Einleitung.
§. 1.
EIN jeder, der nur das Wachsthum der Pflanzen
einigermaſsen beobachtet, wird leicht bemerken,
daſs gewiſse äuſsere Theile derſelben, ſich
manchmal verwandeln und in die Geſtalt der
nächſtliegenden Theile bald ganz, bald mehr
oder weniger übergehen.
§. 2.
So verändert ſich, zum Beyſpiel, meiſtens
die einfache Blume dann in eine gefüllte, wenn
ſich anſtatt der Staubfäden und Staubbeutel,
Blumenblätter entwickeln, die entweder an
Geſtalt und Farbe vollkommen den übrigen
Blättern der Krone gleich ſind, oder noch ſicht-
bare Zeichen ihres Urſprungs an ſich tragen.
A
§. 3.
Wenn wir nun bemerken daſs es auf dieſe
Weiſe, der Pflanze möglich iſt einen Schritt
rückwärts zu thun, und die Ordnung des Wachs-
thums umzukehren; ſo werden wir auf den regel-
mäſsigen Weg der Natur deſto aufmerkſamer
gemacht, und wir lernen die Geſetze der Um-
wandlung kennen, nach welchen ſie Einen Theil
durch den andern hervorbringt, und die ver-
ſchiedenſten Geſtalten durch Modification eines
einzigen Organs darſtellt.
§. 4.
Die geheime Verwandtſchaft der verſchiedenen
äuſsern Pflanzentheile, als der Blätter, des Kelchs,
der Krone, der Staubfäden, welche ſich nach
einander und gleichſam aus einander entwickeln,
iſt von den Forſchern im allgemeinen längſt
erkannt, ja auch beſonders bearbeitet worden,
und man hat die Wirkung, wodurch ein und
daſſelbe Organ ſich uns manigfaltig verändert
ſehen läſst, die Metamorphoſe der Pflanzen genannt.
§. 5.
Es zeigt ſich uns dieſe Metamorphoſe auf
dreyerley Art; regelmäſsig, unregelmäſsig, und
zufällig.
§. 6.
Die regelmäſsige Metamorphoſe, können wir
auch die fortſchreitende nennen: denn ſie iſt es,
welche ſich von den erſten Samenblättern bis
zur letzten Ausbildung der Frucht immer ſtufen-
weiſe wirkſam bemerken läſst, und durch Um-
wandlung einer Geſtalt in die andere, gleichſam
auf einer geiſtigen Leiter, zu jenem Gipfel der
Natur, der Fortpflanzung durch zwey Geſchlechter
hinauf ſteigt. Dieſe iſt es welche ich mehrere
Jahre aufmerkſam beobachtet habe, und welche
zu erklären ich gegenwärtigen Verſuch unter-
nehme. Wir werden auch deſswegen bey der
folgenden Demonſtration, die Pflanze nur in ſo
fern betrachten, als ſie Einjährig iſt, und aus
dem Samenkrone zur Befruchtung unaufhaltſam
vorwärts ſchreitet.
A 2
§. 7.
Die unregelmäſsige Metamorphoſe könnten wir
auch die rückſchreitende nennen. Denn wie in
jenem Fall, die Natur vorwärts zu dem groſsen
Zwecke hineilt, tritt ſie hier um eine oder einige
Stufen rückwärts. Wie ſie dort mit unwider-
ſtehlichem Trieb und kräftiger Anſtrengung die
Blumen bildet, und zu den Werken der Liebe
rüſtet; ſo erſchlafft ſie hier gleichſam, und läſst
unentſchloſſen ihr Geſchöpf in einem unent-
ſcheidenen, weichen, unſern Augen oft gefälligen,
aber innerlich unkräftigen und unwirkſamen Zu-
ſtande. Durch die Erfahrungen, welche wir an
dieſer Metamorphoſe zu machen Gelegenheit
haben, werden wir dasjenige enthüllen können
was uns die regelmäſsige verheimlicht, deutlich
ſehen, was wir dort nur ſchlieſsen dürfen; und
auf dieſe Weiſe ſteht es zu hoffen, daſs wir unſere
Abſicht am ſicherſten erreichen.
§. 8.
Dagegen werden wir von der dritten Meta-
morphoſe welche zufällig, von auſsen, beſonders
durch Inſeckten gewirkt wird, unſere Aufmerk-
ſamkeit wegwenden, weil ſie uns von dem
einfachen Wege, welchem wir zu folgen haben,
ableiten und unſern Zweck verrücken könnte.
Vielleicht findet ſich an einem andern Orte
Gelegenheit von dieſen monſtröſen, und doch
in gewiſſe Gränzen eingeſchränkten Auswüchſen
zu ſprechen.
§. 9.
Ich habe es gewagt gegenwärtigen Verſuch
ohne Beziehung auf erläuternde Kupfer auszu-
arbeiten, die jedoch in manchem Betracht nöthig
ſcheinen möchten. Ich behalte mir vor, ſie in der
Folge nachzubringen, welches um ſo bequemer
geſchehen kann, da noch Stoff genug übrig iſt
gegenwärtige kleine, nur vorläufige Abhandlung
zu erläutern und weiter auszuführen. Es wird
alsdann nicht nöthig ſeyn einen ſo gemeſſenen
Schritt wie gegenwärtig zu halten. Ich werde
manches verwandte herbey führen können, und
mehrere Stellen aus gleichgeſinnten Schriftſtellern
geſammlet, werden an ihrem rechten Platze
ſtehen. Beſonders werde ich, von allen Erin-
nerungen gleichzeitiger Meiſter, deren ſich dieſe
edle Wiſſenſchaft zu rühmen hat, Gebrauch zu
machen nicht verfehlen. Dieſen übergebe und
widme ich hiermit gegenwärtige Blätter.
I.
Von den Samenblättern.
§. 10.
DA wir die Stufenfolge des Pflanzen- Wachs-
thums zu beobachten uns vorgenommen haben,
ſo richten wir unſere Aufmerkſamkeit ſogleich in
dem Augenblick auf die Pflanze da ſie ſich aus
dem Samenkorn entwickelt. In dieſer Epoche,
können wir die Theile, welche unmittelbar zu
ihr gehören, leicht und genau erkennen. Sie
läſst ihre Hüllen mehr oder weniger in der Erde
zurück, welche wir auch gegenwärtig nicht
unterſuchen, und bringt in vielen Fällen, wenn
die Wurzel ſich in den Boden befeſtigt hat, die
erſten Organe ihres oberen Wachsthums, welche
ſchon unter der Samendecke verborgen gegen-
wärtig geweſen, an das Licht hervor.
§. 11.
Es ſind dieſe erſten Organe unter dem Nahmen
Cotyledonen bekannt; man hat ſie auch Samen-
klappen, Kernſtücke, Samenlappen, Samenblätter
genannt, und ſo die verſchiedenen Geſtalten, in
denen wir ſie gewahr werden zu bezeichnen
geſucht.
§. 12.
Sie erſcheinen oft unförmlich, mit einer rohen
Materie gleichſam ausgeſtopft, und eben ſo ſehr
in die Dicke als in die Breite ausgedehnt; ihre
Gefäſse ſind unkenntlich, und von der Maſſe
des Ganzen kaum zu unterſcheiden; ſie haben
faſt nichts ähnliches von einem Blatte, und
wir können verleitet werden ſie für beſondere
Organe anzuſehen.
§. 13.
Doch nähern ſie ſich bey vielen Pflanzen der
Blattgeſtalt; ſie werden flächer, ſie nehmen, dem
Licht und der Luft ausgeſezt, die grüne Farbe
in einem höhern Grade an, die in ihnen ent-
haltenen Gefäſse werden kenntlicher, den Blatt-
rippen ähnlicher.
§. 14.
Endlich erſcheinen ſie uns als wirkliche Blätter,
ihre Gefäſse ſind der feinſten Ausbildung fähig,
ihre Aehnlichkeit mit den folgenden Blättern
erlaubt uns nicht ſie für beſondere Organe zu
halten, wir erkennen ſie vielmehr für die erſten
Blätter des Stengels.
§. 15.
Läſst ſich nun aber ein Blatt, nicht ohne
Knoten, und ein Knoten nicht ohne Auge denken,
ſo dürfen wir folgern daſs derjenige Punct wo die
Cotyledonen angeheftet ſind, der wahre erſte
Knotenpunct der Pflanze ſey. Es wird dieſes
durch diejenigen Pflanzen bekräftiget, welche
unmittelbar unter den Flügeln der Cotyledonen,
junge Augen hervortreiben, und aus dieſen erſten
Knoten vollkommene Zweige entwickeln, wie
z. B. Vicia Faba zu thun pflegt.
§. 16.
Die Cotyledonen ſind meiſt gedoppelt, und
wir finden hierbey eine Bemerkung zu machen,
welche uns in der Folge noch wichtiger ſcheinen
wird. Es ſind nehmlich die Blätter dieſes erſten
Knotens oft auch dann gepaart, wenn die folgen-
den Blätter des Stengels wechſelsweiſe ſtehen, es
zeigt ſich alſo hier eine Annäherung und Ver-
bindung der Theile welche die Natur in der
Folge trennt und von einander entfernt. Noch
merkwürdiger iſt es wenn die Cotyledonen als viele
Blättchen um Eine Axe verſammlet erſcheinen,
und der aus ihrer Mitte ſich nach und nach ent-
wickelnde Stengel, die folgenden Blätter einzeln
um ſich herum hervorbringt, welcher Fall ſehr
genau an dem Wachsthum der Pinusarten ſich
bemerken läſst. Hier bildet ein Kranz von Nadeln
gleichſam einen Kelch, und wir werden in der
Folge, bey ähnlichen Erſcheinungen, uns des
gegenwärtigen Falles wieder zu erinnern haben.
§. 17.
Ganz unförmliche einzelne Kernſtücke ſolcher
Pflanzen, welche nur mit Einem Blatte keimen,
gehen wir gegenwärtig vorbey.
§. 18.
Dagegen bemerken wir, daſs auch ſelbſt die
blattähnlichſten Cotyledonen, gegen die folgenden
Blätter des Stengels gehalten, immer unausge-
bildeter ſind. Vorzüglich iſt ihre Peripherie
höchſt einfach, und an derſelben ſind ſo wenig
Spuren von Einſchnitten zu ſehen als auf ihren
Flächen ſich Haare oder andere Gefäſse aus-
gebildeter Blätter bemerken laſſen.
II.
Ausbildung der Stengelblätter von
Knoten zu Knoten.
§. 19.
WIR können nunmehr die ſucceſsive Ausbil-
dung der Blätter genau betrachten, da die fort-
ſchreitenden Wirkungen der Natur alle vor unſern
Augen vorgehen. Einige oder mehrere der nun
folgenden Blätter ſind oft ſchon in dem Samen
gegenwärtig, und liegen zwiſchen den Cotyledonen
eingeſchloſsen; ſie ſind in ihrem zuſammengefal-
teten Zuſtande unter dem Nahmen des Federchens
bekannt. Ihre Geſtalt verhält ſich gegen die
Geſtalt der Cotyledonen und der folgenden
Blätter an verſchiedenen Pflanzen verſchieden,
doch weichen ſie meiſt von den Cotyledonen
ſchon darin ab, daſs ſie flach, zart und überhaupt
als wahre Blätter gebildet ſind, ſich völlig grün
färben, auf einem ſichtbaren Knoten ruhen, und
ihre Verwandtſchaft mit den folgenden Stengel-
blättern nicht mehr verläugnen können; welchen
ſie aber noch gewöhnlich darin nachſtehen, daſs
ihre Peripherie, ihr Rand nicht vollkommen
ausgebildet iſt.
