Es ist eine lobenswerthe Einrichtung unserer Akademie, an dem Tage,
welcher dem Andenken ihres Stifters gewidmet ist, auch der Mitglieder
zu gedenken, welche im Laufe des Jahres aus dem Leben abberufen worden
sind. Einer der ersten schweren Verluste, welcher unseren Kreis im ver-
flossenen akademischen Jahre getroffen hat, war der Tod von Ernst Cur-
tius. Wenn ich es übernommen habe, dem Verstorbenen, mit welchem
mich von meiner Studienzeit in Göttingen her mannigfache Bande der Dank-
barkeit und immer erneuter wissenschaftlicher und persönlicher Beziehungen
verknüpft haben, hier die Worte des Gedächtnisses zu sprechen, so habe
ich mich nicht ohne ernste Bedenken dazu entschlossen. Was Curtius als
Gelehrter und als Mensch für die Akademie, zu deren langjährigsten Mit-
gliedern er gehörte und der er mehr als zwanzig Jahre als Secretar einen
Theil seiner besten Kraft gewidmet hat, für die Wissenschaft und für die
gebildete Welt gewesen ist, erschöpfend darzustellen, würde nicht allein
mein Vermögen, sondern auch die Grenzen der mir vergönnten Zeit weit
überschreiten. Meine Aufgabe muſs sich darauf beschränken, seine wissen-
schaftliche Thätigkeit in ihren Hauptrichtungen, wenigstens in den Um-
rissen zu zeichnen und so gut ich es vermag, ein Bild seiner Persönlich-
keit zu entwerfen; denn wenn von einem unserer groſsen Gelehrten der
Satz gilt, daſs die persönliche Bedeutung von der wissenschaftlichen Wirk-
samkeit nicht zu trennen sei, so trifft er für Curtius zu. Auch in dieser
Beschränkung aber hat sich mir die Aufgabe, wenn sie nicht allzu sehr
hinter dem Ziele zurückbleiben soll, als eine nicht leichte dargestellt.
Keinem, der Curtius' Leben überblickt, kann die Bemerkung ent-
gehen, daſs dasselbe von Anfang an unter ungewöhnlich günstigen Bedin-
gungen verlaufen ist; Curtius hat viel Glück gehabt in seinem Leben, wie
1*
U. KÖHLER: 4
man es wohl aussprechen hört. Im Jahr 1814 in der alten Hansestadt
Lübeck als Sohn eines hochgebildeten, patriotisch gesinnten Vaters geboren
und von der Natur körperlich wie geistig mit freigebiger Hand ausgestattet,
ist er in Verhältnissen aufgewachsen, welche eine harmonische Ausbildung
der ihm verliehenen Gaben und Fähigkeiten ermöglichten und ihn gegen
den niederdrückenden Einfluſs materieller Nothdurft sicher stellten. Seiner
Vaterstadt hat Curtius, auch nachdem ihm die geschichtliche Mission
Preuſsens in Deutschland zum Bewuſstsein gekommen und nachdem die
Stunde der Erfüllung geschlagen hatte, mit der pietätvollen Treue, welche
einen Grundzug seines Wesens bildete, angehangen. Curtius’ Universitäts-
studien fallen in die Zeit, in welcher die classische Philologie, die ihn schon
auf dem Gymnasium an sich gezogen hatte, als Alterthumskunde einen
neuen Inhalt gewonnen hatte und damit zu ihrer gröſsten Blüthe gelangte,
und es ist ihm vergönnt gewesen, in Bonn, Göttingen und Berlin den Lehr-
vorträgen derjenigen Männer, welche an der Spitze dieser wissenschaft-
lichen Bewegung standen, zu folgen und dieselbe in vollem Maſse auf seinen
empfänglichen Geist einwirken zu lassen. An die Lehrjahre haben die
Wanderjahre sich angeschlossen: eine glückliche Fügung hat Curtius un-
mittelbar von der Universität weg nach Griechenland, welches er sich be-
