Ein Sturmwind iſt vorüber gebrauſt. Wir ſahen die
Kronen des Eichenwalds und die Halme des Graſes in
Aufruhr. Kein öder Bergſtrich, keine ſtille Schlucht in
Europa, wo nicht zerknickte Stauden, und entwurzelte
Stämme mit gebrochenen Kronen an ſeine Wuth mah-
nen. Und ſchon verliſcht die Erinnerung, ſchon über-
ſieht der leichte Sinn die Größe der nächſten Vergan-
genheit. — So ungefähr begann ich vor ſieben Jah-
ren, als ich die eigenen jetzt vierzehnjährigen Erinne-
rungen an den letzten Nachhauch jenes Orkans ſammelte.
Der Sturm der Begeiſterung war damals vorüber und
neue Stürme begannen. Aber noch waren jene Ein-
drücke nicht ſo verlöſcht, daß die weltbürgerliche Reflexion
über den Patriotismus geſiegt hätte. Noch galt dem
jugendlichen Sinne Napoleon als der Tyrann, den man
nur haſſen dürfe; und ſeine ſtarre Größe bewundern,
wäre ein Verbrechen geweſen.
Jch war noch halb ein Kind als der Held der hun-
dert Tage in Preußen dieſelbe feindliche Begeiſterung
weckte, wie als die Stimmen riefen zum erſten Be-
freiungskriege. Die Zurückgekehrten hatten noch nicht
ausgeruht, kaum auserzählt. Die Aufgewachſenen woll-
ten den Aelteren nicht nachſtehen. Noch war Bonaparte
der Held, der Armeen aus dem Boden ſtampfen konnte;
mährchenhaft klang den Jüngeren ſeine Siegerkraft aus
der Ammenſtube, und ſie namentlich predigten unter ſich
unerbittlich Cato’s Vertilgungsſpruch. Bald waren in
Berlin die oberen Claſſen der Gymnaſien geleert. Es
litt Niemand ſich und die Anderen ruhig zu Hauſe. Jn
langen Reihen zogen durch Norddeutſchland die Frei-
willigen und träumten wol noch von den Exercitien
aus Prima und Secunda, als auf der Schiffbrücke zum
heiligen Köln ihnen ſchon die letzten Kanonenſchläge der
Bundesſchlacht entgegenhallten, über deren Namen die
Sieger ſich weniger einigen konnten, als in ihrem Muth
und Haß.
Die Sache war entſchieden, aber der Krieg noch
nicht zu Ende. Unter den feindlichen Wällen wurde
die Mehrzahl der jüngeren Krieger erſt einexercirt.
Längs den Ufern der Maas und in den Schluchten der
Ardennen ſeufzten die Ungeübten über die Strapazen
des Krieges, ohne mehr vom Gedanken an ſeine Bedeu-
tung erhoben zu werden. Der kleine Dienſt erregte
Mismuth; der Herbſt in den düſteren Thälern trübte
noch mehr die Ausſicht. Die Mehrzahl der Freiwilli-
gen, die zu anderen Beſchäftigungen berufen waren, hielt
ſich jetzt ohne Noth zurückgehalten. Die Stunden waren
ſo lang, die Wochen dehnten ſich aus zu Monaten.
Gedanken von der Zweckloſigkeit des Daſeins überſchli-
chen die Einſamen. Vielleicht, daß dieſe Stimmung
einwirkte, als ich Begebenheiten in meinem Tagebuch
notirte, deren Zeuge ich zum Theil auf franzöſiſchem
Boden geweſen. Während einzelne Momente mir noch
jetzt ſo grell lebendig ſind, wie meiſt die in früher
Jugend empfangenen Eindrücke, verſchwebt das Ganze
wie ein Traum ohne Zuſammenhang. Sieben Jahre
ſind vergangen, und nichts hindert mich jetzt mehr nie-
derzuſchreiben, was noch das Gedächtniß zurückrufen
kann, um die hieroglyphiſchen Notizen zu ergänzen.
Wo ſie es dennoch dem Leſer bleiben, da möge ſeine
Phantaſie nachhelfen, wie ich es nicht verſchwören will,
daß ſie auch mir dann und wann die Lücken ausge-
füllt hat.
Napoleon war im Sommer 1815, in der kurzen
Zeit von dreien Tagen, Sieger, beſiegt und vernichtet.
