrücken würden. In diesem Falle, sagte ich, werdet ihr mir wenigsten eine Pistole nicht versagen, mit der wir uns selbst todtschießen können. Die Umstehenden betrachteten mich in der That als ihren Gefangenen und nur der energischen Dazwischenkunft eines Arbeiters, der mich speziell kannte, verdankte ich meine Befreiung. Larabit ist verletzt. Doch ist seine Wunde ungefährlich. Die Sitzung wird aufgehoben.
Mittags. Ein Mitglied stürzt in den Saal: Verrath, Verrath! Sie haben ein ganzes Bataillon niedergeschossen! hört man es rufen. Dieses Mitglied scheint zu erzählen, daß die Insurgenten 3 Bataillone hinter die Barrikaden gelockt hätten, unter der Angabe sich zu ergeben, daß sie aber dann alle ihre Feuerschlünde gegen sie gerichtet. Lebhafte Gespräche in der Mitte des Saales. Nichts Zusammenhängendes.
11/2 Uhr. Präsid. Senard, der das Ende der Insurrektion schon fünfzig Mal angezeigt hat, besteigt von Neuem den Vorsitz und ruft aus: Bürger-Repräsentanten! Alles ist beendigt! Die Widersprüche in den Nachrichten, die sich so eben kreuzten, rühren von der Bedeutendheit und topographischen Beschaffenheit des Faubourgs her. Natürlich konnte die Uebergabe noch nicht in allen Straßen bekannt sein. Aber sie ist sicher. Ein Unteroffizier hat mir so eben gemeldet, daß er das Faubourg in allen Richtungen durchritten. Ueberall cirkuliren Patrouillen. ‒ Antony Thouret: Es brennen unsere Häuser! Woher diese Flammen nach einer Uebergabe? ‒ Adelsward: Um 1 1/4 Uhr habe ich den General Lamoriciére gesprochen. Er hat mir gesagt, dast sich das Faubourg noch nicht ergeben habe. Mehrere Abtheilungen der Mobilgarde sind zu den Insurgenten übergegangen. Auch sprach er von geheimen Einverständnissen zwischen gewissen Repräsentanten und den Insurgenten.
Um 2 Uhr läuft eine Depesche ein, welche die Uebergabe des Faubourgs wirklich offiziell meldet. Hr. Girardin ist verhaftet.