§. 20.
Doch breitet ſich die fernere Ausbildung
unaufhaltſam von Knoten zu Knoten durch das
Blatt aus, indem ſich die mittlere Rippe deſſelben
verlängert und die von ihr entſpringende Neben-
rippen ſich mehr oder weniger nach den Seiten
ausſtrecken. Dieſe verſchiedenen Verhältniſſe der
Rippen gegen einander ſind die vornehmſte Urſache
der manigfaltigen Blattgeſtalten. Die Blätter
erſcheinen nunmehr eingekerbt, tief eingeſchnitten,
aus mehreren Blättchen zuſammengeſezt, in
welchem letzten Falle ſie uns vollkommene kleine
Zweige vorbilden. Von einer ſolchen ſucceſſiven
höchſten Vermanigfaltigung der einfachſten Blatt-
geſtalt giebt uns die Dattelpalme ein auffallendes
Beyſpiel. In einer Folge von mehreren Blättern
ſchiebt ſich die Mittelrippe vor, das fächerartige
einfache Blatt wird zerriſſen, abgetheilt, und ein
höchſt zuſammengeſeztes mit einem Zweige wett-
eiferndes Blatt wird entwickelt.
§. 21.
In eben dem Maſse, in welchem das Blatt
ſelbſt an Ausbildung zunimmt, bildet ſich auch
der Blattſtiel aus, es ſey nun daſs er unmittelbar
mit ſeinem Blatte zuſammen hange, oder ein
beſonderes in der Folge leicht abzutrennendes
Stielchen ausmache.
§. 22.
Daſs dieſer für ſich beſtehende Blattſtiel
gleichfalls eine Neigung habe ſich in Blättergeſtalt
zu verwandeln, ſehen wir bey verſchiedenen
Gewächſen z. B. an den Agrumen, und es wird
uns ſeine Organiſation in der Folge noch zu
einigen Betrachtungen auffordern, welchen wir
gegenwärtig ausweichen.
§. 23.
Auch können wir uns vorerſt in die nähere
Beobachtung der Afterblätter nicht einlaſſen; wir
bemerken nur im Vorbeygehn, daſs ſie, beſonders
wenn ſie einen Theil des Stiels ausmachen, bey
der künftigen Umbildung deſſelben gleichfalls
ſonderbar verwandelt werden.
§. 24.
Wie nun die Blätter hauptſächlich ihre erſte
Nahrung den mehr oder weniger modificirten
wäſſerigten Theilen zu verdanken haben, welche
ſie dem Stamme entziehen, ſo ſind ſie ihre gröſsere
Ausbildung und Verfeinerung dem Lichte und
der Luft ſchuldig. Wenn wir jene in der
verſchloſsenen Samenhülle erzeugte Cotyledonen,
mit einem rohen Safte nur gleichſam ausgeſtopft,
faſt gar nicht, oder nur grob organiſirt und
ungebildet finden: ſo zeigen ſich uns die Blätter
der Pflanzen welche unter dem Waſser wachſen,
gröber organiſirt als andere, der freyen Luft
ausgeſezte; ja ſogar entwickelt dieſelbige Pflan-
zenart glättere und weniger verfeinerte Blätter,
wenn ſie in tiefen feuchten Orten wächſt; da ſie
hingegen, in höhere Gegenden verſezt, rauhe,
mit Haaren verſehene, feiner ausgearbeitete Blätter
hervorbringt.
§. 25.
Auf gleiche Weiſe wird die Anaſtomoſe der
aus den Rippen entſpringenden und ſieh mit
ihren Enden einander aufſuchenden, die Blatt-
häutchen bildenden Gefäſse, durch feinere Luftarten
wo nicht allein bewirkt, doch wenigſtenſ ſehr
befördert. Wenn Blätter vieler Pflanzen, die
unter dem Waſſer wachſen, fadenförmig ſind,
oder die Geſtalt von Geweihen annehmen, ſo ſind
wir geneigt eſ dem Mangel einer vollkommenen
Anaſtomoſe zu zuſchreiben. Augenſcheinlich
belehrt uns hiervon das Wachsthum des Ranun-
culus aquaticus, deſsen unter dem Waſser erzeugte
Blätter aus fadenförmigen Rippen beſtehen, die
oberhalb des Waſsers entwickelten aber völlig
anaſtomoſirt und zu einer zuſammenhängenden
Fläche ausgebildet ſind. Ja es läſst ſich an halb
anaſtomoſirten, halb fadenförmigen Blättern dieſer
Pflanze der Uebergang genau bemerken.
§. 26.
Man hat ſich durch Erfahrungen unterrichtet,
daſs die Blätter verſchiedene Luftarten einſaugen,
und ſie mit den in ihrem Innern enthaltenen
Feuchtigkeiten verbinden; auch bleibt wohl kein
Zweifel übrig, daſs ſie dieſe feineren Säfte wieder
in den Stengel zurück bringen, und die Ausbildung
der in ihrer Nähe liegenden Augen dadurch
vorzüglich
vorzüglich befördern. Man hat die, aus den
Blättern mehrerer Pflanzen, ja aus den Hölungen
der Rohre entwickelten Luftarten unterſucht, und
ſich alſo vollkommen überzeugen können.
§. 27.
Wir bemerken bey mehreren Pflanzen daſs
ein Knoten aus dem andern entſpringt. Bey
Stengeln welche von Knoten zu Knoten geſchloſſen
ſind, bey den Cerealien, den Gräſern, Rohren,
iſt es in die Augen fallend; nicht eben ſo
ſehr bey andern Pflanzen, welche in der Mitte
durchaus hohl und mit einem Mark oder vielmehr
einem zelligten Gewebe ausgefüllt erſcheinen. Da
man nun aber dieſem ehemals ſogenannten Mark
ſeinen bisher behaupteten Rang, neben den andern
inneren Theilen der Pflanze, und wie uns ſcheint,
mit überwiegenden Gründen, ſtreitig gemacht Hedwig, in des Leipziger Magazins drittem Stück.,
ihm den ſcheinbar behaupteten Einfluſs in das
Wachsthum abgeſprochen und der innern Seite
der zweiten Rinde, dem ſogenannten Fleiſch, alle
Trieb- und Hervorbringungskraft zu zuſchreiben
nicht gezweifelt hat: ſo wird man ſich gegenwärtig
B
eher überzeugen, daſs ein oberer Knoten, indem
er aus dem vorhergehenden entſteht und die Säfte
mittelbar durch ihn empfängt, ſolche feiner und
filtrierter erhalten, auch von der inzwiſchen
geſchehenen Einwirkung der Blätter genieſsen,
ſich ſelbſt ſeiner ausbilden und ſeinen Blättern
und Augen feinere Säfte zubringen müſſe.
§. 28.
Indem nun auf dieſe Weiſe die roheren Flüſ-
ſigkeiten immer abgeleitet, reinere herbey geführt
werden, und die Pflanze ſich ſtufenweiſe feiner
auſarbeitet, erreicht ſie den von der Natur vorge-
ſchriebenen Punct. Wir ſehen endlich die Blätter
in ihrer gröſten Ausbreitung und Ausbildung,
und werden bald darauf eine neue Erſcheinung
gewahr, welche uns unterrichtet: die bisher
beobachtete Epoche ſey vorbey, es nahe ſich
eine zweyte, die Epoche der Blüthe.
III.
Uebergang zum Blüthenſtande.
§. 29.
Den Uebergang zum Blüthenſtande ſehen wir
ſchneller oder langſamer geſchehen. In dem letzten
Falle bemerken wir gewöhnlich, daſs die ſtengel-
blätter von ihrer Peripherie herein ſich wieder
anfangen zuſammen zu ziehen, beſonders ihre
mannigfaltigen äuſsern Eintheilungen zu verlieren,
ſich dagegen an ihren untern Theilen wo ſie
mit dem ſtengel zuſammen hängen, mehr oder
weniger auszudehnen; in gleicher Zeit ſehen wir
wo nicht die Räume des ſtengels von Knoten zu
Knoten merklich verlängert, doch wenigſtens
denſelben gegen ſeinen vorigen Zuſtand viel
feiner und ſchmächtiger gebildet.
B2
§. 30.
Man hat bemerkt, daſs häufige Nahrung den
Blüthenſtand einer Pflanze verhindere, mäſsíge,
ja kärgliche Nahrung ihn beſchleunige. Es zeigt
ſich hierdurch die Wirkung der ſtammblätter,
von welcher oben die Rede geweſen, noch
deutlicher. ſo lange noch rohere ſäfte abzuführen
ſind, ſo lange müſſen ſich die möglichen Organe
der Pflanze zu Werkzeugen dieſes Bedürfniſſes
ausbilden. Dringt übermäſsige Nahrung zu, ſo
muſs jene Operation immer wiederholt werden,
und der Blüthenſtand wird gleichſam unmöglich.
Entzieht man der Pflanze die Nahrung, ſo
erleichtert und verkürzt man dagegen jene Wirkung
der Natur; die Organe der Knoten werden ver-
feinert, die Wirkung der unverfälſchten ſäfte
reiner und kräftiger, die Umwandlung der Theile
wird möglich, und geſchieht unaufhaltſam.
IV.
Bildung des Kelches.
§. 31.
Oft ſehen wir dieſe Umwandlung ſchnell vor
ſich gehn, und in dieſem Falle ruckt der ſtengel,
von dem Knoten des letzten ausgebildeten Blattes
an, auf einmal verlängt und verfeinert, in die
Höhe; und verſammlet an ſeinem Ende mehrere
Blätter um eine Axe.
§. 32.
Daſs die Blätter des Kelches eben dieſelbigen
Organe ſeyen, welche ſich bisher als ſtengelblätter
ausgebildet ſehen laſſen, nun aber oft in ſehr
veränderter Geſtalt, um Einen gemeinſchaftlichen
Mittelpunct verſammlet ſtehen, läſst ſich wie uns
dünkt auf das deutlichſte beweiſen.
§. 33.
Wir haben ſchon oben bey den Cotyledonen
eine ähnliche Wirkung der Natur bemerkt, und
mehrere Blätter, ja offenbar mehrere Knoten, um
Einen Punct verſammlet und neben einander
gerückt geſehen. Es zeigen die Fichtenarten,
indem ſie ſich aus dem ſamenkorn entwickeln,
einen ſtrahlenkranz von unverkennbaren Nadeln,
welche, gegen die Gewohnheit anderer Coty-
ledonen, ſchon ſehr ausgebildet ſind; und wir
ſehen in der erſten Kindheit dieſer Pflanze ſchon
diejenige Kraft der Natur gleichſam angedeutet,
wodurch in ihrem höhren Alter der Blüthen und
Fruchtſtand gewirkt werden ſoll.
§. 34.
Ferner ſehen wir bey mehreren Blumen unver-
änderte ſtengelblätter gleich unter der Krone zu
einer Art von Kelch zuſammengerückt. Da ſie
ihre Geſtalt noch vollkommen an ſich tragen, ſo
dürfen wir uns hier nur auf den Augenſchein und
auf die botaniſche Terminologie berufen, welche
ſie mit dem Nahmen Blüthenblätter Folia floria
bezeichnet hat.
