XVIII.
Bemerkungen A. v. Humboldt's zu Semenow's
Schreiben über den Thian Schan.
(Aus einem Briefe von A. v. Humboldt an Prof. C. Ritter.)
Mitgetheilt von Carl Ritter.
Die Nachrichten, welche Ihnen von Herrn Semenow über die
Resultate seiner Expedition aus Semipalatinsk eingetroffen sind, haben
in höchstem Grade meine Neugierde gespannt. Sie zeichnen sich durch
groſse Klarheit und bescheidene Einfachheit der Erzählung aus. Klap-
roth und ich, die wir beide, aber zu sehr verschiedenen Zeiten, von
dem südöstlichen Theile des Altai-Gebirges über Semipalatinsk, Ustka-
menogorsk und Buchtarminsk in der chinesischen Dsungarei nahe dem
Dsaisang-See gewesen waren, wir haben immer behauptet, daſs in
südwestlicher Richtung über den Tarbagatai und Guldja am Iliflusse
hin man am leichtesten zu der vulcanischen Gebirgskette des Thian
Schan oder Himmelsgebirges vordringen werde. Fedorow's vortreff-
liche astronomische Bestimmungen zur Aufnahme des See's Tenghiz
oder Balkasch, von denen ein groſser Theil leider noch nicht gedruckt
ist, haben viel zur geographischen Kenntniſs dieser bisher so wenig
erforschten Gegend beigetragen.
Um das schon Errungene zu sichern, hat die russische Regierung
eine Reihe kleiner Kreposte (Fortins) am unteren Ili östlich vom Bal-
kasch-See angelegt, unter denen Kopalsk das wichtigste und gewerb-
samste ist. Am meisten gegen Süden vorgeschoben, südlich vom Ili,
liegt das Fort Wjernoje, auch Stadt Keskelen genannt, das Herr Se-
menow (Zeitschr. N. F. Bd. II, S. 466) als die am weitesten in Central-
Asien vorgeschobene russische Colonie bezeichnet. Von da aus erreicht
man den Alpensee Issikul, der am nördlichen Abfalle des Thian Schan
in 4000 Fuss Höhe liegt, also 500 Fuſs höher als der Gipfel des
Brocken. Sehr merkwürdig ist es, daſs der See Issikul schon auf
der berühmten catalanischen Karte von 1374 als Issicol zu erken-
nen ist.
Der Thian Schan und der Kuenlün sind den Chinesen als „zwei
meist parallele, aber von einander unabhängige Ketten“ seit dem An-
Zeitschr. f. allg. Erdk. Neue Folge. Bd. III. 31
Bemerkungen A. v. Humboldt's
fange des 7ten Jahrhunderts bekannt. Schon damals besaſsen sie auf
Befehl der Regierung angefertigte Karten der Länder vom Gelben
Fluſse bis zum Caspischen Meere, da ihre Oberherrschaft unter der
Dynastie der Tsin sich so weit erstreckte, und da statistische Beschrei-
bungen in ihrem Administrations-Systeme unentbehrlich waren (vergl.
die Uebersetzungen chinesischer Handschriften von Stanislas Julien in
meiner Asie centrale T. II, p. 335–364).
Strahlenberg hat 1730 das Verdienst gehabt, in der Karte, die zu
seinem Werke „über den nördlichen und östlichen Theil von Europa
und Asien“ gehört (S. 32), die Kette des Thian Schan erkennbar als
eine eigene Kette abzubilden, der er aber den allgemeinen und darum
vielfältig verwendbaren Namen Mussart, „Schneeberge, Sierras Neva-
das“, — eine Corruption von Muztagh, giebt. Die Anwendung der
beiden Namen, Musart und Muztagh, welche bald dem Thian Schan,
bald dem Bolor, also bald einer Parallel-, bald einer Meridian-Kette
zugeschrieben werden und nur bedeuten: „hier liegen Schneeberge“,
hat wie der gefahrvolle Name „Gebirge von Inner-Asien“ für Alles,
was zwischen dem Himalaya und Altai liegt, lange dauernde Verwir-
rung verursacht.
Daſs man an den Ufern des See's Issikul von der Solfatare von
Urumtsi trotz einer Entfernung von mehr denn 120 geographischen
Meilen, aber nicht von dem vielleicht jetzt nicht thätigen näheren Vul-
can Peschan (dem Weiſsen Berge) hat reden hören, wundert mich gar
nicht. Die Solfatare von Urumtsi giebt weit zu verführende Handels-
Producte, Ammoniak und Schwefel; der Peschan (Asie centrale II,
p. 30–33 und p. 38–41), dessen Lavaströme in den chinesischen
Geographien und in den Schriften der Missionäre beschrieben sind,
zieht in dem Zustande der Ruhe die Aufmerksamkeit weniger auf sich.
Uebrigens ist der Peschan vom östlichen Ende des See's Issikul
noch volle 45 geographische Meilen entfernt, und für den Geologen
hat es nichts Auffallendes, daſs man um den See weder Basalte noch
trachytartiges Gestein findet.
Auch in den vulcanreichen Cordilleren von Süd-Amerika sind die
Trachyt-Gruppen durch lange Strecken von Granit, Gneis und Glim-
merschiefer oftmals getrennt. Die genauere Kenntniſs der Lage und
der Grenzen der fünf Gruppen von Vulcanen (der Gruppen von Ana-
huac oder des tropischen Mexico, von Central-Amerika, von Neu-
Granada und Quito, von Peru mit Bolivia und von Chile), zu der wir
in neuester Zeit gelangt sind, führt zu dem wichtigen Resultate,
daſs in dem Theile der Cordillera, welcher sich von 19½° N. Br. bis
46° S. Br. erstreckt, in einer Länge von fast 1300 geographischen Mei-
len, nur unbedeutend mehr als die Hälfte mit Vulcanen bedeckt ist.
zu Semenow's Schreiben über den Thian Schan.
Der colossale Vulcan Sangay, 16,068 Fuſs hoch, der thätigste aller
feuerspeienden Berge der Erde, bildet eine Trachyt-Insel von kaum
2 geographischen Meilen Durchmesser, mitten in Granit- und Gneis-
schichten!
Die Grenze des ewigen Schnees, die ich im Altai in der Breite
von 49¼° bis 51° in der mittleren Höhe von 6600 Fuſs gefunden habe,
wird im Thian Schan (lat. 42½°) erst zu 10,000 Fuſs angegeben, was
sich wohl auf keine wirkliche Messung gründet. Ich finde durch Ver-
gleichung wirklicher Messungen für die Pyrenäen (lat. 42½°–43°)
die Schneehöhe zu 8400 Fuſs; aber für den Caucasus (lat. 43° 2′),
wenn ich das Mittel zwischen dem Elbrus und Kasbeg nehme, zu
10,170 Fuſs.