Hedwig Dohm
Nr. 6.
Schriften des Preußischen Landesvereins für
Frauenstimmrecht .
Erziehung
zum Stimmrecht der Frau .
1. Erziehung zum Stimmrecht der Frau .
2. Die Mädchenschule und ihre Reformierung .
3. Die Sports .
4. Weibliches Studententum .
5. Ehe und Stimmrecht .
6. Das Stimmrecht der Frau .
Von Hedwig Dohm .
Herausgegeben
vom Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht .
Zweite Auflage –
Berlin 1910 .
Erziehung zum Stimmrecht der Frau .
Die Frauenfrage ist vielleicht das größte Problem unserer
Zeit . Ein lösbares .
Zu allen Zeiten – bis hinab ins graue Altertum – wagten
einzelne Frauen – Minerven aus Jupiters Haupt entsprungen –
auszubrechen aus den großen Gefängnissen , die für die Frauen-
schaft die Welt bedeuteten . Funken blieben es , aus einem tief-
inneren brennenden Zorn der Weltseele . Sie erloschen ohne
Flamme geworden zu sein .
Erst seit den letzten 50 Jahren gibt es eine stetig sich
entwickelnde Frauenbewegung , eine Bewegung – vorwärts –
aufwärts .
Jedes Zeitalter ist mit dem Ballast absterbender Jdeen
belastet , die sich den neuen Jdeen einer neuen Zeit entgegenstemmen ,
mit ihnen ringen . Kraft eines Weltprinzips – es heißt Evolution
– gehen die neuen Jdeen als Sieger aus dem Kampf hervor .
Den Siegeszug der Frauenbewegung können wir von Etappe
zu Etappe verfolgen .
Unserer Zeitepoche ideales Ziel ist das Frauenstimmrecht .
Es ist die vollkommene Gleichberechtigung – politische , soziale
und wirtschaftliche – von Mann und Weib .
Vorbereitende Stufen führen zu diesem Tempel der Erfüllung .
Die erste Stufe hinan bildet die Erziehung des weiblichen Kindes .
Die Mädchenschule und ihre Reformierung .
Niemand bleibt vom Geist der Zeit völlig unberührt .
Selbst die konservativsten Elemente des Staates verspüren
dieses Geistes einen Hauch . Er ist ihnen auf den Fersen –
dieser Geist ; kein Entrinnen möglich . Von ihm bedrängt , mußte
eine hohe Obrigkeit sich notgedrungen zu einer Reformierung
der weiblichen Bildungsanstalten entschließen , die bis in die Neuzeit
hinein alles vermieden , was den weiblichen Horizont erweitere ,
alles bevorzugten , was ihn einzuengen versprach .
Nicht willig , fröhlichen Herzens , vielmehr mißvergnügt ,
zögernd , karg , voller Halbheiten wurden die Reformen ins Werk
gesetzt . Die Koedukation ausgeschlossen . Wir aber fordern für
das weibliche Kind dieselben Bildungsmöglichkeiten , die dem
männlichen Kinde gewährleistet sind . Und wir wollen die gemein-
same Erziehung der Geschlechter . Durch die Trennung der Knaben
und Mädchen in der Schule wird von vornherein die Geschlechts-
unterschiedlichkeit scharf betont , wird darauf hingewiesen , daß dem
Knaben anderes – das heißt mehr gebühre , als dem Mädchen .
Und damit der Grund gelegt zu der Geringschätzung des Knaben
dem Mädchen gegenüber . Eine Geringschätzung , die konsequenter-
weise zur Verweigerung des Stimmrechts führen mußte .
Die kleinen Kindermenschen wissen von ihrem Geschlecht
nichts . Künstlich zieht man sie von Anfang an zur Unterschied-
lichkeit auf , suggeriert ihnen schon durch das Spielzeug die
Wesensart , die sie haben sollen . Dem Mädchen die Puppe , dem
Knaben die Soldaten .
Je unkultivierter ein Land ist , je radikaler wird die Trennung
der Geschlechter gehandhabt . Vor nicht allzulanger Zeit wurde
in den Straßen Konstantinopels ein junges Mädchen vom Pöbel
zerrissen , das gewagt hatte , in europäischer Kleidung auf offener
Straße mit einem männlichen Wesen – es war ihr Bruder –
zu sprechen .
Der Leiter der Wickersdorfer Schulgemeinde widmet der
Koedukation beredte Worte : „ Der Typus der Menschen ist weder
Mann noch Weib , sondern der Jnbegriff beider . Eine wahre
Menschenerziehung darf also nicht einseitig der männlichen oder
der weiblichen Natur angepaßt sein … Der Pädagoge soll
nicht mehr Knaben und Mädchen kennen , sondern junge
Menschen . … Nur das für beide Geschlechter Wertvolle ent-
spricht echtem Menschentum … Gibt es ein spezifisch männliches
oder weibliches Ziel , auf das hin dem Leben Richtung gegeben
werden soll ? … Schon in der Jugend sollen beide Geschlechter
nicht nur dieselbe Sprache sprechen und verstehen lernen , sondern
sie auch miteinander sprechen … Hier , wo sie einander in gleicher
Richtung streben und sich entwickeln sehen , sollen sie den großen
Glauben an ineinander finden , aus dem allein die Achtung vor
dem anderen Geschlecht entspringen kann … Hier in der Jugend ,
wo sie noch Menschen im edlen Sinne des Wortes sein dürfen ,
sollen sie auch einmal die Menschheit realisiert gesehen haben .
Dies große , unersetzliche Erlebnis zu gewähren , ist der eigentliche
Sinn der gemeinsamen Erziehung … . “
Das Mädchen auf ihren künftigen Beruf hin zu unterrichten ,
bedeutet einen Verzicht auf die Reform der weiblichen Erziehung …
Es wird die alte Jdentifizierung von Geschlecht und Beruf , die
jedenfalls eine Fortentwicklung des weiblichen Typus unmöglich
macht , verewigt ; es wird dem sozialen und intellektuellen Fort-
schritt Halt geboten zugunsten eines täglich fragwürdiger werdenden
Häuslichkeitsideals .
Der ernsteste Einwurf gegen die Koedukation geht von der
biologischen Seite des Weibes aus , von der Ansicht , daß durch
die Betonung des Geistigen seine biologische Seite verkümmern
müsse .
Neuerdings ist wieder von gelehrten Professoren ( gelegentlich
der Mädchenschuldebatten ) in Schriften und Vorträgen betont
worden , daß dem Weibe „ durch zu viel Wissen nicht nur die
Herzensbildung , auch die Unmittelbarkeit ihres Empfindens und
Urteilens verloren gehe . “ Einer der Professoren fügte sogar
spöttisch hinzu : „ Man wolle wohl die Natur des Weibes ortho-
pädisch korrigieren . “
„ Je mehr Wissen man den Mädchen aufpfropft , je dümmer
werden sie . “ Jm Reichstage fiel diese männerkluge Aeußerung .
So darf ich denn wohl – unstudiert wie ich bin – mit
der von Professors Gnaden mir verliehenen unverfälschten Un-
mittelbarkeit des Denkens und Urteilens die Frage der Mädchen-
bildung zu lösen versuchen . Sie ist für mich wie das Ei des
Columbus . Zwei Worte erledigen sie : Einheitsschule und
Koedukation .
Ohne den Gemeinschaftsunterricht würden auf lange Zeit
hinaus die Lehrkräfte und die Leiter der Mädchengymnasien hinter
denen der Knabengymnasien zurückstehen . Es gilt eben noch für
ehrenvoller Knaben zu unterrichten als Mädchen .
Die Konzentration sämtlicher Schulreformbestrebungen auf
die einheitlichen Bildungsanstalten – welch ungeheure Ersparnis
an Gehirn- und Finanzkräften für die Reformer .