§. 35.
Mit mehrerer Aufmerkſamkeit haben wir den
oben ſchon angeführten Fall zu beobachten, wo
der Uebergang zum Blüthenſtande langſam vorgeht,
die Stengelblätter nach und nach ſich zuſammen-
ziehen, ſich verändern, und ſich ſachte in den
Kelch gleichſam einſchleichen, wie man ſolches
bey Kelchen der Strahlenblumen, beſonders der
Sonnenblumen, der Calendeln, gar leicht beobach-
ten kann.
§. 36.
Dieſe Kraft der Natur, welche mehrere Blätter
um eine Axe verſammlet, ſehen wir eine noch
innigere Verbindung bewirken und ſogar dieſe
zuſammengebrachten modificirten Blätter noch
unkenntlicher machen, indem ſie ſolche unter
einander manchmal ganz, oft aber nur zum Theil
verbindet, und an ihren Seiten zuſammengewachſen
hervorbringt. Die ſo nahe an einander gerückten
und gedrängten Blätter berühren ſich auf das
genauſte in ihrem zarten Zuſtande, anaſtomoſiren
ſich durch die Einwirkung der höchſt reinen, in
der Pflanze nunmehr gegenwärtigen Säfte, und
ſtellen uns die glockenförmigen oder ſogenannten
einblätterigen Kelche dar, welche mehr oder weniger
von oben herein eingeſchnitten, oder getheilt,
uns ihren zuſammengeſezten Urſprung deutlich
zeigen. Wir können uns durch den Augenſchein
hiervon belehren, wenn wir eine Anzahl tief
eingeſchnittener Kelche gegen mehrblätterige
halten; beſonders wenn wir die Kelche mancher
Strahlenblumen genau betrachten. So werden wir
zum Exempel ſehen, daſs ein Kelch der Calendel,
welcher in der ſyſtematiſchen Beſchreibung als
einfach und vielgetheilt aufgeführt wird, aus mehreren
zuſammen und übereinander gewachſenen Blät-
tern beſtehe, zu welchen ſich, wie ſchon oben
geſagt, zuſammengezogene Stammblätter gleichſam
hinzuſchleichen.
§. 37.
Bey vielen Pflanzen iſt die Zahl und die
Geſtalt in welcher die Kelchblätter, entweder
einzeln oder zuſammengewachſen, um die Axe
des Stiels gereihet werden, beſtändig, ſo wie die
übrigen folgenden Theile. Auf dieſer Beſtändigkeit
beruhet gröſtentheils die Zunahme, die Sicherheit,
die Ehre der botaniſchen Wiſſenſchaft, welche
wir in dieſen lezteren Zeiten immer mehr haben
zunehmen ſehn. Bey andern Pflanzen iſt die
Anzahl und Bildung dieſer Theile nicht gleich
beſtändig, aber auch dieſer Unbeſtand hat die
ſcharfe Beobachtungsgabe der Meiſter dieſer
Wiſſenſchaft nicht hintergehen können; ſondern
ſie haben durch genaue Beſtimmungen auch dieſe
Abweichungen der Natur gleichſam in einen engern
Kreis einzuſchlieſsen geſucht.
§. 38.
Auf dieſe Weiſe bildete alſo die Natur den
Kelch; daſs ſie mehrere Blätter und folglich
mehrere Knoten, welche ſie ſonſt nach einander,
und in einiger Entfernung von einander hervorge-
bracht hätte, zuſammen, meiſt in einer gewiſſen
beſtimmten Zahl und Ordnung um Einen Mittel-
punct verbindet. Wäre durch zudringende über-
flüſſige Nahrung der Blüthenſtand verhindert
worden; ſo würden ſie alsdann aus einander
geruckt, und in ihrer erſten Geſtalt erſchienen
ſeyn. Die Natur bildet alſo im Kelch kein neues
Organ, ſondern ſie verbindet und modificirt nur
die uns ſchon bekannt gewordenen Organe, und
bereitet ſich dadurch eine Stufe näher zum Ziel.
V.
Bildung der Krone.
§. 39.
WIR haben geſehen daſs der Kelch durch
verfeinerte Säfte, welche nach und nach in der
Pflanze ſich erzeugen, hervorgebracht werde,
und ſo iſt er nun wieder zum Organe einer
künftigen weitern Verfeinerung beſtimmt. Es
wird uns dieſes ſchon glaublich, wenn wir ſeine
Wirkung auch bloſs mechaniſch erklären. Denn
wie höchſt zart und zur feinſten Filtration
geſchickt müſsen Gefäſse werden, welche, wie
wir oben geſehen haben, in dem höchſten Grade
zuſammen gezogen und an einander gedrängt
ſind.
§. 40.
Den Uebergang des Kelchs zur Krone, können
wir in mehr als Einem Fall bemerken; denn,
obgleich die Farbe des Kelchs noch gewöhnlich
grün und der Farbe der Stengelblätter ähnlich
bleibt; ſo verändert ſich dieſelbe doch oft, an
einem oder dem andern ſeiner Theile, an den
Spitzen, den Rändern, dem Rücken, oder gar
an ſeiner inwendigen Seite, indeſſen die äuſsere
noch grün bleibt; und wir ſehen mit dieſer
Färbung jederzeit eine Verfeinerung verbunden.
Dadurch entſtehen zweydeutige Kelche, welche
mit gleichem Rechte für Kronen gehalten werden
können.
§. 41.
Haben wir nun bemerkt, daſs von den
Samenblättern herauf eine groſse Ausdehnung
und Ausbildung der Blätter beſonders ihrer
Peripherie, und von da zu dem Kelche, eine
Zuſammenziehung des Umkreiſes vor ſich gehe;
ſo bemerken wir daſs die Krone abermals durch
eine Ausdehnung hervorgebracht werde. Die
Kronenblätter ſind gewöhnlich gröſser als die
Kelchblätter, und es läſst ſich bemerken, daſs
wie die Organe im Kelch zuſammengezogen
werden, ſie ſich nunmehr als Kronenblätter
durch den Einfluſs reinerer, durch den Kelch
abermals filtrirter Säfte, in einem hohen Grade
verfeint wieder ausdehnen, und uns, neue ganz
verſchiedene Organe vorbilden. Ihre feine
Organiſation, ihre Farbe, ihr Geruch, würden
uns ihren Urſprung ganz unkenntlich machen,
wenn wir die Natur nicht in mehreren auſser-
ordentlichen Fällen belauſchen könnten.
§. 42.
So findet ſich z. B., innerhalb des Kelches
einer Nelke, manchmal ein zweiter Kelch, welcher
zum Theil vollkommen grün, die Anlage zu
einem einblätterigen eingeſchnittenen Kelche zeigt;
zum Theil zerriſſen und an ſeinen Spitzen und
Rändern, zu zarten, ausgedehnten, gefärbten
wirklichen Anfängen der Kronenblätter umge-
bildet wird, wodurch wir denn die Verwandt-
ſchaft der Krone und des Kelches abermals deutlich
erkennen.
§. 43.
Die Verwandtſchaft der Krone mit den
Stengelblättern zeigt ſich uns auch auf mehr als
eine Art: denn es erſcheinen an mehreren Pflanzen
Stengelblätter ſchon mehr oder weniger gefärbt,
lange ehe ſie ſich dem Blüthenſtande nähern;
andere färben ſich vollkommen in der Nähe
des Blüthenſtandes.
§. 44.
Auch gehet die Natur manchmal, indem ſie
das Organ des Kelchs gleichſam überſpringt,
unmittelbar zur Krone, und wir haben Gelegen-
heit in dieſem Falle gleichfals zu beobachten,
daſs Stengelblätter zu Kronenblättern übergehen.
So zeigt ſich z. B. manchmal an den Tulpen-
ſtengeln ein beynahe völlig ausgebildetes und
gefärbtes Kronenblatt. Ja noch merkwürdiger
iſt der Fall; wenn ein ſolches Blatt halb grün,
mit ſeiner einen Hälfte zum Stengel gehörig an
demſelben befeſtigt bleibt, indeſs ſein anderer
und gefärbter Theil mit der Krone empor gehoben,
und das Blatt in zwey Theile zerriſſen wird.
§. 45.
Es iſt eine ſehr wahrſcheinliche Meynung daſs
Farbe und Geruch der Kronenblätter, der
Gegenwart des männlichen Samens in denſelben
zu zuſchreiben ſey. Wahrſcheinlich befindet er
ſich in ihnen noch nicht genugſam abgeſondert,
vielmehr mit andern Säften verbunden und diluirt;
und die ſchönen Erſcheinungen der Farben führen
unſ auf den Gedanken daſs die Materie womit
die Blätter ausgefüllt ſind, zwar in einem hohen
Grad von Reinheit, aber noch nicht auf dem
höchſten ſtehe, auf welchem ſie uns weiſs und
ungefärbt erſcheint.
VI.
Bildung der Staub-Werkzeuge.
§. 46.
ES wird uns dieſes noch wahrſcheinlicher,
wenn wir die nahe Verwandtſchaft der Kronen-
blätter mit den Staubwerkzeugen bedenken.
Wäre die Verwandtſchaft aller übrigen Theile
untereinander eben ſo in die Augen fallend, ſo
allgemein bemerkt und auſser allen Zweifel geſezt;
ſo würde man gegenwärtigen Vortrag für über-
flüſsig halten können.
§. 47.
Die Natur zeigt uns in einigen Fällen dieſen
Uebergang regelmäſsig, z. B. bey der Canna,
und mehreren Pflanzen dieſer Familie. Ein
wahres, wenig verändertes Kronenblatt zieht ſich
am obern Rande zuſammen, und es zeigt ſich
ein Staubbeutel, bey welchem das übrige Blatt
die Stelle des Staubfadens vertritt.
§. 48.
An Blumen welche öfters gefüllt erſcheinen,
können wir dieſen Uebergang in allen ſeinen
Stufen beobachten. Bey mehreren Roſenarten
zeigen ſich innerhalb der vollkommen gebildeten
und gefärbten Kronenblätter, andere, welche theils
in der Mitte theils an der Seite zuſammen gezogen
ſind; dieſe Zuſammenziehung wird von einer
kleinen Schwiele bewirkt, welche ſich mehr
oder weniger als ein vollkommener Staubbeutel
ſehen läſst, und in eben dieſem Grade nähert
ſich das Blatt der einfacheren Geſtalt eines Staub-
werkzeugs. Bey einigen gefüllten Mohnen
ruhen völlig ausgebildete Antheren, auf wenig
veränderten Blättern der ſtark gefüllten Kronen,
bey andern ziehen Staubbeutelähnliche Schwielen
die Blätter mehr oder weniger zuſammen.
§. 49.
Verwandeln ſich nun alle Staubwerkzeuge in
Kronenblätter, ſo werden die Blumen unfruchtbar;
werden aber in einer Blume, indem ſie ſich
füllt, doch noch Staubwerkzeuge entwickelt, ſo
gehet die Befruchtung vor ſich.
§. 50.
§. 50.