Aber die Feſtungen im nordöſtlichen Frankreich waren
noch unbezwungen in der Hand der Franzoſen, und zu
ihrer Belagerung wurde ein Theil des Preußiſchen Hee-
res geführt. Es waltete hier ein ſonderbares Verhält-
niß ob. Die Verbündeten waren ausgezogen um die
Bourbons wieder auf den franzöſiſchen Thron zu ſetzen;
die jetzt Belagerten erklärten ſich aber laut nach Na-
poleon’s Gefangennahme für dieſelbe Sache. Der
Ludwigstag wurde innerhalb der Ringmauern gefeiert,
die Lilienfahne wehte von den Thürmen, und den-
noch warf man Laufgräben auf, und die Batterien
begrüßten ſich. Die Beſchwerden waren nicht gering.
Vor Philippeville ſchwemmte der Regen unſere Barak-
ken fort. Jch erinnere mich, ſieben Nächte hinterein-
ander ſitzend auf einer Tonne unter dem Regen-Him-
mel geſchlafen zu haben. Auch weiß ich noch recht gut,
wie ich die eine warme Suppe während dieſer Woche
nur dem aufgeſammelten Regenwaſſer im Lehmboden
verdanke, wo die Pferdehufe einige Ciſternen geſchlagen.
Die einzige Quelle, aus einer Sumpfwieſe vorſprudelnd,
war kaum reiner, da mehrere Bataillone daraus ſchöpf-
ten und darin wuſchen, ſie auch überdies faſt eine Stunde
entfernt lag. Bis ich dort Waſſerzuſchuß geholt, wäre
der Keſſel übergeſchäumt und das dürftige Feuer ver-
löſcht. Dafür loderte unter unſerm Kanonendonner
in einer entſcheidenden Nacht die Stadt auf, und am
Morgen zog im Sturmſchritt das ganze ſingende Be-
lagerungsheer über die rauchenden Trümmer zur Be-
rennung einer neuen Veſte.
Die Belagerung der bedeutenderen Feſtungen wurde
bis in den Spätherbſt fortgeſetzt. Die Gegenden wurden
ſinſtrerfinſtrer. So trat auch bei uns mit dem Herbſte ein
gewiſſer Trübſinn ein, indem wir umſonſt unſre Kräfte
und Zeit verſchwendet ſahen. Die Jüngſten, nunmehr
ungeduldig, verzweifelten faſt an eine jemalige Heim-
kehr. Das feſte Givet trotzte an der Maas ſchon Mo-
nate lang den Belagerern, und der Vorpoſtendienſt, zu
welchem die Jäger vorzüglich gebraucht wurden, ſchien
von Woche zu Woche beſchwerlicher. Wir hörten, daß
unſere Kameraden zum Theil in Paris ſich des ſchnellen
Sieges freuten, zum Theil ſchon in ihre Heimath ent-
laſſen wären. Es war daher nicht zu verdenken, wenn
die ganze Unterhaltung der Freiwilligen im Lager und
auf dem Poſten ſich um unſre endliche Erlöſung be-
wegte.
So ſtand ich am Abende eines trüben September-
tages, auf meine Büchſe geſtützt, allein auf einem äußer-
ſten Vorpoſten. Die Sonne war untergegangen, und
ich ſah, von meinem Verſteck aus, von ihren letzten
Strahlen matt beſchienen die Felſen und Mauern der
hohen Citadelle Charlemont, während ein Herbſtnebel
die tiefere Stadt Givet und die zu meiner Rechten vor-
überfließende Maas verhüllte. Der Wind wehte mir
welke Blätter entgegen, und auch meine Gedanken wa-
ren auf den Hinfall aller Dinge gerichtet. Es giebt
in der Jugend, wenn ſie zuerſt zum Bewußtſein er-
wacht, Perioden, wo man gern in einer melancholiſchen
Stimmung ſchwelgt. Man ſucht im Gedanken an den
Verluſt, die Bürgſchaft für einen innewohnenden Werth.
Es iſt die erſte Regung des Ehrgeizes nach dem in
den Kinderſpielen. Jeder kleine Unfall iſt willkommen;
wir dehnen ſeine Wirkungen aus; es däucht uns höchſt
intereſſant der Gegenſtand vieler andringender Leiden
zu ſeyn. Es iſt das Alter, wo der Oſſian entzückt.
Jeder will auch ſo Geiſter ſehen und ſo philoſophiren.