Freilich unter dem Einfluß des Gemeinschaftsunterrichts ist
eine Dezimierung der Rüpel zu befürchten , möglicherweise zum
Leidwesen der Väter , die häufig die Rüpeleien ihrer Sprossen als
Vorboten starker Männlichkeit begrüßen .
Professor Gneist teilt in einer Broschüre über Koedukation
( aus den 70er Jahren ) die Resultate mit , wie sie ihm über die
Gemeinschaftsschulen und Universitäten von Nordamerika zu-
gegangen sind . Günstigere Resultate sind kaum denkbar . Die-
selben geistigen Fähigkeiten , dieselben Leistungen , dieselbe körper-
liche Gesundheit wurden bei beiden Geschlechtern konstatiert . …
Nicht weniger erfreuliche Ergebnisse weist die kürzlich in
Finnland eingeführte Koedukation auf .
Die Sorge , daß die höhere Jntelligenz der Knaben durch
das mindere Geistesgefüge der Mädchen gehemmt werde , ist durch
die amerikanischen Resultate als erledigt zu betrachten .
Hinfällig ist auch die Sorge um die bedrohte Sittlichkeit bei
der Koedukation . Nirgends in den betreffenden Schulen sind
sittliche Schäden zutage getreten . Erfahren die kameradschaftlichen
Beziehungen der Mädchen und Knaben ab und zu einen leicht
sinnlichen Einschlag – immer noch besser als die gegenstands-
losen , erotischen Abirrungen , die ja in der Pubertätszeit un-
vermeidlich scheinen .
Sicher läuft der jungen Seelen Keuschheit dabei weniger
Gefahr als bei den auf Küsse abzielenden Pfänderspielen , die in
meiner Jugend üblich waren , als bei den heimlich zugesteckten
Briefchen auf dem Heimweg von der Schule , bei den Tanz-
stunden , die damals – wie sie es wahrscheinlich noch heut
sind – der Boden waren für einen verfrühten , widerwärtigen
grünen Flirt .
Drollig , mit welcher Weisheit die Väter der Stadt einstmals
das Terrain für die Mädchenschule gewählt hatten , der ich meine
Unbildung verdanke ! Unmittelbar neben dieser Elisabethschule
befand sich die Knaben-Realschule , und gerade gegenüber das
Gymnasium : förmlich eine Aufforderung zu Tänzeleien der
erwachenden jungen Sinne .
Zur Ueberwachung respektive Ablenkung der Erotik in
Kinderschuhen will ich bei der Koedukation neben dem Direktor
eine Frau Direktorin .
Die zarte Körperlichkeit der Mädchen soll den Ansprüchen
eines Gymnasiums – besonders im Hinblick auf die Menstrua-
tionstage – nicht gewachsen sein .
Bei den vielen Gymnasiastinnen , die ich kenne , habe ich eine
Ueberanstrengung nicht wahrgenommen .
Gewiß , für unbegabte , kränkliche oder verträumte Kinder
bedeutet stets das Lernen eine Anstrengung , gleichviel ob es
Knaben oder Mädchen sind , ob eine Mädchenschule oder ein
Gymnsium Gymnasium sie damit belastet .
Und was die kritischen Tage betrifft ( bei gesunden Mädchen
ist eine Abweichung vom Normalbefinden kaum bemerkbar ) : wie
und wo werden sie denn auf anderen Arbeitsgebieten berücksichtigt ?
Eine allgemeine Schonung würde ohne eine völlige Umwälzung
aller sozialen Verhältnisse garnicht durchführbar sein , allein schon
deshalb nicht , weil die Mädchen sich nicht dazu verstehen würden ,
die Tage offiziell zu melden .
Jch weiß ein einfaches Mittel , den Gehirnüberbürdungen
der Kinder vorzubeugen . Man bemühe sich um gediegene Lehr-
kräfte . Ein Unterricht strengt um so weniger an , je anregender
und interessanter er ist . Nichts ist anstrengender , entnervender , als
Langeweile , als die erzwungene Konzentration auf einen Gegen-
stand , für den unser Jnteresse nicht geweckt wird .
Zuweilen scheint mir's , als ob der Knabe in den ent-
sprechenden Jahren schonungsbedürftiger wäre , als das Mädchen .
Die Pubertätszeit setzt oft schon mit dem 13. Jahre ein , und von
da an bis ungefähr zu seinem 18. Jahre ist sein seelisches und
körperliches Befinden selten normal , vielleicht reizbarer , nervöser
als das der Mädchen auf der Schwelle der Jungfrauschaft .
Jn der Unterrichts-Kommission des Abgeordnetenhauses
wurde kürzlich vorgebracht : „ Es zeige sich im allgemeinen bei
den Mädchen in den Jahren , die für den Besuch der höheren
Knabenschule in Betracht kommen , ein solch großer Eifer , daß
zu befürchten sei , die Knaben könnten zu übertriebenem Eifer
angespornt werden und sich unbehaglich fühlen “ . – Ach Gott ,
ja – sie tun mir ja auch herzlich leid , die armen zarten Jungen ,
des Lobes der strammen Mädchen , aber freue ich mich recht von
Herzen .
Nicht weniger originell ist der Gesichtspunkt eines anderen
Professors . „ Die Knaben “ – sagt er – „ fühlen sich durch die
sich rascher entwickelnden ehrgeizigen Mädchen in den Schatten
gestellt , werden gleichgültig und wenden all ihr ernstliches Streben
den körperlichen Kraftspielen zu “ ( Faule Bengels ! ) .
Wir haben in den höheren Schulen Deutschlands noch keine
Koedukation . Schon aber wirkt der gleiche Bildungsgang in den
Gymnasien verschwisternd auf die Kinder . Jch habe vielfach
Gelegenheit , den Verkehr dieser jungen Leute zu beobachten . Jch
bin überrascht und tief erfreut von der Art dieses Verkehrs , bei dem
Gemüts- und geistige Jnteressen ineinander wirken . Kein Ueber-
sehen , keine Geringschätzung mehr der Knaben den Mädchen
gegenüber , das „ mit den Mädels kann man nichts reden “ gibts
nicht mehr .
Knaben zwischen dem 14. und 18. Jahr sind fast immer
Dichter . Aber nicht den männlichen Schulgefährten – den
Mädchen lesen sie die Wickelkinder ihrer Muse vor .
Sie helfen sich wohl auch gegenseitig bei ihren mathema-
tischen und lateinischen Aufgaben , besprechen die Aufsatztemata ,
leihen sich gegenseitig ernste oder poetische Bücher und streiten
feurig über die Auffassung eines Schiller'schen oder Shakespeare '-
schen Helden .
Genug , die Knaben erkennen bei dem gemeinschaftlichen
Unterricht die geistige Gleichwertigkeit der Mädchen , bei den
Sports die gleiche Geschmeidigkeit und Ausdauer .
Alle anderen Vorschläge und Jdeen über die Reformierung
der Mädchenschulen verwerfe ich . Vor allem den Reformplan
des früheren Kultusministers Studt .
Die Durchführung seines Systems ( wohl zur Abschreckung
der weiblichen Gymnasialbildung erklügelt ) , würde die Universitäts-
reife der Mädchen um 2 Jahre hinter die der Jünglinge zurück-
schrauben . Eine Beugung der Gerechtigkeit ohne Gleichen .
Der Kultusminister a. D. verlangte , daß „ die reformierte
Mädchenschule sich darauf beschränke , auf religiös-sittlicher Grund-
lage – eine allgemeine Grundlage zu geben , die Mädchen zum
Leben in Gottes Wort zu erziehen , sie zu befähigen , durch ihren
Wandel und durch freudige Beteiligung am gottesdienstlichen
Leben der Gemeinde , sowie an christlichen Liebeswerken , die
ihnen im Leben zufallende besondere Aufgabe zu lösen . “ ( Wenn
diese Erziehungsregeln nichts mehr als Phrasen sind , lasse ich
mich hängen . )
Wollte der Herr Minister a. D. mit seinem Reformplan der
Koedukation einen Riegel vorschieben ? Höhere Knabenschulen
auf der Basis einer Gottseligkeit , die auf freudige Beteiligung am
gottesdienstlichen Leben der Gemeinde abzielt , wäre wohl kaum
durchführbar .