Und ſo entſtehet ein Staubwerkzeug, wenn
die Organe, die wir bisher als Kronenblätter ſich
ausbreiten geſehen, wieder in einem höchſt
zuſammengezogenen und zugleich in einem höchſt
verfeinten Zuſtande erſcheinen. Die oben vor-
getragne Bemerkung wird dadurch abermals
beſtätigt und wir werden auf dieſe abwechſelnde
Wirkung der Zuſammenziehung und Ausdehnung,
wodurch die Natur endlich ans Ziel gelangt,
immer aufmerkſamer gemacht.
VII.
Necktarien.
§. 51.
SO ſchnell der Uebergang bey manchen Pflanzen
von der Krone zu den Staubwerkzeugen iſt, ſo
bemerken wir doch, daſs die Natur nicht immer
dieſen Weg mit Einem Schritt zurücklegen kann.
Sie bringt vielmehr Zwiſchenwerkzeuge hervor,
welche an Geſtalt und Beſtimmung ſich bald dem
einen bald dem andern Theile nähern, und
obgleich ihre Bildung höchſt verſchieden iſt,
ſich dennoch meiſt unter Einen Begriff vereinigen
laſſen: Daſs es langſame Uebergänge von den Kelch-
blättern zu den Staubgefäſsen ſeyen.
§. 52.
Die meiſten jener verſchieden gebildeten
Organe, welche Linné mit dem Nahmen Necktarien
bezeichnet, laſſen ſich unter dieſem Begriff
vereinigen; und wir finden auch hier Gelegenheit
den groſsen Scharfſinn des auſserordentlichen
Mannes zu bewundern, der ohne ſich die
Beſtimmung dieſer Theile ganz deutlich zu
machen, ſich auf eine Ahndung verlieſs und
ſehr verſchieden ſcheinende Organe mit Einem
Nahmen zu belegen wagte.
§. 53.
Es zeigen uns verſchiedene Kronenblätter,
ſchon ihre Verwandtſchaft mit den Staubgefäſsen
dadurch, daſs ſie, ohne ihre Geſtalt merklich zu
verändern, Grübchen oder Glandeln an ſich
tragen, welche einen honigartigen Saft abſcheiden.
Daſs dieſer eine noch unauſgearbeitete nicht völlig
determinirte Befruchtungs-Feuchtigkeit ſey,
können wir in denen ſchon oben angeführten
Rückſichten einigermaſſen vermuthen, und dieſe
Vermuthung wird durch Gründe welche wir
unten anführen werden, noch einen höhern Grad
von Wahrſcheinlichkeit erreichen.
C 2
§. 54.
Nun zeigen ſich auch die ſogenannten Neck-
tarien als für ſich beſtehende Theile; und dann
nähert ſich ihre Bildung bald den Kronenblättern
bald den Staubwerkzeugen. So ſind z. E. die
dreyzehn Fäden, mit ihren eben ſo viel rothen
Kügelchen auf den Necktarien der Parnaſſia den
Staubwerkzeugen höchſt ähnlich. Andere zeigen
ſich als Staubfäden ohne Antheren, als an der
Valliſneria, der Fewillèa; wir finden ſie an der
Pentapetes in einem Kreiſe mit den Staubwerk-
zeugen regelmäſsig abwechſeln, und zwar ſchon
in Blattgeſtalt; auch werden ſie in der ſyſte-
matiſchen Beſchreibung, als Filamenta caſtrata
petaliformia aufgeführt. Eben ſolche ſchwankende
Bildungen ſehen wir, an der Kiggellaria und der
Paſſionsblume.
§. 55.
Gleichfalls ſcheinen uns die eigentlichen
Nebenkronen den Nahmen der Necktarien in dem
oben angegebenen Sinne zu verdienen. Denn
wenn die Bildung der Kronenblätter durch eine
Ausdehnung geſchieht, ſo werden dagegen die
Nebenkronen durch eine Zuſammenziehung,
folglich auf eben die Weiſe wie die Staubwerkzeuge
gebildet. So ſehen wir innerhalb vollkommener,
ausgebreiteter Kronen, kleinere, zuſammenge-
zogene Nebenkronen wie im Narciſſus, dem
Nerium, dem Agroſtemma.
§. 56.
Noch ſehen wir bey verſchiedenen Geſchlechtern
andere Veränderungen der Blätter, welche auf-
fallender und merkwürdiger ſind. Wir bemerken
an verſchiedenen Blumen, daſs ihre Blätter in-
wendig, unten, eine kleine Vertiefung haben,
welche mit einem honigartigen Safte ausgefüllt
iſt. Dieſes Grübchen indem es ſich bey andern
Blumengeſchlechtern und Arten, mehr vertieft,
bringt auf der Rückſeite des Blatts eine Sporn-
oder Hornartige Verlängerung hervor, und die
Geſtalt des übrigen Blattes wird ſogleich mehr
oder weniger modificirt. Wir können dieſes an
verſchiedenen Arten und Varietäten des Agleys
genau bemerken.
§. 57.
Im höchſten Grad der Verwandlung findet
man dieſes Organ, z. B. bey dem Aconitum
und der Nigella, wo man aber doch mit geringer
Aufmerkſamkeit ihre Blattähnlichkeit bemerken
wird; beſonders wachſen ſie bey der Nigella
leicht wieder in Blätter aus, und die Blume
wird durch die Umwandlung der Necktarien
gefüllt. Bey dem Aconito wird man mit einiger
aufmerkſamen Beſchauung die Aehnlichkeit der
Necktarien und des gewölbten Blattes, unter
welchen ſie verdeckt ſtehen, erkennen.
§. 58.
Haben wir nun oben geſagt; daſs die Neck-
tarien Annäherungen der Kronenblätter zu den
Staubgefäſsen ſeyen, ſo können wir bey dieſer
Gelegenheit über die unregelmäſsigen Blumen
einige Bemerkungen machen. So könnten z. E.
die fünf äuſsern Blätter des Melianthus als wahre
Kronenblätter aufgeführt, die fünf innern aber als
eine Nebenkrone, aus ſechs Necktarien beſtehend,
beſchrieben werden, wovon das obere ſich der
Blattgeſtalt am meiſten nähert, das untere, das
auch jezt ſchon Necktarium heiſst, ſich am weitſten
von ihr entfernt. In eben dem Sinne könnte man
die Carina der Schmetterlings-Blumen ein Neck-
tarium nennen, indem ſie unter den Blättern
dieſer Blume ſich an die Geſtalt der Staubwerk-
zeuge am nächſten heran bildet, und ſich ſehr
weit von der Blattgeſtalt des ſogenannten Vexilli
entfernt. Wir werden auf dieſe Weiſe die
pinſelförmigen Körper, welche an dem Ende der
Carina einiger Arten der Polygala befeſtigt ſind,
gar leicht erklären, und uns von der Beſtimmung
dieſer Theile einen deutlichen Begriff machen
können.
§. 59.
Unnöthig würde es ſeyn, ſich hier ernſtlich
zu verwahren, daſs es bey dieſen Bemerkungen
die Abſicht nicht ſey, das durch die Bemühungen
der Beobachter und Ordner biſher abgeſonderte
und in Fächer gebrachte zu verwirren; man
wünſcht nur durch dieſe Betrachtungen die
abweichenden Bildungen der Pflanzen erklärbarer
zu machen.
VIII.
Noch einiges von den Staubwerkzeugen.
§. 60.
DASS die Geſchlechtstheile der Pflanzen durch
die Spiralgefäſse wie die übrigen Theile hervor-
gebracht werden, iſt durch mikroſcopiſche
Beobachtungen auſser allen Zweifel geſezt. Wir
nehmen darauſ ein Argument für die innere
Identität der verſchiedenen Pflanzentheile, welche
uns biſher in ſo manigfaltigen Geſtalten erſchienen
ſind.
§. 61.
Wenn nun die Spiralgefäſse in der Mitte
der Saftgefäſs-Bündel liegen, und von ihnen
umſchloſſen werden: ſo können wir uns jene
ſtarke Zuſammenziehung, einigermaſſen näher
denken, wenn wir die Spiralgefäſse, die uns
wirklich als elaſtiſche Federn erſcheinen, in ihrer
höchſten Kraft gedenken, ſo daſs ſie überwiegend,
hingegen die Ausdehnung der Saftgefäſse ſubor-
dinirt wird.
§. 62.
Die verkürzten Gefäſsbündel können ſich nun
nicht mehr ausbreiten, ſich einander nicht mehr
aufſuchen und durch Anaſtomoſe kein Netz mehr
bilden; die Schlauchgefäſse, welche ſonſt die
Zwiſchenräume des Netzes auſfüllen, können ſich
nicht mehr entwickeln, alle Urſachen wodurch
Stengel- Kelch- und Blumenblätter ſich in die
Breite ausgedehnt haben, fallen hier völlig weg
und es entſteht ein ſchwacher höchſt einfacher
Faden.
§. 63.
Kaum daſs noch die feinen Häutchen der
Staubbeutel gebildet werden, zwiſchen welchen
ſich die höchſt zarten Gefäſse nunmehr endigen.
Wenn wir nun annehmen, daſs hier eben jene
Gefäſse, welche ſich ſonſt verlängerten, ausbrei-
teten und ſich einander wieder aufſuchten,
gegenwärtig in einem höchſt zuſammen gezogenen
Zuſtande ſind: wenn wir aus ihnen nunmehr den
höchſt ausgebildeten Samenſtaub hervor dringen
ſehen, welcher das durch ſeine Thätigkeit erſezt,
was den Gefäſsen die ihn hervorbringen an Aus-
breitung entzogen iſt: wenn er nun mehr losgelöſst
die weiblichen Theile aufſucht, welche den Staub-
gefäſsen durch gleiche Wirkung der Natur entgegen
gewachſen ſind, wenn er ſich feſt an ſie anhängt,
und ſeine Einflüſſe ihnen mittheilt: ſo ſind wir
nicht abgeneigt, die Verbindung der beyden
Geſchlechter eine geiſtige Anaſtomoſe zu nennen,
und glauben wenigſtens einen Augenblick die
Begriffe von Wachsthum und Zeugung, einander
näher gerückt zu haben.
§. 64.
Die feine Materie welche ſich in den Antheren
entwickelt, erſcheint uns als ein Staub; dieſe
Staubkügelchen ſind aber nur Gefäſse worin höchſt
feiner Saft aufbewahrt iſt. Wir pflichten daher
der Meynung derjenigen bey, welche behaupten
daſs dieſer Saft von den Piſtillen an denen ſich
die Staubkügelchen anhängen, eingeſogen und
ſo die Befruchtung bewirkt werde. Es wird dieſes
um ſo wahrſcheinlicher, da einige Pflanzen keinen
Samenſtaub, vielmehr nur eine bloſse Feuchtigkeit
abſondern.
§. 65.
Wir erinnern uns hier des honigartigen
Saftes der Necktarien, und deſſen wahrſcheinlicher
Verwandtſchaft mit der ausgearbeitetern Feuchtig-
keit der Samenbläſschen. Vielleicht ſind die
Necktarien vorbereitende Werkzeuge, vielleicht
wird ihre honigartige Feuchtigkeit von den Staub-
gefäſsen eingeſogen, mehr determinirt und völlig
ausgearbeitet; eine Meynung die um ſo wahr-
ſcheinlicher wird, da man nach der Befruchtung
dieſen Saft nicht mehr bemerkt.
§. 66.
