Heidelberg, 18 Junius. Die Leselust und Geduld der gebildeten, d. h. der lesenden Stände in Deutschland ist bereits so groß geworden, daß man, um immer neuen Vorrath zur Unterhaltung zu liefern, in der Auswahl des Gegenstandes ziemlich rücksichtslos zu verfahren anfängt. Dinge, die man sonst nur in vertrautem Kreise besprach, werden jetzt ohne Rückhalt Schwarz auf Weiß in die weite Welt geschickt, und nachdem die Kritik sich an Büchern und Kunstwerken hinlängliche Uebung und reichlichen Muth erworben hat, setzt sie ihr Geschäft auch bei den Personen fort, die dem Publicum einiges Interesse einflößen. Wenn gegenwärtig ein bedeutender Mann von einem jungen reisenden Gelehrten besucht wird, so sollte er dem Eintretenden vor Allem die Frage vorlegen: „Wollen Sie vielleicht etwas über mich schreiben?“ – und, falls der Besucher nicht völlig genügende Bürgschaft für das „Nein“ zu leisten vermag, sich desselben sofort zu entledigen suchen, damit dieser dann doch eine wesenhafte Ursache zu dem hätte, was solche Leute jetzt Kritik nennen. Das sogenannte junge Deutschland hat das Beispiel einer Richtung gegeben, die darauf hinausläuft, statt mit Sachen, sich lieber mit Personen zu beschäftigen, und diese zerfasert in kecken, flüchtigen Pinselstrichen zur Schau zu stellen. Hat man einmal die Scheu vor dieser Veröffentlichung überwunden, so erschließt sich ein weites Feld für die Unterhaltungslitteratur, und es ist vorauszusehen, daß wir noch viele auf demselben aufgelesene Früchte, wären es auch nur Distelköpfe und Holzäpfel, aufgetischt bekommen werden. Wie viel ist noch hierin zu thun! Welche gute Gelegenheit, schlimme Leidenschaften zu befriedigen! Jeder namhafte Arzt, Kanzelredner, Advocat etc. kann von einem jüngern Mitbürger, der litterarische Kritik treibt, nach seinen Gebärden und Handlungen, wahrhaft oder in beliebiger Verzerrung abgeschildert werden. Jede Eigenthümlichkeit, jede wirkliche oder scheinbare Schwäche, jede Schattenseite, die man bisher gern übersah und bescheiden verschwieg, wo man viel Licht erblickte, wird nun von dem jüngeren Geschlechte schonungslos hervorgehoben, welches sich in seinem Uebermuth auf den Richterstuhl gedrängt hat. Schade nur, daß diese verhüllten Richter, die keine Bürgschaft für die Lauterkeit ihrer Absichten und die Richtigkeit ihres Urtheils zu geben haben, gar wenig Vertrauen einflößen können! Keinem aufmerksamen Leser der Zeitungen und Zeitschriften sind die feinen Kunstgriffe unbekannt, mit denen man nun heutzutage einen gewissen Hauptgedanken in einen scheinbar ganz harmlosen Aufsatz, wie bei einem bekannten Spiele das aufgegebene Wort in eine lange Rede, unmerklich einfließen zu lassen sucht. So wird bald Rache oder Neid geübt, bald ein Begünstigter empfohlen oder irgend eine verdeckte Absicht verfolgt. Wer indeß einigemal auf diese Weise irre geleitet worden ist, wird mißtrauisch und findet bald den festen Kern in dem langen Kometenschweife heraus.
Diese Betrachtungen sind in uns durch zwei ausführliche Artikel über die Heidelberger Universität rege geworden, deren einer vor einigen Monaten in den von Ruge und Echtermayer herausgegebenen Halle'schen Jahrbüchern, der andere ganz kürzlich in den Brockhaus'schen Blättern für litterarische Unterhaltung erschienen ist. Bei jedem von beiden Aufsätzen hat sich der Verfasser (oder vielmehr die Verfasser, denn es scheinen mehrere geholfen, wenigstens das Material beigetragen zu haben) die nicht leichte Aufgabe gesetzt, nicht bloß das wissenschaftliche und gesellige Leben in Heidelberg im Ganzen, sondern auch das Wirken und die Persönlichkeit der meisten Lehrer insbesondere darzustellen. Es ist ungefähr, als ob eine Gesellschaft anständiger Männer, die auf einem öffentlichen Platze vor zahlreichen Zuschauern ihres Berufs willen versammelt sind, von Einzelnen aus dem dichten Haufen bald mit Zuckerwerk und Blumen, bald, wie es sich gerade trifft, mit Aepfeln, Eiern und Schmutz beworfen würden. Die Verfasser meinen es im Grunde mit der Universität nicht übel; sie wollen dieselbe empfehlen und zu ihrer Erhebung beitragen. Aber sie fangen es damit sonderbar an: sie loben die Anstalt im Ganzen um ihrer zahlreichen berühmten Männer willen, tadeln aber mit wenigen Ausnahmen das Einzelne und mäkeln an den meisten Celebritäten so viel, daß man, wenn dieß Alles wahr wäre, am Ende nicht begreifen könnte, woher denn der Glanz der Universität eigentlich gekommen ist. Es ist bemerkenswerth, daß die Verfasser diesen Widerspruch, in den sie gerathen sind, nicht erkannt haben.