Als im Abgeordnetenhause über die Erweiterung der
Mädchenschulbildung verhandelt wurde , rief ein entrüsteter Herr :
„ Wir dürfen nicht Puppen erziehen , sonst geht das ganze
Gemütsleben unseres Volkes verloren . “
Zu meinem Erstaunen haben sich auch fortschrittlich gesinnte
Frauengruppen nur flau und lau ( wenn sie nicht gar zustimmten )
gegen jenen ministeriellen Erlaß zur Wehr gesetzt . Und doch ist
diese Frage für die Frauenwelt ( auch insbesondere für die Erziehung
zum Stimmrecht ) von fundamentaler Bedeutung .
Möglich , daß bei dieser Lauhheit eine Opportunitäts-Politik
mitwirkte , eine Taktik , die sich der Gewährungssprödigkeit der
maßgebenden Behörde anpaßte .
Vielleicht auch beruhte die Bescheidenheit der Frauen auf
einem Gefühl der Dankbarkeit . Dankbar für das bereits Erreichte .
Und in der Tat , wenn ich an meine Jugend zurückdenke ,
stehe ich erstaunt , entzückt vor den Errungenschaften der letzten
fünfzig Jahre .
Wehe über das Schulkind meiner Zeit ! Noch vor 50 oder
60 Jahren galt das Stillverhalten – äußeres und inneres –
des weiblichen Kindes als etwas von der Natur Gewolltes . Als
ob so ein armer Wurm seine Verfehlung , nicht als Knabe ge-
boren worden zu sein , absitzen müßte .
Jn den Freistunden Strümpfe stricken und sie stopfen ! Je
mehr Touren in einer bestimmten Zeit herumgestrickt wurden , je
braver war das Kind ( erinnert an Aschenputtels Erbsenlesen ) .
Was für eine große Rolle die Strümpfe damals spielten ! Noch
war die Strickmaschine nicht Allgemeingut , noch hatte kein Kneipp
die Barfüßigkeit – wenn auch nur zeitweise – entsündigt .
Ein Schlittern , etwa auf dem Rinnstein , war ein Bubenstreich .
Selbst der Schneeball mußte verstohlen , mit bösem Gewissen ,
von Mädchenhänden geworfen werden .
Mit unaussprechlicher Bitterkeit denke ich an jene Zeit
physischer und geistiger Hemmungen zurück , die jedes begabtere
weibliche Geschöpf , das geboren wurde , ein ganzer Mensch zu
werden , zu einem automatenhaften Gebilde verkrümmten , zer-
mürbten .
Nur wer dieses Zeitalter als ein Schicksal erlebt hat , weiß
von seiner Tragik .
Die Sports .
Zu der Erziehung zum Stimmrecht – das heißt zu einem
reifen , vollwertigen Menschen – gehört auch die Entwicklung
von Körperkraft und Gesundheit .
Eine Kraft- und Gesundheitsquelle sind die Sports . Das
weibliche Geschlecht bedarf ihrer vielleicht noch mehr als das
männliche . Sie sind die frischfröhlichen Sieger über Nerven ,
Hysterie , Unnatur , Verweichlichung . Ein Leben ohne Gesundheit
ist wie eine Scheide ohne Klinge .
Die Sports setzen Schmerbäuche und Wespentaillen auf den
Aussterbeetat . Sport und Hygiene begegnen sich . Die Hygiene
weist die anatomischen Mißbildungen infolge des Korsets nach .
Die Sports lassen die Geschnürtheit , die Lunge und Herz beengt ,
nicht zu . Das Reformkleid ist ein Kind des Sports und der Hygiene .
Selbstverständlich werden Frauen nicht boxen und Ringkämpfe
ausführen .
Und die Jagd ? Jch denke , daß sie dieses blutlüsterne feudale
Amüsement gern den Männern überlassen werden .
Täusche ich mich , oder werden die Frauen seit Einführung
des Sports nicht allmählich größer ? Walküren am Ende ?
Es ist dafür gesorgt , daß die Bäume – und die Frauen –
nicht in den Himmel wachsen . Die Natur liebt goldene Mittelstraßen .
Die Sports werden gemeinschaftlich von der weiblichen und
männlichen Jugend ausgeführt . Die Kameradschaft , welche die
Koedukation anbahnte , findet dabei ihre Fortsetzung . Bei den
Ausflügen , in dem freieren Verkehr , belebt durch den Ozon der
Luft , lernen sich die jungen Leute ganz anders kennen , als in den
parfümierten Räumen des Salons . Kameradschaft , Freundschaft
zwischen Mann und Weib ist eine neue , hell- und weitklingende
Note in der modernen Kulturwelt .
Nicht zu übersehen ist das ästhetische Element des Sports .
Gesundheit und Schönheit ( zu der man die Frauen ja ver-
pflichtet ) sind verschwistert .
Die entwickelte Geschmeidigkeit der Glieder wird sich in der
Anmut der Bewegungen ausdrücken .
Auch der Tanz , wie er seit einigen Jahren Eingang ge-
funden hat , gehört ins Gebiet der leichten Sports . Körper-
übungen , welche die Mitte halten zwischen Tanz und Turnen .
Unähnlich dem monotonen , ungezügelten Schwenken und Wirbeln
der Rundtänze auf den Bällen , die einer harmlosen ( harmlos in
der Regel ) Sinnenlust dienen , führen diese neuen Tänze ein
geistiges Element in den Tanz ein . Jhr melodisches Schreiten ,
ihr rhytmisches Schwingen hat eine Sprache und eine Seele . Sie
haben sich darauf besonnen , daß auch Terpsichore eine Göttin ist .
Jch habe bei jungen Mädchen wundervolle Resultate dieser
Tanzübungen gesehen .
Eine ästhetische Wirkung der Sports ist die Freude . Reine
Daseinsfreude . Lust , Freude , die aus reinen Quellen fließen ,
wirken ästhetisierend und ethisierend .
Von der Aesthetik zur Ethik führt eine Brücke . Unverkennbar
ist auch der ethische Einfluß des Sports . Mut und Entschlossen-
heit , Geistesgegenwart , Willenskraft entwickeln sie . Oder – sind
diese Eigenschaften zu männlich für die Frau ?
Sicherlich aber sind sie für diejenigen Frauen , die in die
Oeffentlichkeit hinaus wirken wollen , unentbehrlich .
Weibliches Studententum .
Unentbehrlich auch für des Weibes zukünftige Stellung in
der Gesellschaft ist ihre Eroberung der Universität .
Willkommen – viel willkommen sei uns die Studentin .
Wissen , Erkenntnisse sind die vornehmsten Faktoren in der Er-
ziehung zum Stimmrecht . Die freien Vorträge , wie sie besonders
in der freien Studentenschaft üblich sind – die Diskussionen , die
rhetorische Begabungen erwecken und entwickeln , sie bilden recht
eigentlich eine Vorschule für parlamentarische Tätigkeit .
Aus den Reihen der akademisch gebildeten Frauen werden
uns vielleicht die ersten Volksvertreterinnen erstehen .
Die Kameradschaft zwischen Knaben und Mädchen , die ein
gleicher Bildungsgang in den Schulen anbahnte , sie ist zwischen
Jünglingen und Jungfrauen auf der Universität , in Ateliers und
Werkstätten zu lebendiger Wirklichkeit geworden .
Hier wird unter anderm dem weiblichen Geschlecht die Auf-
gabe zufallen , die noch immer zu rauhen Universitätssitten ein
wenig zu glätten , dem niederziehenden Einfluß , der oft genug dem
Studententum mit seinen Paukereien , Kneipereien Korpsgebräuchen
( wenn ich auch einige Vorzüge des Korpswesens nicht verkenne ,
seine Schattenseiten aber überwiegen ) seinem Dirnenkultus anhaftet ,
entgegen zu wirken .