Wir laſſen hier, obgleich nur im Vorbeygehen,
nicht unbemerkt; daſs ſowohl die Staubfäden als
Antheren verſchiedentlich zuſammengewachſen
ſind, und uns die wunderbarſten Beyſpiele der
ſchon mehrmals von uns angeführten Anaſtomoſe
und Verbindung der in ihren erſten Anfängen
wahrhaft getrennten Pflanzentheile zeigen.
IX.
Bildung des Griffels.
§. 67.
WAR ich bisher bemüht, die innere Identität
der verſchiedenen, nach einander entwickelten
Pflanzentheile, bey der gröſten Abweichung der
äuſsern Geſtalt, ſo viel es möglich geweſen
anſchaulich zu machen; ſo wird man leicht ver-
muthen können daſs nunmehr meine Abſicht ſey,
auch die Strucktur der weiblichen Theile auf
dieſem Wege zu erklären.
§. 68.
Wir betrachten zuförderſt den Griffel von der
Frucht abgeſondert, wie wir ihn auch oft in der
Natur finden; und um ſo mehr können wir es
thun, da er ſich in dieſer Geſtalt von der Frucht
unterſchieden zeigt.
§. 69.
Wir bemerken nehmlich daſs der Griffel auf
eben der Stufe des Wachsthums ſtehe, wo wir
die Staubgefäſse gefunden haben. Wir konnten
nehmlich beobachten, daſs die Staubgefäſse durch
eine Zuſammenziehung hervorgebracht werden;
die Griffel ſind oft in demſelbigen Falle, und wir
ſehen ſie, wenn auch nicht immer mit den Staub-
gefäſsen von gleichem Maſse, doch nur um
weniges länger oder kürzer gebildet. In vielen
Fällen ſieht der Griffel faſt einem Staubfaden ohne
Anthere gleich, und die Verwandtſchaft ihrer
Bildung iſt äuſserlich gröſser als bey den übrigen
Theilen. Da ſie nun beyderſeits durch Spiralgefäſse
hervorgebracht werden, ſo ſehen wir deſto deut-
licher, daſs der weibliche Theil ſo wenig als der
männliche ein beſonderes Organ ſey, und wenn
die genaue Verwandtſchaft deſſelben mit dem
männlichen, uns durch dieſe Betrachtung recht
anſchaulich wird, ſo finden wir jenen Gedanken
die Begattung eine Anaſtomoſe zu nennen paſſender
und einleuchtender.
§. 70.
Wir finden den Griffel ſehr oft aus mehreren
einzelnen Griffeln zuſammengewachſen, und die
Theile aus denen er beſtehet laſſen ſich kaum am
Ende, wo ſie nicht einmal immer getrennt ſind,
erkennen. Dieſes Zuſammenwachſen, deſſen
Wirkung wir ſchon öfters bemerkt haben, wird
hier am meiſten möglich; ja es muſs geſchehen,
weil die feinen Theile vor ihrer gänzlichen Ent-
wickelung in der Mitte des Blüthenſtandes
zuſammengedrängt ſind, und ſich auf das innigſte
mit einander verbinden können.
§. 71.
Die nahe Verwandtſchaft mit den vorherge-
henden Theilen des Blüthenſtandes zeigt uns die
Natur in verſchiedenen regelmäſsigen Fällen mehr
oder weniger deutlich. So iſt z. B. das Piſtill der
Iris mit feiner Narbe, in völliger Geſtalt eines
Blumenblattes vor unſern Augen. Die ſchirm-
förmige Narbe der Saracenie zeigt ſich zwar nicht
ſo auffallend aus mehreren Blättern zuſammenge-
ſezt, doch verläugnet ſie ſogar die grüne Farbe
nicht. Wollen wir das Mikroſcop zu Hülfe
nehmen, ſo finden wir mehrere Narben, z. E. des
Crocus, der Zanichella, als völlige ein- oder
mehrblätterige Kelche gebildet.
§. 72.
Rückſchreitend zeigt uns die Natur öfters den
Fall, daſs ſie die Griffel und Narben wieder in
Blumenblätter verwandelt; z. B. füllt ſich der
Ranunculus aſiaticus dadurch, daſs ſich die Narben
und Piſtille des Fruchtbehälters zu wahren Kronen-
blättern umbilden, indeſſen die Staubwerkzeuge,
gleich hinter der Krone, oft unverändert gefunden
werden. Einige andere bedeutende Fälle werden
unten vorkommen.
§. 73.
Wir wiederholen hier jene oben angezeigte
Bemerkungen, daſs Griffel und Staubfäden auf
der gleichen Stufe des Wachsthums ſtehen, und
erläutern jenen Grund des wechſelsweiſen Ausdeh-
nens und Zuſammenziehens dadurch abermals.
Vom Samen bis zu der höchſten Entwickelung
des Stengelblattes, bemerkten wir zuerſt eine
Ausdehnung, darauf ſahen wir durch eine Zuſam-
menziehung den Kelch entſtehen, die Blumenblätter
durch eine Ausdehnung, die Geſchlechtstheile
abermals durch eine Zuſammenziehung; und wir
werden nun bald die gröſste Ausdehnung in der
Frucht, und die gröſste Concentration in dem
Samen gewahr werden. In dieſen ſechs Schritten
vollendet die Natur unaufhaltſam das ewige Werk
der Fortpflanzung der Vegetabilien durch zwey
Geſchlechter.
X.
Von den Früchten.
§. 74.
WIR werden nunmehr die Früchte zu beo-
bachten haben, und uns bald überzeugen,
daſs dieſelben gleichen Urſprungs und gleichen
Geſezen unterworfen ſeyen. Wir reden hier
eigentlich von ſolchen Gehäuſen welche die Natur
bildet, um die ſogenannten bedeckten Samen
einzuſchlieſsen, oder vielmehr aus dem Innerſten
dieſer Gehäuſe durch die Begattung eine gröſsere
oder geringere Anzahl Samen zu entwickeln.
Daſs dieſe Behältniſſe gleichfalls aus der Natur
und Organiſation der bisher betrachteten Theile
zu erklären ſeyen, wird ſich mit wenigem zeigen
laſſen.
§. 75.
Die rückſchreitende Metamorphoſe macht uns
hier abermals auf dieſes Naturgeſez aufmerkſam.
So läſst ſich zum Beyſpiel an den Nelken, dieſen
D
eben wegen ihrer Auſartung ſo bekannten und
beliebten Blumen, oft bemerken, daſs die Samen-
kapſeln ſich wieder in kelchähnliche Blätter ver-
ändern, und daſs in eben dieſem Maſse die
aufgeſezten Griffel an Länge abnehmen; ja es finden
ſich Nelken, an denen ſich das Fruchtbehältniſs
in einen wirklichen vollkommenen Kelch ver-
wandelt hat, indeſs die Einſchnitte deſſelben an
der Spitze noch zarte Ueberbleibſel der Griffel
und Narben tragen, und ſich aus dem Innerſten
dieſes zweyten Kelchs, wieder eine mehr oder
weniger vollſtändige Blätterkrone ſtatt der Samen
entwickelt.
§. 76.
Ferner hat uns die Natur ſelbſt durch regel-
mäſsige und beſtändige Bildungen, auf eine ſehr
manigfaltige Weiſe die Fruchtbarkeit geoffenbart,
welche in einem Blatt verborgen liegt. So bringt
ein zwar verändertes doch noch völlig kenntliches
Blatt der Linde aus ſeiner Mittelrippe ein
Stielchen und an demſelben eine vollkommene
Blüthe und Frucht hervor. Bey dem Ruſcus iſt
die Art wie Blüthen und Früchte auf den Blättern
aufſitzen noch merkwürdiger.
§. 77.
Noch ſtärker und gleichſam ungeheuer wird
uns die unmittelbare Fruchtbarkeit der Stengel-
blätter in den Farrenkräutern vor Augen gelegt;
welche durch einen innern Trieb, und vielleicht gar
ohne beſtimmte Wirkung zweyer Geſchlechter,
unzählige, des Wachsthums fähige Samen, oder
vielmehr Keime entwickeln und umherſtreuen,
wo alſo ein Blatt an Fruchtbarkeit mit einer
ausgebreiteten Pflanze, mit einem groſsen und
äſtereichen Baume wetteifert.
§. 78.
Wenn wir dieſe Beobachtungen gegenwärtig
behalten; ſo werden wir in den Samenbehältern,
ohnerachtet ihrer manigfaltigen Bildung, ihrer
beſonderen Beſtimmung und Verbindung unter
ſich, die Blattgeſtalt nicht verkennen. So wäre
z. B. die Hülſe ein einfaches zuſammengeſchlagenes,
an ſeinen Rändern verwachſenes Blatt, die
Schoten würden aus mehr übereinander gewach-
ſenen Blättern beſtehen, die zuſammengeſezten
Gehäuſe erklärten ſich aus mehreren Blättern
D 2
welche ſich um einen Mittelpunct vereiniget,
ihr Innerſtes gegen einander aufgeſchloſſen, und
ihre Ränder mit einander verbunden hätten. Wir
können uns hiervon durch den Augenſchein
überzeugen, wenn ſolche zuſammengeſezte Kap-
ſeln nach der Reife von einander ſpringen, da
denn jeder Theil derſelben ſich uns als eine
eröfnete Hülſe oder Schote zeigt. Eben ſo ſehen
wir bey verſchiedenen Arten eines und deſſelben
Geſchlechts, eine ähnliche Wirkung regelmäſsig
vorgehen; z. B. ſind die Fruchtkapſeln der
Nigella orientalis, in der Geſtalt von halb mit
einander verwachſnen Hülſen, um eine Axe ver-
ſammlet, wenn ſie bey der Nigella Damaſcena
völlig zuſammen gewachſen erſcheinen.
§. 79.
Am meiſten rückt uns die Natur dieſe Blatt-
ähnlichkeit aus den Augen, indem ſie ſaftige und
weiche oder holzartige und feſte Samenbehälter
bildet; allein ſie wird unſerer Aufmerkſamkeit
nicht entſchlüpfen können, wenn wir ihr in allen
Uebergängen ſorgfältig zu folgen wiſſen. Hier
ſey es genug, den allgemeinen Begriff davon
angezeigt und die Uebereinſtimmung der Natur
an einigen Beyſpielen gewieſen zu haben. Die
groſse Manigfaltigkeit der Samenkapſeln gibt uns
künftig Stoff zu mehrerer Betrachtung.
§. 80.
Die Verwandtſchaft der Samenkapſeln mit den
vorhergehenden Theilen zeigt ſich auch durch
das Stigma, welches bey vielen unmittelbar auf-
ſizt und mit der Kapſel unzertrennlich verbunden
iſt. Wir haben die Verwandtſchaft der Narbe
mit der Blattgeſtalt ſchon oben gezeigt und
können hier ſie nochmals aufführen; indem ſich
bey gefüllten Mohnen bemerken läſst, daſs die
Narben der Samenkapſeln in farbige, zarte,
Kronenblättern völlig ähnliche Blättchen ver-
wandelt werden.
§. 81.
Die lezte und gröſte Ausdehnung welche die
Pflanze in ihrem Wachsthum vornimmt; zeigt ſich
in der Frucht. Sie iſt ſowohl an innerer Kraft als
äuſserer Geſtalt oft ſehr groſs, ja ungeheuer.