Der Aufschluß hierüber ist aber nicht schwer zu finden. Auf jeder Universität gibt es eine Anzahl jüngerer Docenten, die das Uebergewicht ihrer ehemaligen Lehrer ungern ertragen und darüber ungeduldig werden, daß sie die ersehnte Beförderung noch nicht haben erlangen können. Hiezu gesellen sich andere jüngere Gelehrte, die sich zwar nicht selbst in den Schranken versucht haben, aber doch darüber unzufrieden und verstimmt sind, daß ihre Verdienste im Stillen blieben. So bildet sich eine natürliche Opposition gegen die ältern, meistens vortheilhaft gestellten und in verdientem Ansehen stehenden Professoren. Wir halten es für höchst wahrscheinlich, daß der zweite Aufsatz ganz, und der erste wenigstens theilweise, einer solchen Opposition der jüngeren Generation seinen Ursprung verdanke, ohne damit behaupten zu wollen, daß beide in Heidelberg ganz zu Stande gekommen seyen. Unter den Privatdocenten und jüngeren Professoren in H. kennen wir viele ehrenhafte Männer, die man der Mitwirkung zu den erwähnten Artikeln durchaus nicht für fähig halten kann. Man erfährt so eben, daß schon einer der hiesigen Privatdocenten sich mit rühmlicher Entrüstung gegen den Verdacht, an denselben irgend einen Antheil zu haben, bei seiner vorgesetzten Behörde verwahrt hat.
Beide Artikel weichen übrigens in manchen Stücken von einander ab. Der Hallische sucht Alles nach der Weise einer bekannten philosophischen Schule zu construiren und leitet den Gesammtcharakter der Universität aus dem süddeutschen, namentlich aus dem pfälzischen Volksleben ab, indeß der Leipziger die Professorenschaft, als welche sich sehr von den Bürgern absondere, nicht eben unter dem Einfluß ihrer Umgebung stehend annimmt. Dieß ist auch das Richtigere, denn ein großer Theil der Lehrer besteht aus Mittel- und Norddeutschen, die in Berlin, Göttingen, Halle und Breslau ganz dieselben seyn würden, wie hier, auch steht Heidelberg mit Fremden aus allen Ländern in so häufigem persönlichem Verkehre daß schon deßhalb ein Localgeist, wie er auf mancher andern, mit dem Lande inniger verwachsenen Universität angetroffen wird, hier nicht wurzeln könnte. Beide Aufsätze stimmen in zwei Hauptpunkten überein, nämlich, daß Heidelberg eine schöne Lage habe und daß daselbst eine allgemeine Abneigung gegen die Philosophie herrsche. Jenes ist freilich vollkommen wahr, aber es ist
auch so bekannt und zur Lohnbedientenwahrheit geworden, daß es kaum nöthig gewesen wäre, das Gemälde der reizenden Gegend mit aller Ausführlichkeit in den Vorgrund einer Charakteristik der Universität zu stellen. Der Leipziger Schilderer gestattet seiner Phantasie große Freiheiten: sie läßt ihn Heidelberg als eine „schlanke schmale Stadt“ am Ufer des Neckars hingelagert erblicken, und begeistert ihn zu kühnen Bildern, wie folgendes: Der Königsstuhl mit seinem hohen Thurme „zeigt der Ferne den erstaunten Fremdling und dem erstaunten Fremdling die Ferne.“ Dieser dithyrambische Schwung scheint auch den Setzer ergriffen zu haben, so daß der violette Ton des Hardtgebirges im Abendglanze unter seiner Hand sich in einen violetten Thon verwandelt hat; freilich läuft auch sehr nüchterne Prosa nebenher, z. B. in der Bemerkung, der Weg nach Wiesloch führe über Rohrbach. Dagegen ist die angebliche Ungunst gegen die Philosophie in ihrer Allgemeinheit nicht vorhanden: ein bedeutender Theil der Professoren aller Facultäten hat seit mehreren Jahren für die Berufung eines Philosophen, der erprobte Lehrgabe mit tiefem Geiste verbände, lebhaftes Interesse an den Tag gelegt und die Nichtbefriedigung dieses Bedürfnisses beklagt. Hindernisse, die theils in dem gegenwärtigen Zustande der Philosophie in Deutschland, theils in zufälligen persönlichen Verhältnissen und den Parteiungen der Universität lagen, standen der Erfüllung dieses Wunsches im Wege. Daß aber Heidelberg überhaupt keine Philosophie wolle, wird nur von denen gesagt, die sich und ihre Schule für die einzigen Träger dieser Wissenschaft halten.