Wie muß das männliche Geschlecht seine Begriffe vom Weibe
korrigieren , wenn der Jüngling auf der Universität das Mädchen ,
das bis dahin für ihn nur eine Mitliebende war , als eine Mit-
denkende , Mitstrebende , Mitarbeitende kennen lernt .
Und das studierende junge Mädchen ? Man befrage sie um
die Eindrücke ihrer Universitätszeit .
Sie wird einen Hymnus singen , denn in einem Rausch lebt
sie , der zugleich idealistisch und sinnlich ist . Jdealistisch , in der
stolzen geläuterten Freude Mitschaffende zu sein an ewigen Werten .
Jdealistisch , weil der Glaube dieser weiblichen Jugend an die
Wissenschaft eine Art Religion ist . Es ist der Glaube an einen
Himmel , der intime geistige Entzückungen erschließt .
Eine Sinnenfreude aber ist das Schwelgen in den Gefühlen
der jungen Freiheit , des Sichselbstgehörens , der sympatischen Be-
ziehungen zu den Jünglingen .
Es ist , als wollte die Studentin alle Lebensinhalte , die den
früheren Frauengenerationen vorenthalten wurden , konzentriert in
sich aufnehmen . Jch habe nie beglücktere weibliche Geschöpfe
gesehen , als unter den studierenden Jungfrauen .
Und in dem wetteifernden Arbeiten und Streben mit den
Studenten , wandeln sich allmählich ihre Gewohnheiten und Sitten ,
mag immerhin dabei eine gewisse Absichtlichkeit in der Betonung
ihrer neuen jungen Würde , die Drolligkeiten nicht ausschließt ,
mitunterlaufen .
Elegante Kostüme , Toilettenfirlefanz sind gewesen . Einfaches
Wollenkleid . Kurzer Rock . Lodenmantel . Unbewimpeltes Stroh-
oder Filzhütchen . Keine Handschuhe . Keusche Menüs bis zur
vegetarischen Studentenkneipe herunter . Tüchtige Märsche an
freien Tagen .
Jn der Tat – schön ist ihr feuriger Wille zur Erkenntnis ,
zur Eigenkraft . Und bis jetzt nicht das leiseste Sympton einer
Abirrung in wüste Studenterei .
Der Studierenden ist das Studententum ein Tempel , der nur
Eingeweihten sich öffnet . Die ganze übrige Welt hat draußen zu bleiben .
Ganz entzückend sind die leidenschaftlichen , wissenschaftlichen
Dispute dieser intelligenzsüchtigen Jugend . Unmenschlich , was sie
zusammenphilosophiert , immer gleich hinauf bis zum Ur – Ur-Jch ,
überhaupt zu irgend einem „ Ur “ .
Dieser weiblichen Jugend erblüht vielleicht in dem Wissens-
durst , der durch keinen Bierdurst gehemmt wird , eine reichere Ernte
als ihren männlichen Kommilitonen , es sei denn , daß die weib-
liche Einwirkung , gleich wie das Oel wildes Gewoge sänftigt ,
ihnen die Ausschweifung in Bier Erotik verekle .
Noch immer verhält sich die Majorität der Professoren dem
weiblichen Studium gegenüber ablehnend .
So der vielgerühmte Geheimrat und Professor Münch . Er
gibt „ in freier und verkürzter Weise “ die ihn „ erfreuenden “ Ge-
danken des Amerikaners Sachs wieder : „ Eine unerfreuliche Er-
fahrung ist es , daß von den Studienfächern , denen die weibliche
Jugend sich zuzuwenden pflegt , die jungen Männer sich allmählich
grundsätzlich zurückziehen . “
O , da gibts Abhilfe . Man garantiere den Frauen die Staats-
ämter , zu denen ihre Studien sie berechtigen , stelle sie als Richter ,
Prediger , Professoren , Verwaltungsbeamte an . Und diese emsigen
Streberinnen werden sich totsicher über sämtliche vorhandenen
Studienfächer verbreiten . Ob die Jünglinge dann auf ewig vor
der Studentin , der männerschreckenden Vogelscheuche auf dem Feld
der Wissenschaft davonlaufen , die Universitäten meiden werden ?
Die Medizin ist ein Vorzugsstudium der Frauen . Das Aus-
sterben der männlichen Aerzte hat aber in Europa noch nicht platz-
gegriffen .
Daß zwischen den gemeinsam Studierenden neben – oder
vielmehr mit der kameradschaftlichen Intimität und Freundschaft
die Liebe zu ihrem Recht kommt , ist durchaus menschlich . Allzu-
menschlich sagt vielleicht der Regorist .
Jndessen , Verführungen , Zuchtlosigkeiten zwischen ihnen sind
nahezu ausgeschlossen . Die wissenden Mädchen fühlen sich ver-
antwortlich für ihre Handlungen .
Oft genug im Leben bleiben Liebende sich innerlich fremd .
Hastige Verliebtheiten nur . Bei dem gemeinsamen Streben und
Studieren aber , dem täglichen freien Verkehr auf der Universität
entwickeln sich geistig – seelische Intimitäten . Und in diesem
aneinander- und miteinander-Wachsen lernen sich die jungen Leute
ganz allmählich lieben . Und da geschieht es nicht selten – zum
Staunen der Welt – daß äußerlich reizlose , ja häßliche Mädchen
recht von Herzen geliebt werden ; denn hier wurde die Wurzel der
Liebe tief in fruchtbares Erdreich gesenkt .
Aber ach – nun dürfen die lieben jungen Menschen nur
platonisch fühlen , wenn nicht das Standesamt sofort zuspringt .
So muß diese herrliche Zeit brausender , idealistischer Jugend-
lichkeit vollerblühter Seelen- und Körperkräfte dahingehen –
ohne Erben .
Ein uralter , urweiser Herr – Zoroaster – hat schon gesagt ,
„ daß alle Menschen zum Heiraten verpflichtet sind , sobald sie reif
dazu sind . “
Die Gesellschaft teilt diese Meinung nicht .
Die Mütter haben inbetreff ihrer erwachsenen Kinder immer
zweierlei Sorgen : daß sich die Tochter möglichst früh ( je jünger ,
je größer sind ihre Chancen für eine gute Partie ) , der Sohn mög-
lichst spät verheirate , es sei denn , daß schon dem Jüngling , ehe
er in Amt und Würden sitzt , ein Goldfischchen zuschwimmt .
Sittlichkeitsfragen pflegen bei den Eltern – dem Sohne
gegenüber – nicht aufzutauchen . Vielleicht wissen sie , daß er
temperamentvoll , stark erotisch veranlagt ist . Sie fragen nicht
nach , ob und wo er Befriedigung für seinen Liebesdrang sucht .
Sie wollen es nicht wissen . Möglicherweise auch scheint es ihnen
in der Ordnung , daß er sich vor der Ehe die Hörner – irgend-
wo – abläuft .
Und doch verschließt sich niemand der Erkenntnis , daß die
Prostitution einer der dunkelsten Punkte in der Geschichte der
Menschheit ist , ein Kainszeichen , das das Antlitz der Welt so
entstellt , verzerrt , daß vor seinem Medusenblick das Herz erschaudere .
Zu einer Entvölkerung der Hörselberg-Souterrains dürften die
frühen Heiraten – wenn auch kein Allheilmittel , so doch immer-
hin ein Heilmittel sein .
Jch weiß , ich weiß – die heutigen Gesellschaftsverhältnisse
in den höheren Ständen gestatten frühe Heiraten nicht . „ Am
Golde hängt doch alles . “
Jch möchte aber , daß man sich dieser Ehebeschränkung als
eines sozialen Uebelstandes bewußt werde .