reits gewöhnt hatte als seine geistige Heimath anzusehen, geführt und ihn
während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Athen im Hause des dahin
übergesiedelten Philosophen Brandis, eines seiner Bonner Lehrer, und
durch Reisen auf dem Festlande, sowie auf den Inseln, die lebendige An-
schauung des classischen Bodens und seiner Denkmäler sich erwerben lassen,
die von so groſser Bedeutung für seine spätere wissenschaftliche Thätigkeit
gewesen ist. Curtius' Heimkehr aus Griechenland fällt in den Anfang
des Jahres 1841; ein Paar Jahre später, nachdem er mittlerweile eine öffent-
liche Lehrthätigkeit in Berlin übernommen hatte, ist er, wie bekannt in
Folge eines vor einem auserlesenen Publicum gehaltenen Vortrags über die
Akropolis von Athen als Erzieher des jungen Prinzen Friedrich Wilhelm
in das persönliche Verhältniſs zu dem, dem Throne am nächsten stehenden
Zweige des preuſsischen Königshauses getreten, welches den Höhepunkt
seiner Entwickelung bezeichnet. In seiner Stellung zum Hofe hat sich Cur-
tius den freien Blick, der über die Schranken des berufsmäſsigen Gelehrten-
thums weit hinaus reichte, und zugleich die weltmännischen Formen, welche
auch den Gelehrten zieren, angeeignet; sein Verhältniſs als Prinzenerzieher
Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius. 5
brachte ihn ungesucht in Berührung mit allen Gröſsen auf den Gebieten
der Wissenschaft, der Litteratur und Kunst, welche in der Mitte des Jahr-
hunderts in Berlin versammelt waren, und diente auch insofern dazu, seinen
geistigen Horizont auszudehnen. Die Bedeutung, welche es für die Wissen-
schaft hatte, daſs Curtius durch die erfolgreiche Hingebung, mit welcher
er sich seiner paedagogischen Aufgabe widmete, in immer steigendem Maſse
sich die Huld und das Vertrauen der fürstlichen Eltern, des nachmaligen
Königs und Kaisers Wilhelm und seiner hochsinnigen Gemahlin, erwarb,
sollte später zu Tage treten. Gewiſs, Curtius hat viel Glück im Leben
gehabt, aber eben so sicher ist es, daſs die Gunst des Geschickes nie
einem Würdigeren zu Theil geworden ist.
Curtius selbst hat in seinen späteren Jahren mit dem frommen Sinn,
der ihm eigen war, in der Gestaltung seines Lebens die Hand Gottes er-
kannt. Den Männern, welche ihn in die Wissenschaft eingeführt und seinen
Studien die Richtung gegeben hatten, hat er bis zum letzten Athemzuge
die Dankbarkeit gewahrt. Ungezählte Male nennt er in seinen Schriften
Böckh, Welcker und K. Otfr. Müller als seine Lehrer und Vorbilder.
Zu Welcker scheint er in ein näheres persönliches Verhältniſs nie getreten
zu sein; um so inniger gestalteten sich nach der Heimkehr aus Griechenland
seine Beziehungen zu Böckh. Am stärksten hat doch Otfr. Müller auf
Curtius eingewirkt, nicht allein weil dieser ihm im Lebensalter näher stand
als Böckh und Welcker, sondern weil Curtius und Müller grundver-
wandte Naturen waren. Der angeborene Sinn für die Form und die ideale
Auffassung waren Beiden ebenso gemeinsam wie die lebhafte Einbildungs-
kraft, nur daſs diese für den Gelehrten und Schriftsteller wesentlichen
Eigenschaften bei Curtius, ich möchte sagen, in der höheren Potenz vor-
handen, der Formensinn noch ausgebildeter, die Phantasie blühender waren.