Daß insbesondere der Leipziger Aufsatz aus einer ziemlich jugendlichen Feder geflossen ist, zeigen außer den obigen Proben noch manche andere Stellen. Der Verfasser oder Redactor hat nicht überlegt, wie zweideutig das Lob ist, welches er dem Heidelberger Theater mit der Bemerkung ertheilt, Eßlair habe es „mit seinen Fußtritten geweiht,“ und er weiß von einem Professor zu sagen, derselbe habe hier mehr Verdienste als Anerkennung „gefunden.“ Es ist jedoch nicht nöthig, aus der Schreibart zu beweisen, was aus dem ganzen Zusammenhange kenntlich wird: der Aufsatz ist nur scheinbar an die Lesewelt, eigentlich aber an Curatorium und Ministerium gerichtet, um zu zeigen, wie sehr es noth thue, das Lehrerpersonal durch Beförderung jüngerer hiesiger Docenten, vielleicht auch durch Zurückberufung abgegangener zu ergänzen. Der Verein Unzufriedener, der zu diesem Zwecke das Wort genommen hat, redet also unverkennbar pro domo sua, oder sucht wenigstens durch kecke Herabsetzung Anderer sich empor zu heben. Freilich gäbe es hiezu noch ein zweites edleres Mittel, nämlich sich durch tüchtige eigene Leistungen die Anerkennung zu verschaffen, die in Heidelberg so wenig als sonst irgendwo dem wahren Verdienste versagt wird; allein dieser Weg führt langsamer zum Ziele und ist weit schwieriger, als das Entwerfen eines, mit schimmernden Phrasen, kühnen Bildern und Witzfunken ausgestatteten Aufsatzes, indem jedem der älteren Lehrer sein Antheil Lob und Tadel nach dem Gutdünken ihrer jugendlichen Kritiker zugewogen wird. Man könnte diese Anmaßung dieser angehenden Gelehrten lächerlich finden, wenn nicht die Verletzung aller Pietät gegen hochverdiente Veteranen der deutschen Litteratur, wie Friedrich Creuzer, das Veröffentlichen solcher Urtheile, wie sie etwa dem neuankommenden Studenten von den länger hier gewesenen bei einem Glase Bier berichtet werden, eine sehr ernste Seite hätte. Kein ebenbürtiger Gelehrter von wohlbegründetem Rufe würde es über sich gewinnen können, an einer solchen Arbeit Theil zu nehmen, die darauf gerichtet ist, die studirende Jugend von der Ehrerbietung und Anhänglichkeit gegen ihre zum Theil in ganz Deutschland hochgeachteten Lehrer abwendig zu machen. Glücklicherweise ist dieser Erfolg nicht zu befürchten. Diese strengen Tadler, die sich auf die Schultern des ältern Geschlechtes zu schwingen suchen, müßten erst noch vieljährige Arbeiten und bedeutende Leistungen aufzeigen, um als stimmberechtigt zu gelten. Eben so wenig werden die Lenker der Universitäten auf solche verkappte Rathgeber hören. Es ist ein Jahr verflossen, seit die Hallischen Jahrbücher den hohen Pflegern der Universität Jena gesagt haben, nur durch Berufung junger Hegelianer sey dem einbrechenden Verderben jener Anstalt Einhalt zu thun, man hat sich aber noch nicht beeifert, von dieser Weisheit Gebrauch zu machen. Auch der neue Curator von Heidelberg wird sich hüten, nach den Rathschlägen der Brockhaus'schen Correspondenten Anstellungen und Beförderungen in Antrag zu bringen.