Jndessen – auch abgesehen vom Geldpunkt , mißbilligt man
die Jünglingsheiraten . Der Zwanzigjährige hätte die Reife für
eine richtige Auswahl nicht . ( Wie ? und das zwanzigjährige ,
ihm geistig untergeordnete Mädchen hat sie ? ) Wann ist denn das
männliche Geschlecht reif zur Ehe ?
Ach Gott , die reifsten Männer ( einschließlich der alten ) werden
in Liebesfragen niemals reif ; wählen nach Gottes unerforsch-
lichem Ratschluß – wie sich 's grade trifft .
Amor trägt eine Binde , das weibliche Studententum dürfte
berufen sein , sie ein wenig zu lockern . Der Ehe zum Heil .
Ehe und Stimmrecht .
Ja , der Ehe zum Heil . Die Hebung des Eheniveaus scheint
mir unerläßlich für das vollwertige Menschentum der Frau .
An anderer Stelle habe ich ausführlich dargetan , daß eine
edlere Gestaltung der Ehe nur auf Grund der wirtschaftlichen
Unabhängigkeit der Frau zu erwarten sei . Die unabhängige Frau
kann des unlauteren Ehemotivs der Versorgung , das den größe-
ren Teil der Eheschließungen verschuldet , entraten .
Da Nietzsches Wort nicht wie das Wort Gottes ist , das man
nicht mißbrauchen soll , so sei hier der abgegriffenste seiner Sprüche
zitiert : „ Nicht nur fort sollst du dich pflanzen , sondern hinauf ,
dazu helfe dir der Garten der Ehe . “
Die Ehe soll zween Herren dienen : dem Glück und der Höher-
entwickelung der Jndividuen und zugleich dem allgemeinen Wohl .
Die Form zu finden , die beide Zwecke in sich vereinigt , ist
das leidenschaftliche Suchen der modernen Welt .
Kein ehernes Gesetz der Unwandelbarkeit gibt es . Sterne
können ihren Lauf verändern . Der ganze kleine Erdball samt der
Menschheit kann in den Orkus sinken ( falls der nicht mit ver-
sinken sollte ) . Zwischen Evolution und Revolution pendeln alle
Geschehnisse der großen und der kleinen Welt .
Zur kleinen Welt gehört die Ehe . Die Ehe , eine Jnstitution ,
die einmal nicht war , die jetzt ist , und die möglicherweise einst
nicht mehr sein wird . Je nach Zeit und Völkerschaft wechselt
sie ihren Charakter . Sie weist auch in demselben Zeitalter in den
verschiedenen Ländern fundamentale Verschiedenheiten auf . Jn
jeder Geschichte der Ehe ist es nachzulesen .
Jch erinnere mich nicht , in welchem ernsten Buch ich kürzlich
las , daß die Ehe heutzutage entheiligt ist und unfruchtbar ge-
worden , weil man sie von ihrer Höhe herabgezogen hat .
Jch staune . Von ihrer Höhe ? Wann stand sie auf der Höhe ?
Möglicherweise bei jenen halb- oder ganz wilden Völker-
schaften , die den Ehebruch mit martervoller Tötung straften , wie
es noch heut bei dem Negerstamm der Kaka geschieht , ein Stamm ,
der noch auf öffentlichen Märkten Menschenfleisch ausbietet .
Gerade also da , wo eine sittliche Grundlage der Ehe , oder
eine gegenseitige Neigung ausgeschlossen war , wurde die Ehe
einem heiligen Fetisch gleich gewertet .
Wo sonst stand sie aus der Höhe ?
Jede beliebige Kulturgeschichte gibt Aufschluß darüber , die
Bibel nicht ausgenommen ( man denke an Sodom und Gomorha ) .
War sie im klassischen Altertum auf der Höhe ? etwa in
Griechenland , wo der edle Athener ein Weib nahm , um sein
Geschlecht fortzupflanzen , welches Weib er dann lebenslänglich
ins Frauengemach sperrte , während er im Hetärentum Leib und
Seele erfrischte ?
Oder in Rom , wo der Typus der Messalinen so herrlich
gedieh ? Oder im Mittelalter , wo das Weib unweigerlich aus
der Hand des Vaters oder des Bruders den Gatten empfing ?
kein Widerspruch stand ihr zu , mochte der ihr zugemutete Liebes-
gefährte auch ein Greis oder ein Scheusal sein .
Oder zur Zeit der Renaissance ? wo das Cicisbeotum blühte ,
und die verheiratete Frau sich schämte , wenn sie auf Liebhaber-
losigkeit ertappt wurde .
Und die Zeit des Herrenrechts ?
Jm 13ten und 14ten Jahrhundert soll es förmlich ein Sport
vornehmer verheirateter Frauen gewesen sein , ihre Buhlgelüste in
den Bordellen zu befriedigen . Nonnenklöster galten lange Zeit
hindurch für Hochschulen der Liebeskünste .
Berühmte Schriftsteller und Maler sind Jnterpreten einer
delirierenden Erotik geworden ( siehe Aretin , Boccaccio , Rops ,
Viertz usw . )
Neben den unlöslichen Ehen hat es Zeitehen und Probe-
ehen gegeben . Meines Wissens nach ist in einigen Gegenden
unter dem Landvolk die Probeehe heute noch üblich .
Die Kulturgeschichte bezeugt , daß nicht nur Zuchtlosigkeit ,
daß auch herzzerreißender Jammer von jeher , zu allen Zeiten und
unter allen Völkern eine Begleiterscheinung der Ehe gewesen ist .
Und immer und immer hat die starre Unwiderruflichkeit der
Ehe antiken und modernen Dichtern – von Sophokles bis zu
den französischen Ehebruchsdramen – den Stoff für ihre Tra-
gödien geliefert .
Die unabweisbare Schlußfolgerung ist , daß die rechte Form
für das Sexualleben „ von Mann und Weib noch nicht gefunden
wurde . “
Jch wiederhole : auf der Unabhängigkeit der Frau beruht eine durch-
greifende Reformierung und eine würdigere Gestaltung der Ehe .
Die unglücklich verheiratete Frau , die wirtschaftlich selbständig
ist , braucht nicht mehr als die Sklavin eines unentrinnbaren Schicksals
in einer Ehe zu bleiben , die einem Hospital für Jncurable gleicht .
Einen verhängnisvollen Jrrtum ( in diesem Fall die Eheschließung )
zu widerrufen , ist ein Gebot der Ehre und der Moral .
Für die abhängige Frau freilich wird selbst die traurigste
Verbindung zu einer unsittlichen Notwendigkeit . Denn existenzlos
ist sie außerhalb der Ehe . Angewiesen auf das Almosen der
Gesellschaft .
Oder meint man : auch in einer unglücklichen Ehe auszu-
harren , seine subjektiven Gefühle zu beherrschen , wäre ein Gebot
der Pflicht , der hohen Pflicht im Dienst einer Jdee , der Jdee der
Ehe ? Wie der Soldat im Krieg für die Jdee des Vaterlandes
stirbt , auch wenn ihm der Krieg verhaßt ist .
Leib und Seele opfern für die Menschheit , das tut ein Gott .
Wir armen Allzusterblichen lassen uns ungern an ein Kreuz –
wenn auch nur ein symbolisches – schlagen .
Mir scheint , noch niemals hat es eine Zeit gegeben , so er-
füllt von der Sehnsucht nach einer Versittlichung , einer Jdeali-
sierung der Ehe wie die gegenwärtige .
Dieser tiefen Sehnsucht Weckerin und ihr Sprachrohr ist die
Frauenbewegung geworden . Erfüllung kann oder wird ihr erst
werden , wenn der Frau , als der Mitwirkenden an der Gesetz-
gebung , die Entscheidung über Ehefragen zufällt .
Das Stimmrecht der Frau .
Das Zentrum aller sozialen Rechte , von dem alle anderen
ausstrahlen , ist das Stimmrecht .