Wenn Curtius an Müller die Frische des Geistes, welche die Schönheit des
Alterthums mit poetischem Sinne auffaſste und in edler Form zum Ausdruck
brachte, und an einer anderen Stelle die unglaubliche geistige Elasticität
preist, die denselben auf den verschiedensten Gebieten thätig sein lieſs, so
läſst sich das alles unverändert auf ihn selbst anwenden. Curtius’ erstes
bedeutendes Werk, durch welches er sich die ihm gebührende Stelle in der
gelehrten Welt eroberte, ist in Folge einer direceten Anregung Otfr. Müller’s
entstanden. Schon durch die Lehrvorträge Müller’s in Göttingen war in
Curtius der Sinn für die geographischen und topographischen Verhältnisse
U. Köhler: 6
der classischen Länder wachgerufen worden. In Müller war seit der Ab-
fassung der Geschichten hellenischer Stämme und Städte der Gedanke ge-
reift, eine allgemeine Geschichte des griechischen Volkes zu schreiben, welche
alle Seiten des nationalen Lebens umspannen sollte; als derselbe auf seiner
griechischen Reise, von welcher er nicht heimkehren sollte, in Athen an-
gekommen war, machte er Curtius den Vorschlag, sich mit ihm zu ver-
einigen und eine Beschreibung des griechischen Landes als einleitendes
Werk zu der allgemeinen Geschichte zu liefern. Daraus ist als Torso Cur-
tius’ Werk über den Peloponnes entsprungen, dessen beide Bände in den
Jahren 1851 und 1852 ans Licht traten. Als historisch-geographische Be-
schreibung hat Curtius seinen Peloponnes auf dem Titelblatt bezeichnet;
er hat damit selbst dem Leser im voraus den Schlüssel zum Verständniſs
des Werkes als Ganzes in die Hand gegeben. Die nach allen Seiten hin
bahnbrechende wissenschaftliche Bewegung, die in der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts in Berlin herrschte, hatte sich auch auf die Erdkunde er-
streckt; es waren die durch Karl Ritter begründeten Anschauungen von
der Wechselwirkung der natürlichen Verhältnisse der Länder und des ge-
schichtlichen Lebens der Bewohner, welche von Curtius in eigenartiger
und selbstständiger Weise auf einen Theil von Griechenland angewendet
wurden. Die lebendige Gestaltungskraft und die Beherrschung des Stoffes
war dem Begründer der vergleichenden Erdkunde versagt. An Reisewerken
über den Peloponnes fehlte es nicht; das in diesen aufgespeicherte Material
wurde von Curtius nach bestimmten Gesichtspunkten gesichtet und durch
die localen Anschauungen, welche er selbst sich auf seinen Wanderungen
erworben hatte, bereichert und belebt; auf Grund der eigenen und der
fremden Beobachtungen führt er dem Leser in durchsichtiger Klarheit und
plastischer Anschaulichkeit, mit feinsinnigem Verständnils immer nur das
Wesentliche und Charakteristische im Auge habend, im beständigen Hin-
blick auf die Geschichte ein Bild des Peloponnes nach seiner natürlichen
Gliederung im Ganzen und im Einzelnen und seiner antiken Denkmäler und
Überreste vor. So steht das Werk über den Peloponnes bis auf den heutigen
Tag als ein in seiner Art unerreichtes Vorbild da; Curtius selbst hat
meines Bedünkens das, was er im Peloponnes als Forscher und Schrift-
steller geleistet hat, in keinem seiner späteren Werke überboten. Partien
wie die lichtvolle Schilderung der Landschaft Lakonien im zweiten Bande
gehören zu dem Gelungensten, was Curtius geschrieben hat. In der all-
Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius. 7
gemeinen Einleitung des Werkes, in welcher der Bau der gewaltigen Halb-
insel, die in den Peloponnes als letztes Glied ausläuft, vor den Augen des
Lesers zergliedert wird, sind auch die Gründe angegeben, welche eine be-
sondere Behandlung dieses Theiles Griechenlands rechtfertigen; die Wissen-
schaft hat es zu beklagen, daſs der ursprüngliche Plan, welcher das ganze
griechische Land umfaſste, nicht zur Ausführung gekommen ist.