Da ſie gewöhnlich nach der Befruchtung vor
ſich gehet; ſo ſcheinet der nun mehr determinirte
Same, indem er zu einem Wachsthum aus der
ganzen Pflanze die Säfte herbeyziehet, ihnen die
Hauptrichtung nach der Samenkapſel zu geben,
wodurch denn ihre Gefäſse genährt, erweitert,
und oft in dem höchſten Grade ausgefüllt und
ausgeſpannt werden. Daſs hieran reinere Luftarten
einen groſsen Antheil haben, läſst ſich ſchon
aus dem vorigen ſchlieſſen und es beſtätigt ſich
durch die Erfahrung daſs die aufgetriebnen Hülſen
der Colutea reine Luft enthalten.
XI.
Von den unmittelbaren Hüllen des
Samens.
§. 82.
DAGEGEN finden wir, daſs der Same in dem
höchſten Grade von Zuſammenziehung und Aus-
bildung ſeines Innern ſich befindet. Es läſst ſich
bey verſchiedenen Samen bemerken daſs er
Blätter zu ſeinen nächſten Hüllen umbilde, mehr
oder weniger ſich anpaſſe, ja meiſtens durch
ſeine Gewalt, ſie völlig an ſich ſchlieſſe und ihre
Geſtalt gänzlich verwandle. Da wir oben mehrere
Samen ſich aus und in Einem Blatt entwickeln
geſehn, ſo werden wir uns nicht wundern, wenn
ein einzelner Samenkeim ſich in eine Blatthülle
kleidet.
§. 83.
Die Spuren ſolcher nicht völlig den Samen
angepaſsten Blattgeſtalten, ſehen wir an vielen
geflügelten Samen z. B. des Ahorns, der Rüſter,
der Eſche, der Birke. Ein ſehr merkwürdiges
Beyſpiel, wie der Samenkeim breitere Hüllen
nach und nach zuſammen zieht und ſich anpaſst,
geben uns die drey verſchiedenen Kreiſe verſchie-
dengeſtalteter Samen der Calendel. Der äuſserſte
Kreis behält noch eine mit den Kelchblättern
verwandte Geſtalt; nur daſs eine, die Rippe
auſdehnende Samenanlage das Blatt krümmt, und
die Krümmung inwendig der Länge nach durch
ein Häutchen in zwey Theile abgeſondert wird.
Der folgende Kreis hat ſich ſchon mehr verändert,
die Breite des Blättchens und das Häutchen
haben ſich gänzlich verlohren; dagegen iſt die
Geſtalt etwas weniger verlängert, die in dem
Rücken befindliche Samenanlage zeigt ſich deut-
licher und die kleinen Erhöhungen auf derſelben
ſind ſtärker; dieſe beyden Reihen ſcheinen
entweder gar nicht, oder nur unvollkommen
befruchtet zu ſeyn. Auf ſie folgt die dritte Samen-
reihe in ihrer ächten Geſtalt ſtark gekrümmt,
und mit einem völlig angepaſsten, und in allen
ſeinen Striefen und Erhöhungen völlig ausge-
bildeten Involucro. Wir ſehen hier abermals eine
gewaltſame Zuſammenziehung ausgebreiteter,
blattähnlicher Theile, und zwar durch die innere
Kraft des Samens, wie wir oben durch die Kraft
der Anthere das Blumenblatt zuſammengezogen
geſehen haben.
XII.
Rückblick und Uebergang.
§. 84.
UND ſo wären wir der Natur auf ihren Schritten,
ſo bedachtſam als möglich gefolgt; wir hätten
die äuſsere Geſtalt der Pflanze in allen ihren
Umwandlungen, von ihrer Entwickelung aus dem
Samenkorn, bis zur neuen Bildung deſſelben
begleitet. Und ohne Anmaſsung die erſten Trieb-
federn der Naturwirkungen entdecken zu wollen,
auf Aeuſserung der Kräfte, durch welche die
Pflanze ein und eben daſſelbe Organ nach und
nach umbildet, unſre Aufmerkſamkeit gerichtet.
Um den einmal ergriffenen Faden nicht zu ver-
laſſen, haben wir die Pflanze durchgehends nur
als einjährig betrachtet, wir haben nur die
Umwandlung der Blätter welche die Knoten
begleiten bemerkt, und alle Geſtalten aus ihnen
hergeleitet. Allein es wird, um dieſem Verſuch
die nöthige Vollſtändigkeit zu geben, nunmehr
noch nöthig, von den Augen zu ſprechen welche
unter jedem Blatt verborgen liegen, ſich unter
gewiſſen Umſtänden entwickeln, und unter andern
völlig zu verſchwinden ſcheinen.
XIII.
Von den Augen und ihrer Entwickelung.
§. 85.
JEDER Knoten hat von der Natur die Kraft, ein
oder mehrere Augen hervorzubringen; und zwar
geſchieht ſolches in der Nähe der ihn bekleidenden
Blätter, welche die Bildung und das Wachsthum
der Augen vorzubereiten und mit zu bewirken
ſcheinen.
§. 86.
In der ſucceſſiven Entwickelung eines Knotens
aus dem andern, in der Bildung eines Blattes an
jedem Knoten und eines Auges in deſſen Nähe,
beruhet die erſte, einfache, langſam fortſchrei-
tende Fortpflanzung der Vegetabilien.
§. 87.
Es iſt bekannt, daſs ein ſolches Auge in ſeinen
Wirkungen eine groſse Aehnlichkeit mit dem
reifen Samen hat; und daſs oft in jenem noch
mehr als in dieſem die ganze Geſtalt der künftigen
Pflanze erkannt werden kann.
§. 88.
Ob ſich gleich an dem Auge ein Wurzelpunct
ſo leicht nicht bemerken läſst, ſo iſt doch derſelbe
eben ſo darin wie in dem Samen gegenwärtig,
und entwickelt ſich, beſonders durch feuchte
Einflüſse, leicht und ſchnell.
§. 89.
Das Auge bedarf keiner Cotyledonen; weil
es mit ſeiner ſchon völlig organiſirten Mutterpflanze
zuſammenhängt, und aus derſelbigen, ſo lang es
mit ihr verbunden iſt, oder, nach der Trennung,
von der neuen Pflanze auf welche man es gebracht
hat; oder durch die alſobald gebildeten Wurzeln,
wenn man einen Zweig in die Erde bringt,
hinreichende Nahrung erhält.
§. 90.
Das Auge beſteht aus mehr oder weniger
entwickelten Knoten und Blättern, welche den
künftigen Wachsthum weiter verbreiten ſollen.
Die Seitenzweige alſo welche aus den Knoten der
Pflanzen entſpringen, laſſen ſich als beſondere
Pflänzchen, welche eben ſo auf dem Mutterkörper
ſtehen wie dieſer an der Erde befeſtigt iſt,
betrachten.
§. 91.
Die Vergleichung und Unterſcheidung beyder
iſt ſchon öfters, beſonders aber vor kurzem ſo
ſcharfſinnig und mit ſo vieler Genauigkeit ausge-
führt worden, daſs wir uns hier bloſs mit einem
unbedingten Beyfall darauf berufen können Gaertner de fructibus et feminibus plantarum. Cap. 1..
§. 92.
Wir führen davon nur ſo viel an. Die Natur
unterſcheidet bey auſgebildeten Pflanzen, Augen
und Samen deutlich von einander. Steigen wir aber
von da zu den unausgebildeten Pflanzen herab,
ſo ſcheint ſich der Unterſchied zwiſchen beyden
ſelbſt vor den Blicken des ſchärfſten Beobachters
zu verlieren. Es giebt unbezweifelte Samen,
unbezweifelte Gemmen; aber der Punct, wo
wirklich befruchtete, durch die Wirkung zweyer
Geſchlechter von der Mutterpflanze iſolirte Samen
mit Gemmen zuſammentreffen, welche aus der
Pflanze nur hervordringen und ſich ohne bemerk-
bare Urſache loſlöſen, iſt wohl mit dem Verſtande,
keineswegs aber mit den Sinnen zu erkennen.
§. 93.
Dieſes wohlerwogen, werden wir folgern
dürfen: daſs die Samen welche ſich durch ihren
eingeſchloſsenen Zuſtand von den Augen, durch
die ſichtbare Urſache ihrer Bildung und Abſondrung
von den Gemmen unterſcheiden, dennoch mit
beyden nahe verwandt ſind.
XIV.
Bildung der zuſammengeſezten Blüthen
und Fruchtſtände.
§. 94.
WIR haben biſher die einfachen Blüthenſtände,
ingleichen die Samen welche in Kapſeln befeſtiget
hervorgebracht werden, durch die Umwandlung
der Knotenblätter zu erklären geſucht, und es
wird ſich bey näherer Unterſuchung finden; daſs in
dieſem Falle ſich keine Augen entwickeln, vielmehr
die Möglichkeit einer ſolchen Entwickelung ganz
und gar aufgehoben wird. Um aber die zuſam-
mengeſezten Blüthenſtände ſowohl, als die gemein-
ſchaftlichen Fruchtſtände, um Einen Kegel, Eine
Spindel, auf Einem Boden, und ſo weiter zu
erklären, müſſen wir nun die Entwickelung der
Augen zu Hülfe nehmen.
§. 95.
Wir bemerken ſehr oft, daſs Stengel ohne zu
einem einzelnen Blüthenſtande ſich lange vorzu-
bereiten und aufzuſparen, ſchon aus den Knoten
ihre Blüthen hervortreiben, und ſo bis an ihre
Spitze oft ununterbrochen fortfahren. Doch laſſen
ſich die dabey vorkommenden Erſcheinungen aus
der oben vorgetragenen Theorie erklären. Alle
Blumen welche ſich aus den Augen entwickeln,
ſind als ganze Pflanzen anzuſehen, welche auf
der Mutterpflanze eben ſo wie dieſe auf der Erde
ſtehen. Da ſie nun aus den Knoten reinere Säfte
erhalten; ſo erſcheinen ſelbſt die erſten Blätter der
Zweiglein viel ausgebildeter, als die erſten Blätter
der Mutterpflanze welche auf die Cotyledonen
folgen; ja es wird die Ausbildung des Kelches
und der Blume oft ſogleich möglich.
§. 96.
Eben dieſe aus den Augen ſich bildende Blüthen
würden bey mehr zudringender Nahrung, Zweige
geworden ſeyn, und das Schickſal des Mutter-
ſtengels, dem er ſich unter ſolchen Umſtänden
unterwerfen müſste, gleichfalls erduldet haben.
§. 97.
§. 97.
So wie nun von Knoten zu Knoten ſich,
dergleichen Blüthen entwickeln, ſo bemerken wir
gleichfalls jene Veränderung der Stengelblätter,
die wir oben bey dem langſamen Uebergange zum
Kelch beobachtet haben. Sie ziehen ſich immer
mehr und mehr zuſammen, und verſchwinden
endlich beynahe ganz. Man nennt ſie alsdann
Bracteas, indem ſie ſich von der Blattgeſtalt
mehr oder weniger entfernen. In eben dieſem
Maſse wird der Stiel verdünnt, die Knoten rücken
mehr zuſammen, und alle oben bemerkte Erſchein-
ungen gehen vor, nur daſs am Ende des Stengels
kein entſchiedener Blüthenſtand folgt, weil die
Natur ihr Recht ſchon von Auge zu Auge aus-
geübt hat.
§. 98.