Jn einer Zeit , als die Forderung des Stimmrechts für
so absurd galt , als glaube man an eine Spazierfahrt auf den
Mond , trat bereits in England der Premierminister Disraeli für
die politischen Rechte der Frauen ein .
Und noch immer ist dieses Recht nicht zeitgemäß ? Noch
immer spricht man der Frau die Fähigkeit ab , es auszuüben ?
Ein Forscher fand in einer dunklen Höhle kleine Tiere , die
infolge ihres andauernden Aufenthaltes in der Finsternis blind
geworden waren .
Jahrtausende habt ihr Frauen in Finsternis gelebt . Kein
Wunder wär's , wenn eure geistigen Augen erblindet , euer Wille
erstorben wäre .
Allein – ein Halberstickter kann durch die Zuführung von
Sauerstoff dem Leben zurückgegeben werden .
Nur scheinblind wart ihr , liebe Frauen . Allmählich haben eure
Augen sich geöffnet . Und ihr habt die Geschichte der Zivilisation ,
die Geschichte der Frauen gelesen . Und euer Herz erbebte in
ungeheurem Mitleid , euer Blut schäumte auf in Scham und Zorn .
Schaurigen Tragödien gleich grinsten euch des Weibes Geschicke an .
Nicht wahr ? Nicht wahr ?
Dem despotischen Willen des Vaters , Gatten oder Bruders
ausgeliefert , brach man ihr Herz , vergewaltigte ihren Leib , be-
beraubte raubte sie des Erbes . Man peitschte sie , tötete sie ungestraft ,
wenn es im Zorn geschah . Der Vater oder der Bruder durfte
sie zu seinem Vorteile verkaufen , mochte der legitime Käufer auch
ein Scheusal sein . Jm indischen Gesetzbuch heißt es : „ Sollte ein
Ehemann auch keine guten Eigenschaften haben , so muß ein
tugendhaftes Weib ihn doch immer als einen Gott verehren . “
Jn einem ostasiatischen Reich entleibten sich viele Krieger ,
die , als Besiegte aus der Schlacht heimgekehrt – in weiblicher
Kleidung weibliche Arbeit verrichten sollten .
Keinen Himmel gab 's für die Frauen . Sie hatten keine
Seele . Nimmer kamen sie ins Paradies .
Mit einem Wort : man entmenschte sie !
Das war ! das war ! Verjährt ! verjährt !
Nicht ganz . Auch heute noch hat die Frau kein Recht an
ihrem eigenen Vermögen , ( wenn ein Ehekontrakt nicht vorgebeugt
hat ) keine Bestimmung über ihre Kinder . Sie fällt dem Vater
zu , trotz der neuesten so allgemeinen und allgemein beliebten Mode ,
die das Weib als Mutter verheiligt , es zur Madonna stempelt .
( Zur Förderung der Madonnenhaftigkeit stößt man ihr wahr-
scheinlich ein paar Schwerter in die Brust ) . Laßt euch von dem
angeblichen Heiligenschein nicht blenden , liebe Schwestern . Er ist
ein Vexierbild . Schaut recht hin , und der Dornenkranz erscheint .
Die Frau trägt die Schmach des unehelichen Kindes und die
Last seiner Versorgung . Nach der Schuld des Vaters kräht kein
Hahn .
Jn gewissen Fällen steht auch heut noch dem Mann die
Entscheidung über Leben und Tod seiner Frau zu . Der Gynä-
kologe Olshausen teilt einen solchen Fall mit : „ Jch behandelte
einst eine Frau , welche an ihrer Krankheit mit absoluter Sicher-
heit zugrunde gehen mußte , wenn sie nicht operiert wurde . Auf
den Vorschlag der Operation ging sie freudig ein , überließ es
aber mir , die Zustimmung ihres Gatten zu erlangen . Dieser aber
verweigerte die Erlaubnis . So mußte ich schweren Herzens von
der Operation absehen . “
Ja man spricht dem Weibe auch heute noch schlankweg das
Menschentum ab . Schrieb nicht erst kürzlich Sombart , – ein
vielgenannter und gerühmter Nationalökonom , – „ Alles , was
wir an Erfahrungen über die notwendigsten Voraussetzungen
einer sich physiologisch normal entwickelnden Rasse wissen , ist ,
daß in dem Rahmen einer solchen Entwicklung für das Menschen-
tum der Frau kein Platz ist … Das Beweismaterial für die
Richtigkeit dieser Auffassung entnehmen wir dem Schicksal aller
bisherigen Kulturnationen , die gerade daran zugrunde gegangen
sind , weil ihre Frauen Menschen wurden . “ …
Und schrieb nicht vor wenigen Wochen erst jener geistesbe-
gabte , temperamentvolle Sanatoriumsarzt , daß die Frau nur „ eine
vorübergehende Erscheinung “ sei und nur um ihrer Frucht willen
wertvoll .
Da seht ihr's , liebe Frauen ! Nicht muß es heißen : Es
war ! Nein : Es ist !
Und warum ist es ? ist es noch immer ? Sehr einfach . Die
Gesetze sind gegen die Frau , weil ohne sie .
Wer die Macht hat , hat die Neigung sie schrankenlos aus-
zuüben . Nicht an dem Recht des andern , sondern an der tapferen
Gegenwehr des Rechtlosen findet der despotische Willen des Macht-
inhabers eine Grenze .
Wahrlich , die Juden hatten Recht , wenn sie in einem Ab-
schnitt ihrer Gebete Jehova dankten , daß er sie nicht zu Weibern
schuf .
Las ich doch in dem Buche eines Gelehrten , daß die Frauen
deshalb besser , resignierter stürben als die Männer , weil sie mit
dem Leben nicht viel Freuden aufzugeben hätten .
Früher wurde die Geringschätzung der Frau offen
an den Tag gelegt .
O , unsere Herren und Gebieter sind höflicher geworden .
Jetzt sind wir nicht mehr minderwertig , nur anderswertig
als der Mann . Aus dem Mund selbst orthodoxer Antifeministen
wird uns diese tröstliche Versicherung .
Seltsam – seltsam , die Auslegung dieser Anderswertigkeit !
Zwar Tribüne , Kanzel , Dozententum , alle höheren Staats-
stellungen sind euch Frauen verschlossen . Zwar schauderten auf dem
Lehrerkongreß des vorigen Jahres die Herren Lehrer vor der
Möglichkeit , einer Frau Direktorin untergeben zu sein ; dieselben
Herren , die vor den dümmsten Mannspersonen , wenn es zufällig
ihre Vorgesetzten sind , sich bücken , sich bücken müssen .
Zwar in der Schulverwaltung weigert man euch noch immer
Sitz und Stimme , ( die Kindererziehung soll doch die von Gott
dem Weibe zugewiesene Mission sein , ) sagt man nicht so ?
Als Grund der Ablehnung wurde in einer öffentlichen Be-
ratung angeführt : „ Es könnte eine extreme Frauenrechtlerin ge-
wählt werden . “
Die hohen Herren fürchten wohl , daß diese ominösen Weibs-
leute einen Kursus für freie Liebe oder eine Propaganda für das
Zölibat ins Werk setzen werden ? Je nachdem es in ihren Kram
paßt , beschuldigen sie die Frauenrechtlerinnen des einen oder des
anderen Frevels .
Zwar – in der Armen- und Waisenpflege ( die Linderung
menschlichen Elends – soll sie nicht auch des Weibes eigentlichster
Beruf sein ? ) haben die zuständigen Behörden erst nach langem ,
zähen Widerstreben euch eine unwesentliche Mitwirkung eingeräumt .
Jedoch – nicht minderwertig , nur anderswertig seid ihr als
der Mann .
Uebrigens – es scheint , daß der Mann die Abhängigkeit
von einer Frau nur dann als Demütigung empfindet , wenn sie
einen offiziellen Charakter trägt , an seine Eitelkeit rührt . Jm
Hause fühlt er sich keineswegs gedemütigt , wenn seine Frau das
Szepter führt oder wenn er von ihrem Gelde lebt . Jn der Liebe
tanzt er gern nach ihrer Pfeife .