Das Werk über den Peloponnes erschloſs Curtius die Pforte der Aka-
demie; in der Ansprache, mit welcher er sich am Leibniz-Tage 1853 in
den akademischen Kreis einführte, finde ich den frühsten Hinweis auf das
Werk, welches Curtius’ Namen weit über die gelehrten Kreise hinaus in
der gebildeten Welt bekannt machen sollte. Schon 1857 konnte der erste
Band der griechischen Geschichte erscheinen; damals nahm Curtius bereits
seit einem Jahre den Lehrstuhl an der Georgia-Augusta ein, den vor ihm
Welcker und Otfr. Müller innegehabt hatten. In der Stille des Göttinger
Lebens, welche erst durch das Kriegsjahr 1866 unterbrochen wurde, ist
die griechische Geschichte zu Ende gereift; der Abschluſs des dritten Bandes,
erschienen 1867, bezeichnet in litterarischer Beziehung auch den Abschluſs
von Curtius' Thätigkeit in Göttingen; im nächsten Jahr ist Curtius zurück-
gekehrt nach Berlin, um hier die Doppelstellung als Vertreter der Archäo-
logie an der Universität und Abtheilungsdirector in den Königlichen Museen
zu übernehmen, welche er, zum Segen der beiden Anstalten, bis zu seinem
Ende bekleidet hat. Den rechten Standpunkt für eine Würdigung von
Curtius’ griechischer Geschichte zu gewinnen, ist schon heutzutage nicht
ganz leicht. Curtius wurzelte mit seinen Anschauungen vom Alterthum in
der goldenen Zeit der deutschen Litteratur; das Hellenenthum war für ihn,
was es für Herder, Goethe, Schiller gewesen war, der Inbegriff freier und
edler Menschlichkeit. Nur in einem idealen Lichte konnte Curtius die
Geschichte des griechischen Volkes darstellen wollen. Die Culturbewegung,
die fortschreitende Entwickelung in Litteratur und Kunst, in Religion und
Wissenschaft ist dasjenige, was ihm am Herzen liegt; das staatliche und
politische Leben steht ihm weniger nahe; um so lebhafter werden die wirk-
lichen oder vermeintlichen Stammesunterschiede in der Geschichtserzählung
betont. Die griechische Colonisation wird mit besonderer Liebe beschrieben,
weil durch die Coloniegründungen der griechischen Cultur und Bildung neue
Stätten geschaffen wurden. Daſs die griechische Geschichte bei dieser Auf-
fassung von Curtius nicht über den Beginn des politischen und geistigen
U. Köhler: 8
Verfalles der Nation hinabgeführt werden konnte, ist klar. Die localen
Anschauungen, welche er gewonnen hatte, lieferten ihm den festen Hinter-
grund für die Geschichtserzählung, lieſsen ihn aber auch Manches richtiger
sehen als seine Vorgänger. Daſs zwischen den westlichen und östlichen
Gestaden des ägeischen Meeres seit den ältesten Zeiten ein Völkerverkehr
stattgefunden haben müsse, hatte ihm der Blick auf die Inselwelt gelehrt.
In bestimmtem Gegensatz zu Otfr. Müller, dem er so gern folgte und
dessen Anschauungen auf seine Auffassung der älteren Zeit wesentlich ein-
gewirkt haben, trat er energisch dafür ein, daſs die griechische Cultur in
ihren Anfängen von der älteren orientalischen abhängig gewesen sei. Die
monumentalen Entdeckungen in der Argolis und in anderen Theilen Grie-
chenlands haben Curtius in der Hauptsache Recht gegeben. Man sollte
meinen, die Entdeckung der prähistorischen Fürstengräber auf dem Burg-
hügel von Mykene wäre von Curtius mit Genugthuung begrüſst worden,
das war jedoch nicht der Fall. Von einem Ausfluge nach Mykene, den
er im Spätherbst 1877 am Schlusse der Ausgrabung gemeinschaftlich mit
seinem Freunde Charles Newton von Athen aus machte, kehrte er ver-
stimmt zurück; das Prunken mit Gold, welches sich ihm in der Ausstattung
der Gräber kund gab, schien ihm so gar unhellenisch zu sein; der Eindruck
des Barbarischen, den er erhalten hatte, war so stark, daſs ihm Zweifel
an dem Alter und dem Ursprung der ans Licht gezogenen kostbaren Gefäſse,
Waffen und Sehmucksachen entstanden waren. Bestand haben konnte diese
Skepsis nicht. Aber in der Darstellung der Vorzeit im ersten Bande der
griechischen Geschichte hat Curtius auch in der letzten Auflage seines
Werkes nichts geändert, sei es nun, daſs es seinem ästhetischen Gefühl
widerstrebte, an dem fertigen Bau zu flicken oder daſs er andere Gründe
gehabt hat, den ursprünglichen Text unverändert zu lassen; lieber hat er
die geschichtliche Bedeutung der monumentalen Entdeckungen in einem An-
hang am Schlusse des Bandes gewürdigt. Die groſsen Vorzüge des Curtius-
schen Geschichtswerkes haben dasselbe in weiten Kreisen im In- und Ausland
wirken lassen, wie allein schon die Zahl der Auflagen und die Übersetzung
in alle Cultursprachen Europas beweist; daſs man in engeren fachmännischen
Kreisen fand, Curtius habe, besonders in der Darstellung der älteren Zeit,
der Phantasie einen zu groſsen Spielraum gelassen und zwischen beglaubigter
Geschichte und sagenhaft-mythischer Tradition zu wenig geschieden, konnte
daran nichts ändern. In Frankreich und England hat Curtius’ Griechische
Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius. 9
Geschichte vielleicht eine nachhaltigere Wirkung ausgeübt, als selbst in
Deutschland.