Jch ſah meinen Grabeshügel, monologiſirte von frucht-
los vor dieſen Felſenmauern verſchwendeten Kräften
der Jugend, und ließ den Landmann fluchen den mo-
dernden Gebeinen des Fremdlings! Der feuchte Ne-
belhauch war mir erwünſcht, und mein Auge verfolgte
das Spiel der vom Winde getriebenen Blätter. Wenn
eine Krähe aus dem verdorrten Brombeergeſträuch auf-
flog, mußte ſie die Geiſter der Abgeſchiedenen im fer-
nen Nebel erblicken. Während ich ſelbſt hinausſtarrte
und Figuren aus den Wolkenzügen zu entziffern ſuchte,
rauſchte es plötzlich in meiner Nähe auf. Eine rieſen-
hafte Geſtalt ſtand, wie aus dem Nebel aufgetaucht,
vor mir. Sie warf einen ſcheu wilden Blick auf mich,
und ehe ich noch mich beſinnen konnte, ob es nur ein
geſuchtes Phantom der Phantaſie geweſen, oder ein
Mann von Fleiſch und Bein, war ſie vorüber und
verſchwunden. Wie verſteinert, mit halb aufgehobener
Büchſe ſtarrte ich ihr in die Luft nach. Aber nach
wenigen Minuten waren mir die Geſichtszüge des Vor-
übereilenden wie eingebrannt vor den Augen. Eine
gewölbte große Naſe, tief liegende, von dunkeln Brauen
beſchattete Augen, Feuer ſprühend, eingefallene Wangen
und ein krampfhaft verzerrter Mund. Der Mann war
mehr als gewöhnlich groß, und trug das blaue Ober-
hemde der franzöſiſchen Landleute; eine hohe Soldaten-
mütze hatte er bis über die Augen gedrückt. — Es
war ein lebendiges Weſen, das wußte ich nun, und
den jungen Soldaten peinigte jetzt die Scham, daß ihn
Träumereien von ſeiner Pflicht, den verdächtigen Men-
ſchen feſtzunehmen, abgehalten hatten. War der Mann
von den hinter mir ſtehenden Poſten aufgefangen, wo-
mit ſollte ich meine Nachläſſigkeit rechtfertigen? — Oſ-
ſianiſche Geiſter dürfen vor keinem Preußiſchen Kriegsge-
richt erſcheinen. Man kann ſich vorſtellen, daß ich
meine Aufmerkſamkeit verdoppelte, und mit erleichter-
tem Herzen vom Poſten gieng, als nach der Ablöſung
bei einbrechender Nacht ich von meinen Freunden nichts
Verdächtiges erfuhr.
Jm zweiten Befreiungskriege waren die Schaaren
der freiwilligen Jäger nicht mehr aus ſo reinen Be-
ſtandtheilen zuſammengeſetzt, als dies im erſten der
Fall geweſen. Damals beſtanden dieſe Volontairba-
taillone zum großen Theil aus Beamten, Studenten,
Künſtlern, Schülern. Alle erſchienen aus eigenen Mit-
teln ausgerüſtet; neben der Kriegskameradſchaft herrſchte
ein geſellſchaftlicher Verband. Diesmal lieh der Staat
jedem, der es verlangte, und in irgend einer Truppen-
gattung ſchon gedient, Jägerrock und Waffen. Hoff-
nung bürgerlicher Vortheile hatte viele Menſchen von
ſehr roher, ja ſelbſt verdächtiger Sinnesart in unſre
Reihen geführt. Der Gebildetere mußte daher, ſtatt zu
wählen, ſeinen Umgang ſuchen. Er mußte es mit Vor-
ſicht thun, um nicht zu beleidigen. Nirgends ſtößt der
Ariſtocratismus, auf welche Art er ſich zeige, mehr an
als im Soldatenſtand, den der nothwendige Despotis-
mus an eine ſtrenge Gleichheit gewöhnt hat. Schon
der Vorzug der Bildung, wenn man ihn nicht gefliſ-
ſentlich verbarg, ſetzte dem Hohn und Spott aus. Meine
Freude war daher nicht gering, als mir beim Eintreten
in den Lagerplatz des Pikets, mein Freund ***, wel-
chen ich krank im Lazareth vermuthete, entgegen trat.