Allein , sollte der Frau nicht für jene zweifellosen Benach-
teiligungen ein Aequivalent geboten werden durch Bevorzugungen ,
die sie ihrer Anderswertigkeit verdankt und von denen Männer
ausgeschlossen sind ?
Jst sie nicht Herrin in der Kinderstube , in der Küche , in
allen Haushaltungsangelegenheiten ?
Jn der Kinderstube ? Der Vater hat ja die Bestimmung
über das Kind . Jch weiß nicht , ob die gesetzliche Verordnung
noch besteht , die den Vater ermächtigte zu bestimmen , wie lange
die Mutter dem Kinde die Brust zu reichen habe .
Herrin in der Küche ? Der Geschmack des Mannes waltet
über den Kochtöpfen . Die Frage wurde aufgeworfen , wie macht
man den Mann in der Ehe glücklich ? Eine Schriftstellerin ( muß
eine rohe Person gewesen sein ) antwortete : „ Man füttere die Bestie . “
Herrin des Haushalts ? Sie muß ihn nach dem Wirtschafts-
geld einrichten , das der Mann ihr bewilligt .
Lacht nur , lacht , meine Schwestern , über eure so wenig ein-
trägliche Anderswertigkeit .
Eine so durchsichtige Lüge , als wollte man dem Armen
einreden , sein trockenes Brot und sein Fusel wären vollwertig dem
Fasan und dem Champagner des Reichen , wenn auch anderswertig .
Es gibt keine Argumente gegen das Frauenstimmrecht als
solche , die aus subjektiven Gefühlen , angezüchteten Vorstellungen
oder aus männischem Hoheitsdünkel stammen .
Jm Mittelalter hat man von physischen Besonderheiten auf
moralische Beschaffenheiten geschlossen . Frauen , die Zwillinge
gebaren , wurden als Ehebrecherinnen zum Tode verurteilt . Rot-
geränderte Augen waren Hexenzeichen . Wer unter dem Sternbild
des großen Hundes geboren wurde , war ein verruchter Mensch .
Dieselbe Grundvorstellung ist es , die dem Weibe um ihrer
Frauenart willen die politischen Rechte weigert . Wilder Aber-
glauben – der Wechselbalg des Glaubens – damals und jetzt .
Nie kann die Ausschließung der Frau vom politischen Leben
verstandesmäßig begriffen werden .
Die Gegner der Frauenbewegung aber dekretieren ein für
allemal : Die Politik ist Mannessache , Manneswerk . Die Un-
weiblichkeit politischen Tuns wird aufs strengste verurteilt .
Mein Gott , die Unweiblichkeit stellt sich immer da ein , wo das
Weib über die Grenze , die der Mann ihr gezogen , hinaus will .
Als ob er die Urschrift der Natur gelesen und entziffert hätte !
Nicht Finder – Erfinder ist er von Naturgesetzen .
Eheliche und politische Jnteressen sind unvereinbar !
Jn einer Ehe freilich , wo Er der Herr ist , dem sie Gehorsam
schuldet , dürfte eine politische Betätigung der Gattin als Erisapfel
selbst die schönste Ehe entstellen . Das sind die Ehen , wo das
falsche Rechenexempel : 19 und 1 = 1 , gültig ist .
Jn einer Ehe aber zwischen Gleichberechtigten , wo zwei –
zwei bleiben , würden voraussichtlich politische Meinungsdiffe-
renzen ebenso wenig wie literarische , pädagogische oder religiöse
die Ehe mit Krieg überziehen .
Nietzsche ist der Ansicht , daß ein Atheist nur eine fromme
Frau brauchen kann , warum sollten nicht ein Konservativer und
eine Sozialdemokratin ( oder – sage ich mildernd eine Revisionistin ? )
in Glück und Frieden selbander ihre Liebesstraße ziehen .
Ohne Sorge seid – ihr eifrigen Freunde der Hausfrau .
Nicht alle Frauen werden politisch sich betätigen , denn verschieden
von einander schuf Gott die Menschen – Männer wie Frauen .
Treffliche , kluge Frauen gibt es , deren ganzer Lebensinhalt
Mann , Kind und Haushalt ist .
Gott segne sie !
Und treffliche , kluge Frauen gibt es , die allen hauswirt-
schaftlichen Jnteressen abhold , in künstlerischen , wissenschaftlichen
oder irgend welchen anderen geistigen Betätigungen ihres Wesens
Ausdruck suchen und finden , unbeschadet ihrer Liebe für Mann
und Kind . Gott segne auch sie !
Und drittens , kann es kluge und treffliche Frauen geben , die
ihre Natur zum Zölibat bestimmte . Sexuell wertlos , können sie
als Mensch von höchstem Wert sein , vielleicht fruchtbarer für die
Allgemeinheit als eine Frau , die zwölf Kinder zur Welt bringt .
Gott segne auch diese jungfräulichen Frauen !
Jede kultivierte Frau hat Recht , die ihrer Seele den Willen tut .
Eine politische Frau ! Dem Manne graust's . Wehe ! Die
Frauen wollen Männer werden . Eingeschworen auf diesen Satz
ist jeder Antifeminist . So erbt ein Unsinn sich von einem Nicht-
denker zum andern fort .
Man verwechselt immer Männer und Menschen und verlangt
von der Frau nichts geringeres als Selbstentmenschung .
O gewiß , ja , ganze , volle Menschen wollen wir sein , und
haben wollen wir alles , was des Menschen ist : Brot und Bildung ,
Arbeit und Freude . Alle sonstigen Mannesattribute – von seiner
eminenten Logik bis zu seiner Glatze herunter – lassen wir gern
unangetastet .
Der Wille Gottes wird gegen das Frauenstimmrecht mobil
gemacht . Jch meine , dieser allzu menschliche Gott läßt mit sich
reden , Hält er es nicht stets mit den Erfolgreichen ? Spricht
nicht der siegreiche Herrscher : Gott hat mir den Sieg verliehen ,
mir den Feind zermalmt ?
Und wenn die nächste Schlacht der Feind gewinnt , so war es
wiederum Gott , der es also fügte . Auch der Zentrumsmann , der
aus dem Wahlkampf als Sieger hervorgeht , schiebt dieses –
Freidenkern so unwillkommene Resultat – dem lieben Gott in
die Schuhe . Ein Gott fürwahr , der nicht immer seiner eigenen
Meinung ist , sie sich vielmehr von einer diesseitigen Kamarilla
ins Jenseits hinauf insinuieren läßt .
Erobert das Stimmrecht , meine Schwestern , und ihr werdet
diesen Gott an eurer Seite finden . Es scheint , daß im Himmel
wie auf Erden der Erfolg entscheidet .
Vorwärts ! Aufwärts ! meine flügelstarken Schwestern ! Keine
Höhe sei euch zu hoch , keine Ferne zu fern . Die Luft ist befahrbar
geworden . Auch das nebelhafte , vermeintliche Luftschloß eurer
Emanzipation wird bewohnbar werden .
Vor euch – seht – das Land , das ihr mit der Seele suchtet ,
seit Jahrtausenden , das Land , das euch geistiger , sexueller und
physischer Not entheben soll .
Diejenigen , die euch mannhaft die gefährlichen Flügel
stutzen wollen , kommen mir wie die Weltdamen vor , die böse
werden , wenn andere Frauen ihre Kleiderfacons nachahmen .
Sie meinen , daß ihre Kleider dadurch entwertet werden . So
meint der Mann , die Wissenschaft und die Politik würde ent-
wertet , wenn die Frau sich daran beteiligt .
Dessen seid sicher : Rechte ohne Macht bedeuten nichts .