Seitdem Curtius zur Geschichtsschreibung übergegangen war, hat auch
das Problem der Geschichte als Wissenschaft seinen Geist beschäftigt. In
der akademischen Rede über Philosophie und Geschichte, gehalten am
Leibniz-Tage 1873, bezeichnet er es als die Aufgabe des Historikers, »das
fragmentarisch Überlieferte in seinem Zusammenhange und das Vollendete
in seinem Werden zu verstehen«; dazu gehört als Vorstufe »Quellenforschung
und Urkundensammlung«. Das Haupterforderniſs des Historikers ist Un-
befangenheit und Unparteilichkeit in den politischen und religiösen Fragen.
Die Anklänge an die Anschauungen Ranke’s sind unverkennbar. Gegen-
über der Tendenz, das geschichtliche Leben der Völker und Staaten aus
wirthschaftlichen und socialen Gesetzen zu erklären, will Curtius, in Über-
einstimmung mit seinem jüngeren Collegen und Freunde Heinrich von
Treitschke, der sittlichen Freiheit und Verantwortlichkeit in der Geschichte
ihr Recht gewahrt wissen, ohne deshalb das Anregende und Fruchtbrin-
gende jener Betrachtungsweise in Abrede zu stellen; an einer anderen Stelle
nennt er neben den sittlichen Mächten die Offenbarung eines göttlichen
Willens. Um die schädliche Einwirkung eines einseitigen Parteistandpunktes
auf die Geschichtsbetrachtung darzuthun, verweist er auf die Darstellungen
der griechischen Geschichte von Mitford und Grote; die Bedeutung des
Grote’schen Geschichtswerkes hat er trotz des principiellen Gegensatzes
jederzeit anerkannt, sowie ihm überhaupt nichts ferner lag, als die Lei-
stungen Anderer herabzusetzen, um sich selbst auf ein höheres Piedestal
zu stellen. Curtius war ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller; den groſsen
darstellenden Werken gingen zu jeder Zeit Abhandlungen und kleinere Auf-
sätze zur Seite, welche theils als Vorstudien zu jenen gedacht, theils durch
sie hervorgerufen sich allmählich auf fast alle, auch sehr entlegene Gebiete
des griechischen Alterthums erstreckten. In seinem Peloponnes hatte er
mehrfach Gelegenheit gehabt, auf die Spuren alter Kunststraſsen auf der
Halbinsel hinzuweisen; daraus ist die berühmte Abhandlung »Zur Geschichte
des Wegebaus bei den Griechen« erwachsen, in welcher ein bis dahin
von Niemandem ins Auge gefaſster Gegenstand von ihm in bahnbrechen-
der und zugleich abschlieſsender Weise tractirt wurde. Und ähnlich in
anderen Fällen. Gemeinsam ist allen diesen Arbeiten die Beziehung auf
das Allgemeine im geschichtlichen Zusammenhange. Auch wo Curtius
Gedächtniſsreden. 1897. I. 2
U. Köhler: 10
von einem bestimmten Monument, einem Kunstwerk, einer Inschrift oder
einer Münze ausgeht, weiſs er sofort sich zu allgemeinen Gesichtspunkten zu
erheben, von denen aus das jedes Mal vorliegende Object betrachtet wird.