So viel mir der Flammenſchein zu ſehn erlaubte, ſchien
er noch blaß und verſtört. Er drückte mir die Hand,
und ſagte, er habe mir viel zu erzählen. —
Der Lagerplatz unſeres Pikets war ein zerſtörtes
ehemaliges Kloſter, auf einem hüglichten Abhange, der
ſich nach der Maas zuſenkt. Wenn ich nicht in der
Schreibart irre, hieß es Felixpré. Auch unſere Lands-
leute waren nicht immer wie Tauben im Feindeslande.
Freilich erreichten ſie nie das Maaß der Vergeltung.
Es war mehr komiſch als ernſthaft, als ich zwei kräf-
tige Schuhmacher mit Pommerſchen Fäuſten auf dem
Dache eines verlaſſenen Schloſſes herumſteigen ſah. Mit
ihren Hirſchfängern hieben ſie unter Lebensgefahr die
ſchweren bleiernen Dachrinnen ab, nicht wie Georg im
Götz, um Kugeln daraus zu gießen, ſondern um ſie zu
verkaufen. Der Krämer des Orts wurde herbeige-
ſchleppt und ſollte bieten. Oben ſtand der Jäger be-
reit zum Zuſchlage mit dem blanken Schwerte. Da
der Handelsmann aber die ſeltſame Jdee hatte, wenn
die Rinne oben hängen bliebe, behielte ſie der alte
Eigenthümer, wenn ſie aber herabfiele, bekäme er ſie
ohne dies, indem der Verkäufer ſchwerlich mehrere
Centner auf ſeinen Schultern fortſchleppen würde, ſo
bot er unbegreiflich wenig, was unſerem guten Pommer-
ſchen Landsmann eine unverſchämte Betrügerei dünkte.
Jn dieſem Kloſter, erinnere ich mich, daß Preußiſche
Landwehrmänner ſechs Wochen lang unter Todesge-
fahr hinaufkletterten, um die eiſerne Wetterfahne eines
Thurms abzubrechen. Sie war ſo feſt im Mauerwerk
wie das eiſerne Kreuz des heiligen Jwan auf dem
Kreml zu Moskau. Es wurde zur Ehrenſache. End-
lich errang einer die Trophäe, und löſte dafür —
zwei Sous! Jn einem vielfältig verwüſteten Zimmer
dieſes Kloſters loderte ein großes Feuer, um welches
auf Steinhaufen die jeden Augenblick zum Aufbruch
rüſtige Mannſchaft ſaß. Doch durfte weder das Feuer
zu groß, noch das Geſpräch zu laut werden, um dem
Feinde nicht unſern Aufenthalt zu verrathen. Wer
ohne die Umſtände zu kennen dieſen Anblick belauſchte,
hätte das dumpfe Gemurmel der in Mänteln verhüll-
ten, bewaffneten Männer für die Berathung einer
Räuberbande gehalten. Mir war heut beſonders un-
heimlich in dieſer Geſellſchaft zu Muthe. Jch gedachte
noch immer der wunderbaren Erſcheinung, und konnte
mich endlich nicht enthalten, meinen Freund aus der
Wachtſtube herauszuziehen und mit ihm einen ſtillen
Fleck draußen in der friſchen Nacht aufzuſuchen. Hin-
ter dem Kohlgarten des Kloſters lag die kleine verfal-
lene Kirche. Jhre Zerſtörung war nicht unſer, ſondern
das Werk der Revolution. Ein verbleichtes Marien-
bild konnte man bei Tage an der Hinterwand erblik-
ken. Die Nachtluft hauchte durch die gothiſchen Fen-
ſterbogen, und vor uns plätſcherte, eingeengt im Gemü-
ſegarten, eine kleine Fontaine ihren dürftigen Waſſer-
ſtrahl in ein ſumpfiges Baſſin. Der Ort ſchien uns
zu unſern Herzensergießungen beſonders geeignet. Wir
ſetzten uns in die Thürſchwelle der Kirche, und ich
begann das Geſpräch mit der Erzählung des ſeltſamen
Vorfalls.
„Eine gekrümmte hervortretende Naſe, ein ver-
zerrter, höhniſch lachender Mund?“ fragte *** nach-
denkend, als ich geendet.