So lange ihr politisch rechtlos bleibt , müßt ihr euch mit den
Brosamen begnügen , die von des Herrn Tische fallen . Der
Mann ist der geladene Gast beim Lebensmahl , ihr – die
Zaungäste . Nur durch eine aktive Mitwirkung an der Gesetz-
gebung könnt ihr eure Rechte als Mutter , Gattin , Erwerberin
erfolgreich wahrnehmen .
Jch lächle in mich hinein , wenn ich daran denke , wie all-
mählich die Frage des Frauenstimmrechts sich entwickelt hat .
Erst lachten alle . Einige Jahrzehnte später lachte die Majorität .
Heut lacht nur noch die Minorität . Wer zuletzt lacht , lacht am
besten – die Frauen . Noch wenige Jahrzehnte und das Frauen-
stimmrecht wird eine Selbstverständlichkeit sein . Ja , der Mann
der Zukunft wird schon mit der Vorstellung der absolut gleich-
berechtigten Frau geboren werden .
Lacht ihn aus – jenen mannsseligen Sanatoriumsarzt ,
der von krankhaftem Herrenstolz gebläht , jüngst verkündete :
„ Nur zum Dulden , Tragen , Dienen und zu nichts mehr wäre
das Weib geboren . “
Lernt eure Kraft kennen , meine sanften Schwestern , laßt
euren gerechten ethischen Furor die Zügel schießen . Entreißt
dem Mann das Monopol der Gesetzgebung . Monopole sind
Hemmschuhe der Entwicklung . Mit solchem Monopol bildet
das starke Geschlecht einen Männertrust , der sich gegen die
Beteiligung der Frau an den gewinnbringenden Geschäften des
Lebens wendet .
Das Stimmrecht fordert !
Und fragt ihr , meine schüchternen Schwestern , ob ihr nicht
euer Stimmrecht an der Sonne der Zeiten sollt reifen lassen ,
bis es als köstliche Frucht euch von selbst in den Schoß fällt , so
antworte ich : die Schatten müßt ihr bekämpfen , die die Kraft
der Sonne brechen .
Sollen wir etwa wie die Suffragettes unter Fanfaren-
geschmetter die Werbetrommel rühren ?
Jch möchte hier einen Brief zum Abdruck bringen , den ich
im Juni von einer Freundin erhielt , die gelegentlich einer eng-
lischen Vergnügungsreise zufällig Augenzeuge eines großen
Zuges der Frauenrechtlerinnen in London wurde .
Sie schreibt : „ Unerhört , was in den Zeitungen zusammen-
gelogen wird ! Hat man nicht bei uns den Eindruck , daß diese
Frauenstimmrechtlerinnen ekelhafte Karrikaturen und lächerliche
Auswüchse des weiblichen Geschlechts sind , die allerorten aus-
gelacht werden ? Glaub 's nicht , glaub 's nicht . Zehn- bis
zwölftausend Frauen jeden Alters und Standes , vornehme
Damen , junge Mädchen , Arbeiterinnen , Studentinnen , Doktor-
innen , Gärtnerinnen , Schauspielerinnen , Pflegeschwestern , usw.
usw. kamen in wohlgeordnetem Zuge vorbei , angemessen an-
gezogen , die meisten „ Damen “ . Voraus ritt und ging Polizei.
Musikbanden ( Militärmusik zum Teil ) spielten in Abständen ,
tausende von Bannern und Flaggen wehten . Auf beiden Seiten
stand dichtgedrängt das Publikum , das mit ernster Teilnahme
den Zug defilieren ließ . Jch stand im engsten Gewühl und
habe kein höhnisches , unfreundliches Wort gehört . Viel
sympathische Zurufe . Namentlich als die nach hunderten
zählende Schar der Studentinnen und Graduierten kam , in „ cap
and gown “ wie ’s ja hier alle Studenten tragen . Jch kann dir
sagen , mir kamen bei dieser würdigen und sehr imposanten
Demonstration geradezu die Tränen in die Augen und ich
dachte dein . Der Verkehr in der ganzen westlichen Stadt war
unterbrochen und niemand murrte . Abgesandte aus ganz Groß-
britanien und den Kolonien beteiligten sich . “
Jch halte diese stürmische Propaganda der Stimmrecht-
lerinnen für nichts anderes als eine politische Taktik , die mög-
licherweise dem Geschmack und dem Temperament derer , die
sie in Scene setzen , gar nicht entspricht . Allein – sie haben
begriffen , daß sie aus dem Dämmer der Wünsche und Be-
gehrungen herausmüssen in den lichten Tag des Handelns .
Und sie vertauschen die stumpfe Waffe des Worts mit der
schneidenden der Tat . Zephire reinigen die Luft nicht . Der
Sturm tut's . Heroismus ist's zuweilen , so zu handeln , wie
man nicht handeln möchte .
Petitionen , Reden , Schriften – sie schimmern nur matt
und langsam durch die Kulturwelt . Oeffentliche feierliche
Manifestationen wie die englischen gleichen Scheinwerfern . Jhre
Leuchtkraft wirkt in weite Fernen hinaus .
Die Frucht der politischen Rechte hängt für die Frauen
noch hoch am Baum der Menschheit . Kraftvoll müssen sie
sich aufrecken , der Gefahr eines Sturzes trotzen , um sie zu
pflücken .
Die Kreuzzüge des Mittelalters galten der Eroberung eines
heiligen Grabes . Nicht ein Grab wollen die modernen Ritter-
innen des Geistes den Ungläubigen entreißen , vielmehr um ein
volles , lebendiges Menschentum ringen sie mit ihnen .
Und sie werden siegen , denn mit ihnen ist der Geist der
Zeit . Die Jdeen der Zeit – ein wogendes Aehrenfeld , das
goldene Ernten verheißt . Jdeen , die in die Seelen derer sich
versenken , die zur Aufnahme bereit sind . Das sind die Seelen
der Menschen , denen das geistige Gehör so geschärft ist , daß
sie die Stimmen der Zukunft vernehmen , deren Blick so geweitet
ist , daß sie in der Tiefe die Schätze erblicken , die zu heben sind .
Der Geist der Zeit ! Ein Ringen ist 's nach Freiheit , Licht ,
Luft , Wahrheit . Ein Losringen von ödem Konventionalismus ,
von Vorurteilen , toten Dogmen , von den giftigen Miasmen
einer die Kulturwelt umspannenden Verheuchlung .
Los wollen die Kindermenschlein vom harten Schulzwang .
Los die Arbeiter von der Unwissenheit , die sie unfrei macht .
Hinaus aus der Stickluft der engen Städte in die Freiheit der
Gartenstädte drängen die Menschen . Die Dienstboten wollen
freie Arbeiter werden . Und los vom Magdtum will die Frau !
Die phänomenalen Errungenschaften der Technik sind eine
treibende Kraft in dem rasenden Tempo der geistigen Aufwärts-
bewegung . Grenzpfähle stürzen , die für Ewigkeit errichtet
schienen !
Jch denke wieder an das Bild einer berühmten Malerin .
„ Arme Seelen “ steht darunter . Ein langer Zug trauriger
Frauen . Nicht eine sieht aus wie die andere . Verhüllte , Betende ,
Trotzige , Knieende , Schwärmerische , Verzweifelnde . Und alle
drängen vorwärts , vorwärts , einem Ziele entgegen . Und das
Ziel ? Nichts als eine große leuchtende Helle .
Die Seelen all der Frauen , die ihr Leben nicht leben durften ,
kämpfen mit uns für die siegenden Rechte der Frau , wie die
Geister der Gefallenen in jenen sagenhaften Kriegen an der
Seite der Lebendigen kämpften .
Meine Asche in der Urne ( da ich mich doch verbrennen
lasse ) wird wieder glühen , wenn die Pforten des Reichstags sich
den Frauen öffnen werden .
Druck von A. W. SCHNEIDER
Berlin W. 50
ANSBACHER STRASSE 42-43
Telephon : Amt Charl . 3811