Das ist es, was seinen kleineren Arbeiten das Gepräge giebt und auch den
an sich weniger bedeutenden einen bleibenden Werth verleiht. Strenge
Untersuchung im Kleinen war nicht seine Sache. An den Ansichten, welche
sich Curtius mehr durch Intuition aus sich heraus als auf inductivem Wege
gebildet hatte, hielt er fest wie an Glaubenssätzen; so stark waren seine
Überzeugungen, daſs sie ihn leicht auch begründete Einwendungen über-
hören lieſsen. In vertrautem Gespräch konnte er sich unmuthig darüber
äuſsern, daſs man seine Arbeiten, statt sie als Ganzes, wie sie concipirt
seien, aufzufassen und zu widerlegen oder ihm zuzustimmen, in Einzelheiten
zerpflücke und diese bestreite.
Während Curtius, wenn immer es galt in Rede oder Schrift ideale
Interessen zu vertreten, einen feierlichen Ernst an den Tag legte, war ihm
sonst eine strahlende Heiterkeit, der unmittelbare Ausfluſs eines harmonisch
gestimmten Seelenlebens, eigen, die in jedem Kreis, in welchen er eintrat,
Licht und Wärme um ihn verbreitete und ihn auch in schicksalschweren
Momenten seines Lebens nicht ganz verlieſs. Die liebenswürdigen Züge in
Curtius’ Wesen, die ursprüngliche Frische, die ungetrübte Heiterkeit und
die freie Sicherheit traten vielleicht bei keiner anderen Gelegenheit erfreu-
licher zu Tage als auf seinen Reisen im Süden in dem ungebundenen Verkehr
besonders auch mit seinen jüngeren Reisegefährten. Unvergeſslich ist mir
das Bild, wie eines Tages der fast Sechzigjährige Allen voran einen steilen
Hügel an der Bai von Salamis hinanstürmte und mitten im Klettern die
Wacht am Rhein anstimmte. Seiner persönlichen Liebenswürdigkeit haupt-
sächlich auch ist es zuzuschreiben, dass er für die wissenschaftlichen Unter-
nehmungen, die er zu verschiedenen Zeiten ins Leben rief, in nicht zur
gelehrten Welt gehörigen fachmännischen Kreisen stets zu jedem Opfer an
Kraft und Zeit bereite Gehülfen und Genossen fand.
Unter den kleineren Arbeiten von Curtius nehmen die Beiträge zur
griechischen Landeskunde, der sein Werk über den Peloponnes gewidmet
war, einen breiten Raum ein, nur daſs sich in der späteren Zeit sein In-
teresse mehr und mehr auf Attika und die Topographie von Athen con-
centrirte. Nicht weniger als drei Mal hat Curtius es unternommen, die
Grazie der attischen Landschaft in Worten zu schildern, eine Aufgabe,
Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius. 11
welche Welcker in dem Tagebuche seiner griechischen Reise für unlöslich
erklärt. Ihren Abschluſs erhielten diese Studien in der Stadtgeschichte
von Athen, erschienen 1891, genau 50 Jahre, nachdem Curtius in seiner
Promotionsschrift De portubus Athenarum zum ersten Male eine Frage der
attischen Topographie selbstständig behandelt hatte. Man kann vielleicht
verschiedener Meinung darüber sein, in wie fern es theoretisch gerecht-
fertigt sei, eine Stadt als solche, und sei es auch Athen, zum Gegenstand
einer geschichtlichen Darstellung zu machen; daſs und wie es praktisch
ausführbar ist, hat auf dem Gebiete des Alterthums Curtius an Athen in
mustergültiger Weise gezeigt. Den Vorarbeiten für die Stadtgeschichte ging
die Herausgabe der Karten von Attika durch Curtius und den Geh. Kriegs-
rath Kaupert zur Seite. Einen Genossen in höherem Sinne hatte sich
Curtius geworben in dem Generalfeldmarschall Moltke, der in der Erin-
nerung an die von ihm selbst in jüngeren Jahren in der römischen Cam-
pagna, in der Umgebung von Constantinopel und in Kleinasien ausgeführten
kartographischen Arbeiten dem Unternehmen von Anfang an das lebhafteste
Interesse widmete und nicht allein Curtius in Kaupert den geeignetsten
Mitarbeiter zuwies, sondern auch dafür Sorge trug, daſs unter dessen tech-
nischer Leitung durch Officiere des groſsen Generalstabes die Aufnahmen
in Attika zu Ende geführt wurden. So ist ein Kartenwerk entstanden,
welches der geschichtlichen Forschung eine sichere Grundlage gewährt und
nur bedauern läſst, daſs der Plan auf die eine Landschaft von Griechenland