Haben wir nun einen ſolchen an jedem Knoten
mit einer Blume gezierten Stengel wohl betrachtet;
ſo werden wir uns gar bald einen gemeinſchaftlichen
Blüthenſtand erklären können: wenn wir das was
oben von Entſtehung des Kelches geſagt iſt mit
zu Hülfe nehmen.
E
§. 99.
Die Natur bildet einen gemeinſchaftlichen Kelch,
aus vielen Blättern, welche ſie auf einander drängt
und um Eine Axe verſammlet; mit eben dieſem
ſtarken Triebe des Wachsthums entwickelt ſie
einen gleichſam unendlichen Stengel, mit allen ſeinen
Augen in Blüthengeſtalt, auf einmal, in der möglichſten
an einander gedrängten Nähe, und jedes Blümchen
befruchtet das unter ihm ſchon vorbereitete Samen-
gefäſs. Bey dieſer ungeheuren Zuſammenziehung
verlieren ſich die Knotenblätter nicht immer; bey
den Diſteln begleitet das Blättchen getreulich das
Blümchen, das ſich aus den Augen neben ihnen
entwickelt. Man vergleiche mit dieſem Paragraph
die Geſtalt des Dipſacus laciniatus. Bey vielen
Gräſern wird eine jede Blüthe durch ein ſolches
Blättchen, das in dieſem Falle der Balg genannt
wird, begleitet.
§. 100.
Auf dieſe Weiſe wird es uns nun anſchaulich
ſeyn, wie die, um einen gemeinſamen Blüthen-
ſtand entwickelte Samen, wahre, durch die Wirkung
beyder Geſchlechter ausgebildete und entwickelte Augen
ſeyen. Faſsen wir dieſen Begriff feſt, und betrachten
in dieſem Sinne mehrere Pflanzen, ihren Wachs-
thum und Fruchtſtände, ſo wird der Augenſchein
bey einiger Vergleichung uns am beſten überzeugen.
§. 101.
Es wird uns ſodann auch nicht ſchwer ſeyn,
den Fruchtſtand der in der Mitte einer einzelnen
Blume, oft um eine Spindel verſammleten, bedeck-
ten oder unbedeckten Samen zu erklären. Denn
es iſt ganz einerley, ob eine einzelne Blume einen
gemeinſamen Fruchtſtand umgiebt, und die zuſam-
mengewachſenen Piſtille von den Antheren der
Blume die Zeugungsſäfte einſaugen und ſie den
Samenkörnern einflöſsen, oder ob ein jedes Samen-
korn ſein eigenes Piſtill, ſeine eigenen Antheren,
ſeine eigene Kronenblätter um ſich habe.
§. 102.
Wir ſind überzeugt daſs mit einiger Uebung
es nicht ſchwer ſey, ſich auf dieſem Wege die
manigfaltigen Geſtalten der Blumen und Früchte
zu erklären; nur wird freylich dazu erfordert,
E 2
daſs man mit jenen oben feſtgeſtellten Begriffen
der Ausdehnung und Zuſammenziehung, der
Zuſammendrängung und Anaſtomoſe, wie mit
Algebraiſchen Formeln bequem zu operiren, und
ſie da, wo ſie hingehören anzuwenden wiſse. Da
nun hierbey viel darauf ankommt, daſs man die
verſchiedenen Stufen, welche die Natur ſo wohl
in der Bildung der Geſchlechter, der Arten, der
Varietäten, als in dem Wachsthum einer jeden
einzelnen Pflanze betritt, genau beobachte und
mit einander vergleiche: ſo würde eine Sammlung
Abbildungen zu dieſem Endzwecke neben einander
geſtellt, und eine Anwendung der botaniſchen
Terminologie auf die verſchiedenen Pflanzentheile
bloſs in dieſer Rückſicht angenehm und nicht
ohne Nutzen ſeyn. Es würden zwey Fälle von
durchgewachſenen Blumen, welche der oben
angeführten Theorie ſehr zu ſtatten kommen, den
Augen vorgelegt, ſehr entſcheidend gefunden
werden.
XV.
Durchgewachſene Roſe.
§. 103.
ALLES was wir bisher nur mit der Einbildungs-
kraft und dem Verſtande zu ergreifen geſucht,
zeigt uns das Beyſpiel einer durchgewachſenen
Roſe auf das deutlichſte. Kelch und Krone ſind
um die Axe geordnet und entwickelt, anſtatt
aber, daſs nun im Centro das Samenbehältniſs
zuſammengezogen, an demſelben und um daſſelbe die
männlichen und weiblichen Zeugungstheile geordnet
ſeyn ſollten, begiebt ſich der Stiel halb röthlich
halb grünlich wieder in die Höhe; kleinere dunkel-
rothe zuſammengefaltete Kronenblätter, deren
einige die Spur der Antheren an ſich tragen,
entwickeln ſich ſucceſſiv an demſelben. Der Stiel
wächſt fort, ſchon laſſen ſich daran wieder Dornen
ſehn, die folgenden einzelnen gefärbten Blätter
werden kleiner und gehen zulezt vor unſern
Augen in halb roth halb grün gefärbte Stengelblätter
über, es bildet ſich eine Folge von regelmäſsigen
Knoten, aus deren Augen abermals, obgleich
unvollkommene Roſenknöſpchen zum Vorſchein
kommen.
§. 104.
Es giebt uns eben dieſes Exemplar auch noch
einen ſichtbaren Beweis des oben ausgeführten:
daſs nehmlich alle Kelche nur in ihrer Peripherie
zuſammengezogene Folia Floralia ſeyen. Denn hier
beſtehet der regelmäſsige um die Axe verſammlete
Kelch aus fünf völlig entwickelten, drey oder
fünffach zuſammengeſezten Blättern, dergleichen
ſonſt die Roſenzweige an ihren Knoten hervor-
bringen.
XVI.
Durchgewachſene Nelke.
§. 105.
WENN wir dieſe Erſcheinung recht beobachtet
haben, ſo wird uns eine andere, welche ſich an
einer durchgewachſenen Nelke zeigt, faſt noch
merkwürdiger werden. Wir ſehen eine vollkom-
mene, mit Kelch und überdies mit einer gefüllten
Krone verſehene, auch in der Mitte mit einer,
zwar nicht ganz ausgebildeten, Samenkapſel völlig
geendigte Blume. Aus den Seiten der Krone
entwickeln ſich vier vollkommene neue Blumen,
welche durch drey und mehrknotige Stengel von
der Mutterblume entfernt ſind; ſie haben abermals
Kelche, ſind wieder gefüllt, und zwar nicht ſo
wohl durch einzelne Blätter als durch Blatt-
kronen, deren Nägel zuſammengewachſen ſind,
meiſtens aber durch Blumenblätter, welche wie
Zweiglein zuſammengewachſen, und um einen
Stiel entwickelt ſind. Ohngeachtet dieſer unge-
heuren Entwickelung ſind die Staubfäden, und
Antheren in einigen gegenwärtig. Die Frucht-
hüllen mit den Griffeln ſind zu ſehen und die
Receptakel der Samen wieder zu Blättern ent-
faltet, ja in einer dieſer Blumen waren die
Samendecken zu einem völligen Kelch verbunden,
und enthielten die Anlage zu einer vollkommen
gefüllten Blume wieder in ſich.
§. 106.
Haben wir bey der Roſe einen gleichſam nur
halbdeterminirten Blüthenſtand, aus deſſen Mitte
einen abermals hervortreibenden Stengel, und
an demſelbigen neue Stengelblätter ſich entwickeln
geſehen: ſo finden wir an dieſer Nelke, bey
wohlgebildetem Kelche und vollkommener Krone,
bey wirklich in der Mitte beſtehenden Frucht-
gehäuſen, aus dem Kreiſe der Kronenblätter, ſich
Augen entwickeln, und wirkliche Zweige und
Blumen darſtellen. Und ſo zeigen uns denn
beyde Fälle, daſs die Natur gewöhnlich in den
Blumen ihren Wachsthum ſchlieſse und gleichſam
eine Summe ziehe, daſs ſie der Möglichkeit ins
Unendliche mit einzelnen Schritten fortzugehen
Einhalt thue, um durch die Ausbildung der
Samen ſchneller zum Ziel zu gelangen.
XVII.
Linnées Theorie von der Anticipation.
§. 107.
WENN ich, auf dieſem Wege, den einer
meiner Vorgänger, welcher ihn noch dazu,
an der Hand ſeines groſsen Lehrers verſuchte,
ſo fürchterlich und gefährlich beſchreibt Ferber in Præfatione Diſſertationis ſecundæ de Prolepſi
Plantarum., auch
hie und da geſtrauchelt hätte, wenn ich ihn nicht
genugſam geebnet und zum beſten meiner Nach-
folger von allen Hinderniſsen gereiniget hätte;
ſo hoffe ich doch dieſe Bemühung nicht fruchtlos
unternommen zu haben.
§. 108.
Es iſt hier Zeit, der Theorie zu gedenken,
welche Linné zu Erklärung eben dieſer Erſchein-
ungen aufgeſtellt. Seinem ſcharfen Blick konnten
die Bemerkungen, welche auch gegenwärtigen
Vortrag veranlaſst, nicht entgehen. Und wenn
wir nunmehr da fortſchreiten können wo er ſtehen
blieb, ſo ſind wir es den gemeinſchaftlichen
Bemühungen ſo vieler Beobachter und Denker
ſchuldig, welche manches Hinderniſs aus dem
Wege geräumt, manches Vorurtheil zerſtreut
haben. Eine genaue Vergleichung ſeiner Theorie
und des oben ausgeführten würde uns hier zu
lange aufhalten. Kenner werden ſie leicht ſelbſt
machen, und ſie müſste zu umſtändlich ſeyn,
um denen anſchaulich zu werden die über dieſen
Gegenſtand noch nicht gedacht haben. Nur
bemerken wir kürzlich was ihn hinderte weiter
fort und bis ans Ziel zu ſchreiten.
§. 109.
Er machte ſeine Bemerkung zuerſt an Bäumen,
dieſen zuſammengeſezten und lange daurenden
Pflanzen. Er beobachtete, daſs ein Baum, in
einem weitern Gefäſse überflüſsig genährt, mehrere
Jahre hintereinander Zweige aus Zweigen hervor-
bringe, da derſelbe, in ein engeres Gefäſs ein-
geſchloſsen, ſchnell Blüthen und Früchte trage.
Er ſahe daſs jene ſucceſſive Entwickelung hier
auf einmal zuſammengedrängt hervorgebracht
werde. Daher nannte er dieſe Wirkung der Natur
Prolepſis, eine Anticipation, weil die Pflanze, durch
die ſechſ Schritte welche wir oben bemerkt
haben, ſechs Jahre voraus zu nehmen ſchien.
Und ſo führte er auch ſeine Theorie, bezüglich
auf die Knoſpen der Bäume aus, ohne auf die
einjährigen Pflanzen beſonders Rückſicht zu
nehmen, weil er wohl bemerken konnte daſs
ſeine Theorie nicht ſo gut auf dieſe als auf jene
paſſe. Denn nach ſeiner Lehre müſste man
annehmen daſs jede einjährige Pflanze eigentlich
von der Natur beſtimmt geweſen ſey ſechs Jahre
zu wachſen und dieſe längere Friſt in dem Blüthen-
und Fruchtſtande auf einmal anticipire und
ſodann verwelke.