Den Inhalt der genannten Artikel, und insbesondere des neueren von beiden, im Einzelnen zu beleuchten, halten wir für ganz unnöthig. Manches ist gut gesagt und richtig dargestellt, manche Warnung allerdings beherzigenswerth, aber Vieles auch unwahr, entstellt, übertrieben, in dem gefärbten Lichte einer Partei gemalt, oder unwürdig. Die Verunglimpfung des vormaligen Curators und Ministers, eines eben so ausgezeichneten Gelehrten als Staatsmannes, ist eine Handlung, über die ihr Urheber bei ruhiger Ueberlegung selbst tief erröthen muß, denn sie hat ihn der allgemeinen Indignation preisgegeben. Sie beruht überdieß auf leeren Vermuthungen, denn man sieht leicht, daß die Verfasser, statt den Zusammenhang der Dinge zu kennen, nur aus Hörensagen schöpften. Die lange und breite Erörterung über die Schwäche und Haltungslosigkeit des Senats in Disciplinarsachen ist so unbestimmt, daß man nicht absieht, was damit eigentlich gemeint ist. Die Unkenntniß des Verfassers liegt klar am Tage, der einen mit Recht gerühmten Professor um das Jahr 1831 zweimal hinter einander zum Prorector gewählt werden läßt, während derselbe nur ein Jahr, und zwar 1834 dieß Amt bekleidete – der behauptet, ein hier ansässiger Gelehrter sey mit einer Besoldung von 800 fl. für das Lehrfach der Philosophie angestellt worden, was eine Verwechslung zweier Personen ist – der einem kürzlich angestellten Professor in der medicinischen Facultät eine Besoldung zutheilt, die derselbe nicht hat, und dergl. Was nun vollends die dreisten absprechenden Urtheile über ganze Facultäten, ferner über wissenschaftliche Verdienste, Lehrgaben, selbst über Charakter und Handlungsweise achtbarer Gelehrten betrifft, so wird der umsichtige Leser sogleich bemerken, daß den offenbar befangenen Darstellern alle Glaubwürdigkeit abgeht. Ihr Lob ist nicht selten ebenso parteiisch als ihr Tadel. Bisweilen, wo sie aus einem Reste von Gerechtigkeitsgefühl oder aus Klugheit nicht umhin können zu rühmen, suchen sie doch durch allerlei Beschränkungen und hämische Andeutungen ihre üble Absicht durchblicken zu lassen. Sie stellen manche jüngere Lehrer in günstiges Licht, von denen sie sehr gut wissen, daß dieselben sich bisher noch nicht fähig erwiesen haben, einem Lehramte vorzustehen. Demjenigen Verfasser, der den Abgang mehrerer Docenten in das Ausland als bedauernswerth bezeichnete oder doch andeutete, war es genau bekannt, daß sich darunter solche befanden, die hier aus eigener Schuld auf dem Katheder nicht glücklich waren und die sich bisher nicht über Mangel an Schonung von Seite ihrer hiesigen Fachgenossen beklagen konnten. Jedem, der in Heidelberg Bescheid weiß, ist diese auffallende Parteilichkeit klar. Es wäre leicht, sie näher darzuthun, wenn man die Verfasser in der Hintansetzung jeder Sitte und jedes Anstandes nachahmen wollte. Dieselben haben auch bei allem Selbstvertrauen auf ihren genialen Ueberblick doch hie und da nichts aus eigenen Mitteln
zu sagen gewußt und sich genöthigt gesehen, aus den ebenfalls sehr oft schiefen, befangenen und ungerechten Urtheilen des philosophischen Autors in den Hallischen Jahrbüchern zu entlehnen.
Schließlich dürfen wir dem sittlichen Sinne der meisten Leser darin vertrauen, daß die herbe Bemerkung des großen römischen Geschichtsschreibers sich bei ihnen nicht bewähren werde: „Wenn der Schriftsteller um Gunst buhlt, so ist es leicht, ihm zu widerstehen, aber Schmähung und neidische Tücke werden mit geneigten Ohren aufgenommen, denn in der Schmeichelei ist die schmähliche Sünde der Knechtschaft, in der Bosheit der falsche Schein der Freiheit.“ Tacit. hist. I.1 Ambitionen scriptoris facile adverseris, obtrectatio et livor pronis auribus accipiuntur, quippe adulationi foedum crimen servitutis, malignitati falsa species libertatis inest.