beschränkt geblieben ist; man kann sich denken, mit wie hoher Freude
Curtius diese schönen Blätter, von denen jedes in der sauberen Ausfüh-
rung wie ein kleines Kunstwerk erscheint, hat entstehen sehen. In der
Gedächtniſsrede, welche Curtius dem Grafen Moltke als Ehrenmitglied
der Akademie am Leibniz-Tage 1891 gehalten hat, hat er mit warm em-
pfundenen Worten den groſsen Strategen als Förderer der geographischen
und historischen Wissenschaft und classischen Schriftsteller gefeiert. Wenn
Curtius auch das griechische Alterthum nie anders denn als ein Ganzes
aufgefaſst hat und dasselbe in seinen verschiedenen Erscheinungsformen
aufzuhellen und zu beleuchten bemüht gewesen ist, so hat er doch stets
der griechischen Landes- und Ortskunde das lebendigste Interesse entgegen-
gebracht, so daſs man wohl von einer besonderen Veranlagung sprechen
darf, und die Nachwelt wird vermuthlich dieser Seite seiner wissenschaft-
lichen Thätigkeit den Preis zuerkennen. Aber Curtius’ Interesse beschränkte
U. Köhler: 12
sich nicht auf die Formen des Bodens und die Überreste des geschicht-
lichen Lebens auf der Oberfläche; während des mehrjährigen Aufenthaltes
in Griechenland war ihm die Erkenntniſs aufgegangen, daſs unter dem
Boden Schätze der Erlösung harrten und daſs der gelehrten Forschung die
experimentirende, wie er sich ein Mal ausdrückt, zur Seite gehen müsse.
Im Anfang des Jahres 1852 hatte Curtius vor einem auserlesenen
Kreise von Zuhörern seinen Vortrag über Olympia gehalten, in welchem
er am Schlusse, anknüpfend an Winckelmann, die Aufdeckung dieser
alten Feststätte mit der ihm eigenen Beredsamkeit als eine unabweisliche
Forderung der Wissenschaft hinstellte. Seitdem hat er unermüdlich in
diesem Sinne gewirkt. Als am 23. October 1869 der damalige Kronprinz
Friedrich Wilhelm im Strahle der griechischen Morgensonne, selbst strah-
lend in männlicher Schönheit und fürstlicher Würde, vor den Säulen des
Erechtheion stand, äuſserte er, nachdem ihm zu Theil geworden sei, die
Akropolis von Athen durch den Augenschein kennen zu lernen, sei in ihm
der Wunsch, Olympia möge ausgegraben werden, aufs Höchste gewachsen;
einer der Begleiter des Prinzen erhielt den Befehl, seinen Herrn nach der
Rückkehr in das königliche Schloſs daran zu erinnern, ein Telegramm an
Curtius zu richten. Das bedarf keiner Erläuterung. In Erfüllung gehen
sollte der Wunsch des Kronprinzen erst nach der Aufrichtung des deutschen
Reiches. Dem Sinne Kaiser Wilhelm’s I. muſste die Motivirung, auf die
Thaten und Errungenschaften des groſsen Krieges ein Friedenswerk folgen
zu lassen, an welchem ideell die gebildeten Kreise aller Nationen Theil
hätten, besonders zusagen; der Fürst-Reichskanzler lieh dem Unternehmen
seinen starken Arm und die gewählten Vertreter des deutschen Volkes gaben
einmüthig ihre Zustimmung. Nachdem die erforderlichen Unterhandlungen
mit der griechischen Regierung zu Ende geführt waren, konnten im Herbst
1875 die Ausgrabungen beginnen. Die oberste Leitung des Unternehmens
hatten Curtius und Friedrich Adler übernommen; die Leitung der Ar-
beiten an Ort und Stelle wurde während der sechsjährigen Dauer von einer
Reihe von wissenschaftlich oder technisch geschulten jüngeren Männern,
meist Schüler des einen oder des anderen der beiden obersten Leiter, ver-
sehen. Das harmonische Zusammenwirken der in Olympia versammelten
Arbeitsgenossen gereichte Curtius zu besonderer Freude. Von den Ergeb-
nissen der Ausgrabungen brauche ich nicht zu sprechen; nicht mit Unrecht
ist gesagt worden, die Auffindung des Hermes des Praxiteles allein habe
Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius. 13
die aufgewendeten Mittel reichlich gelohnt. Die Sache hat aber noch eine
andere Seite. Es war das erste Mal, daſs eine Stätte der griechischen
Cultur nach einem wissenschaftlichen, auf das Ganze angelegten Plan und
mit Zuziehung verschieden geschulter Männer als Leiter ausgegraben wurde.