§. 110.
Wir ſind dagegen zuerſt dem Wachsthum der
einjährigen Pflanze gefolgt; nun läſst ſich die
Anwendung auf die daurenden Gewächſe leicht
machen, da eine aufbrechende Knoſpe des älteſten
Baumes als eine einjährige Pflanze anzuſehen iſt,
ob ſie ſich gleich aus einem ſchon lange beſtehenden
Stamme entwickelt und ſelbſt eine längere Dauer
haben kann.
§. 111.
Die zweyte Urſache, welche Linnéen verhinderte
weiter vorwärts zu gehen, war, daſs er die
verſchiedenen in einander geſchloſſenen Kreiſe des
Pflanzenkörpers, die äuſsere Rinde, die innere,
das Holz, das Mark, zu ſehr als gleichwirkende,
in gleichem Grad lebendige und nothwendige
Theile anſah, und den Urſprung der Blumen und
Fruchttheile dieſen verſchiedenen Kreiſen des
Stammes zuſchrieb, weil jene, eben ſo wie dieſe,
von einander umſchloſſen und ſich auseinander
zu entwickeln ſcheinen. Es war dieſes aber nur
eine oberflächliche Bemerkung, welche näher
betrachtet ſich nirgend beſtätiget. So iſt die
äuſsere Rinde zu weiterer Hervorbringung unge-
ſchickt, und bey daurenden Bäumen eine nach
auſsen zu verhärtete und abgeſonderte Maſse,
wie das Holz nach innen zu verhärtet wird. Sie
fällt bey vielen Bäumen ab, andern Bäumen
kann ſie, ohne den geringſten Schaden derſelben,
genommen werden; ſie wird alſo weder einen
Kelch, noch irgend einen lebendigen Pflanzen-
theil hervorbringen. Die zweyte Rinde iſt es,
welche alle Kraft des Lebens und Wachsthums
enthält. In dem Grad in welchem ſie verlezt
wird, wird auch das Wachsthum geſtöhrt, ſie
iſt es welche bey genauer Betrachtung alle
äuſsere Pflanzentheile nach und nach im Stengel,
oder auf einmal in Blüthe und Frucht hervor-
bringt. Ihr wurde von Linnéen nur das ſubor-
dinirte Geſchäft die Blumenblätter hervorzu-
bringen zugeſchrieben. Dem Holze ward
dagegen die wichtige Hervorbringung der männ-
lichen Staubwerkzeuge zu theil; anſtatt daſs
man gar wohl bemerken kann, es ſey daſſelbe
ein durch Solideſcenz zur Ruhe gebrachter,
wenn gleich daurender, doch der Lebens-
wirkung abgeſtorbener Theil. Das Mark ſollte
endlich die wichtigſte Function verrichten,
die weiblichen Geſchlechtstheile und eine zahl-
reiche Nachkommenſchaft hervorbringen. Die
Zweifel welche man gegen dieſe groſse Würde
des Markes erregt, die Gründe die man
dagegen angeführt hat ſind auch mir wichtig
und entſcheidend. Es war nur ſcheinbar als
wenn ſich Griffel und Frucht aus dem Mark
entwickelten, weil dieſe Geſtalten, wenn wir
ſie zum erſtenmal erblicken, in einem weichen,
unbeſtimmten markähnlichen, parenchymatoſen
Zuſtande ſich befinden, und eben in der Mitte
des Stengels, wo wir uns nur Mark zu ſehen
gewöhnt haben, zuſammengedrängt ſind.
XVIII.
Wiederholung.
§. 112.
ICH wünſche daſs gegenwärtiger Verſuch die
Metamorphoſe der Pflanzen zu erklären, zu
Auflöſung dieſer Zweifel einiges beytragen, und
zu weiteren Bemerkungen und Schlüſſen Gele-
genheit geben möge. Die Beobachtungen worauf
er ſich gründet, ſind ſchon einzeln gemacht,
auch geſammlet und gereihet worden Batſch Anleitung zur Kenntniſs und Geſchichte der
Pflanzen. 1 Theil, 19 Capitel.; und
es wird ſich bald entſcheiden, ob der Schritt
den wir gegenwärtig gethan, ſich der Wahrheit
nähere. So kurz als möglich faſſen wir die Haupt-
reſultate des bisherigen Vortrags zuſammen.
§. 113.
Betrachten wir eine Pflanze in ſofern ſie ihre
Lebenskraft äuſsert, ſo ſehen wir dieſes auf
eine doppelte Art geſchehen, zuerſt, durch das
Wachsthum indem ſie Stengel und Blätter hervor-
bringt, und ſodann durch die Fortpflanzung,
welche in dem Blüthen- und Fruchtbau vollendet
wird. Beſchauen wir das Wachsthum näher,
ſo ſehen wir, daſs, indem die Pflanze ſich von
Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt fortſezt,
indem ſie ſproſst, gleichfalls eine Fortpflanzung
geſchehe, die ſich von der Fortpflanzung durch
Blüthe und Frucht, welche auf einmal geſchiehet,
darinn unterſcheidet, daſs ſie ſucceſſiv iſt, daſs
ſie ſich in einer Folge einzelner Entwicke-
lungen zeigt. Dieſe ſproſsende, nach und nach
ſich äuſsernde Kraft iſt mit jener, welche auf
einmal eine groſse Fortpflanzung entwickelt,
auf das genauſte vewrandtverwandt. Man kann unter
verſchiedenen Umſtänden eine Pflanze nöthigen,
daſs ſie immerfort ſproſse, man kann dagegen
den Blüthenſtand beſchleunigen. Jenes geſchieht,
wenn rohere Säfte der Pflanze in einem gröſseren
Maſse zudringen; dieſes, wenn die geiſtigeren
Kräfte in derſelben überwiegen.
§. 114.
§. 114.
Schon dadurch daſs wir das Sproſsen eine
ſucceſsive, den Blüthen- und Fruchtſtand aber eine
ſimultane Fortpflanzung genannt haben, iſt auch
die Art wie ſich beyde äuſsern, bezeichnet
worden. Eine Pflanze welche ſproſst, dehnt
ſich mehr oder weniger aus, ſie entwickelt einen
Stiel oder Stengel, die Zwiſchenräume von
Knoten zu Knoten ſind meiſt bemerkbar, und
ihre Blätter breiten ſich von dem Stengel nach
allen Seiten zu aus. Eine Pflanze dagegen
welche blüht, hat ſich in allen ihren Theilen
zuſammengezogen, Länge und Breite ſind gleich-
ſam aufgehoben und alle ihre Organe ſind in
einem höchſt concentrirten Zuſtande, zunächſt
an einander entwickelt.
§. 115.
Es mag nun die Pflanze ſproſsen, blühen oder
Früchte bringen, ſo ſind es doch nur immer
dieſelbigen Organe welche in vielfältigen Beſtim-
mungen und unter oft veränderten Geſtalten
F
die Vorſchrift der Natur erfüllen. Daſſelbe
Organ welches am Stengel als Blatt ſich aus-
gedehnt und eine höchſt manigfaltige Geſtalt
angenommen hat, zieht ſich nun im Kelche
zuſammen, dehnt ſich in Blumenblatte wieder
aus, zieht ſich in den Geſchlechtſwerkzeugen
zuſammen, um ſich als Frucht zum leztenmal
auszudehnen.
§. 116.
Dieſe Wirkung der Natur iſt zugleich mit
einer andern verbunden, mit der Verſammlung
verſchiedener Organe um ein Centrum nach gewiſsen
Zahlen und Maſsen, welche jedoch bey manchen
Blumen oft unter gewiſsen Umſtänden weit
überſchritten und vielfach verändert werden.
§. 117.
Auf gleiche Weiſe wirkt bey der Bildung der
Blüthen und Früchte eine Anaſtomoſe mit, wodurch
die nahe an einander gedrängten, höchſt feinen
Theile der Fructification, entweder auf die
Zeit ihrer ganzen Dauer, oder auch nur auf
einen Theil derſelben innigſt verbunden werden.
§. 118.
Doch ſind dieſe Erſcheinungen der Annähe-
rung, Centralſtellung und Anaſtomoſe nicht allein
dem Blüthen- und Fruchtſtande eigen; wir
können vielmehr etwas ähnliches bey den Cotyle-
donen wahrnehmen und andere Pflanzentheile
werden uns in der Folge reichen Stoff zu ähn-
lichen Betrachtungen geben.
§. 119.
So wie wir nun die verſchiedenſcheinenden
Organe der ſproſsenden und blühenden Pflanze
alle aus einem einzigen nehmlich dem Blatte,
welches ſich gewöhnlich an jedem Knoten ent-
wickelt, zu erklären geſucht haben; ſo haben
wir auch diejenigen Früchte, welche ihre Samen
feſt in ſich zu verſchlieſsen pflegen, aus der
Blattgeſtalt herzuleiten gewagt.
F 2
§. 120.
Es verſtehet ſich hier von ſelbſt, daſs wir
ein allgemeines Wort haben müſsten wodurch
wir dieſes in ſo verſchiedene Geſtalten meta-
morphoſirte Organ bezeichnen, und alle Erſchein-
ungen ſeiner Geſtalt damit vergleichen könnten:
gegenwärtig müſsen wir uns damit begnügen,
daſs wir uns gewöhnen die Erſcheinungen
vorwärts und rückwärts gegen einander zu
halten. Denn wir können eben ſo gut ſagen:
ein Staubwerkzeug ſey ein zuſammengezogenes
Blumenblatt, als wir von dem Blumenblatte
ſagen können: es ſey ein Staubgefäſs im
Zuſtande der Ausdehnung; ein Kelchblatt ſey
ein zuſammengezogenes, einem gewiſsen Grad
der Verfeinerung ſich näherndes Stengelblatt,
als wir von einem Stengelblatt ſagen können es
ſey ein, durch Zudringen roherer Säfte auſge-
dehntes Kelchblatt.
§. 121.
Eben ſo läſst ſich von dem Stengel ſagen; er
ſey ein auſgedehnter Blüthen- und Fruchtſtand,
wie wir von dieſem prädicirt haben: er ſey ein
zuſammengezogener Stengel.
§. 122.
Auſserdem habe ich am Schluſse des Vortrags
noch die Entwickelung der Augen in Betrach-
tung gezogen und dadurch die zuſammengeſezten
Blumen, wie auch die unbedeckten Fruchtſtände
zu erklären geſucht.
§. 123.
Und auf dieſe Weiſe habe ich mich bemüht,
eine Meynung welche viel überzeugendes für
mich hat, ſo klar und vollſtändig als es mir
möglich ſeyn wollte, darzulegen. Wenn ſolche
dem ohngeachtet noch nicht völlig zur Evidenz
gebracht iſt; wenn ſie noch manchen Wider-
ſprüchen auſgeſezt ſeyn, und die vorgetragne
Erklärungsart nicht überall anwendbar ſcheinen
möchte: ſo wird es mir deſto mehr Pflicht
werden, auf alle Erinnerungen zu merken, und
dieſe Materie in der Folge genauer und umſtänd-
licher abzuhandeln, um dieſe Vorſtellungsart
anſchaulicher zu machen, und ihr einen allge-
meinern Beyfall zu erwerben, als ſie vielleicht
gegenwärtig nicht erwarten kann.