Das Beispiel hat gewirkt; seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre haben
Regierungen, gelehrte Gesellschaften und Private gewetteifert, der histori-
schen Wissenschaft an andern Stellen des griechischen Landes den gleichen
Dienst zu erweisen. Mit dem Freimuth, der ihm so gut stand, hat Curtius
es in weiteren Kreisen ausgesprochen, welchen Werth er darauf legte, so
viel an ihm lag, den Anstoſs zu diesem Wettstreit gegeben zu haben.
Ich würde glauben, eine nicht zu entschuldigende Lücke in dem Bilde
von Curtius’ Wirksamkeit zu lassen, wenn ich von seinem Verhältniſs zu
unserer wissenschaftlichen Station in Griechenland schweigen wollte. Es
verdient wohl aufbewahrt zu werden, daſs die erste Anregung zur Grün-
dung des archäologischen Instituts in der griechischen Hauptstadt von
Curtius ausgegangen und daſs der Keim während seines Besuches in Athen
im Herbst 1871 gelegt worden ist. Anfänglich war es nur darauf abgesehen,
einen deutschen Gelehrten als Vertreter der Interessen der Alterthumswissen-
schaft daselbst zu fixiren, aber noch in Athen steckte Curtius das Ziel
höher; »der Kronprinz wird helfen« getröstete er sich. In einem Vortrag
über die Ergebnisse seiner Reise, den er bald nach der Heimkehr in
Berlin vor einem gröſseren Publicum hielt, wies er auf die Nothwendigkeit
hin, der deutschen Wissenschaft in Griechenland eine bleibende Stätte zu
bereiten; schon im Herbst 1874, gerade ein Jahr vor dem Beginn der Aus-
grabungen in Olympia, konnte das athenische Institut als Schwesteranstalt
des nicht lange vorher aus einer preuſsischen in eine Reichsanstalt ver-
wandelten römischen seine Thätigkeit eröffnen. Daſs die Entwickelung des
neu gegründeten Instituts sich nicht ganz so vollzog, wie Curtius wohl
gewünscht hätte, hat ihn nicht davon abgehalten, demselben seine werk-
thätige Theilnahme bis zum letzten Augenblicke zu widmen.
Curtius war zart gebaut, aber kerngesund; nach dem Muster seiner
Hellenen lieſs er es sich angelegen sein, den Körper geschmeidig zu er-
halten; noch in der Göttinger Zeit konnte man ihn am Reck und ein Pferd
tummelnd sehen; später ersetzten längere Reisen die gymnastischen Übungen.
Um so tiefer muſs er es empfunden haben, als gegen das Ende die Ge-
bresten des Alters in herbster Form über ihn hereinbrachen, aber die Heiter-
Gedächtniſsreden. 1897. I. 3
14
U. Köhler: Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius.
keit des Gemüths hat ihn auch in diesen schweren Stunden nicht verlassen,
so wenig wie die Klarheit des Geistes. Curtius ist, obwohl körperlich
gebrochen, in voller geistiger Rüstung aus dem Leben geschieden; die letzte
gröſsere Arbeit, welche er vollendet hat, bezieht sich auf die Geschichte
von Olympia. Sein Andenken wird in unserer Akademie, zu deren Säulen
und Zierden er nahezu ein halbes Jahrhundert gehört hat, unvergänglich
fortleben; sein Name gehört der Geschichte des geistigen und litterarischen
Lebens des ablaufenden Jahrhunderts an.