— Du kennſt ihn doch nicht, entgegnete ich, denn
er ſchien aus der Feſtung zu kommen.“ —
Mein Freund ſchauderte zuſammen und ſtarrte
eine Weile vor ſich nieder. „Es ſtimmt alles über-
ein, und ich ſcheine vom Schickſal berufen in einer fin-
ſtern Geſchichte mitzuſpielen. Jch wollte ſchweigen,
denn wir ſind nicht hier, die alten Geſchichten aufzu-
rühren! Wo alles klebt hier nicht noch Blut! Wie
lieſt man noch aus den tiefen Furchen der wilden Ge-
ſichter die Schreckenszeit heraus! Es iſt ein Tiegerge-
ſchlecht, wenn ſie auch wie Katzen ſpielen. Die alte
Wildheit zuckt immer noch jäh auf, wo wir es uns
am wenigſten verſehen...“
— Liebſter Bruder, fiel ich ihm ins Wort, was
ſoll das hierher? Kennſt Du den Mann, den ich geſehen?
Kommt er aus der Feſtung? Was iſt ſeine Abſicht? —
„Wenn es der iſt, den ich meine, entgegnete er,
kenne ich ihn ſehr genau; er war mein Wirth während
vier Wochen. Daß er aus der Feſtung kommt, iſt
ſehr wahrſcheinlich...“
— So gehört er zu den Belagerten? —
„Keinesweges, aber ein Mann wie er, findet wie
der Fuchs überall ſeine Schliche. Jn der Feſtung iſt
Jemand, um deſſentwillen der Schurke gern Stadt
und Citadelle in die Luft ſprengte. Jch zweifle nicht,
daß er ſelbſt Päſſe von unſeren Generalen in der Taſche
trägt. Es liegt ihm gar zu viel daran, den einen drin-
nen zum Schweigen zu bringen.“
— Was müßte ich thun, wenn er mir noch einmal
begegnen ſollte? —
„Eine Kugel ihm vor den Kopf, das wäre im
Grunde das beſte. Nun wir einmal ſo weit ſind, muß
alles heraus. Es iſt auch eine Erleichterung, wenn
noch Jemand darum weiß. Kein Schloß in den Ar-
dennen kann abgelegener ſein, und zu trüberen Gedan-
ken einladen, als wo mich das Fieber überfiel. Man
ſchickte mich nicht in’s Lazareth; aber was mir an
Pflege dort zu gut kam, hat, was ich anhören mußte,
wieder ſchlimm gemacht. Sie hielten meinen Starr-
ſinn für Tod. Der Kopf wurde ſchwindlig und ich
fühle noch Spuren des Paroxysmus, wo ich glaubte,
daß mich täglich der Teufel ankrallte. Jch habe hier
aufgeſchrieben, um nicht zu vergeſſen, und es iſt das
Kürzeſte, ich leſe es Dir im Zuſammenhang vor —
nachher von dem Zufall, wie ich dazu gekommen —
und dann berathen wir, was zu thun. Du biſt die
erſte vernünftige Seele mit der ich über ſo etwas re-
den kann, aber ich fürchte, ich trage den Tod im Leibe
und überlebe es nicht lange. Wüßte der Böſewicht,
daß ich als Zeuge gegen ihn auftreten kann, er ſtände
ſchon hinter uns und riſſe mir das Papier weg ...“
Jn dem Augenblicke wo *** ein Papier entfal-
tete und verſuchte, ob er bei’m Mondenlicht leſen könne,
ſtand wirklich Jemand hinter uns. Es war aber nur
der wachthabende Unterofficier, der leiſe herangetreten
war und uns zuflüſterte: „Numero 2. vom Gewehr-
poſten! Es zeigen ſich verdächtige Bewegungen an den
Hecken links vom verlornen Poſten. Wir wollen eine
Patrouille hinſchicken. Sie, Jäger, haben ja wol lange
genug geruht.“ Dies galt dem Vorleſer. Er ſteckte
das Papier ein, griff nach der Büchſe, und folgte der
leiſe fortſchleichenden Rotte. — Jch ging indeſſen wie-
der in die Wachtſtube, und blickte, mich wärmend, auf
die Kohlen. Da fiel in weiter Entfernung ein Schuß.
Es hieß: „Auf! Auf, Jäger! es kommt zum Gefecht
mit den Vorpoſten.“ Alles griff zu den Büchſen; bald
aber kam beruhigende Nachricht, es ſei nur eine feind-
liche Patrouille geweſen, welche ſich jetzt zurückziehe.
Nach einer halben Stunde ſah man unſre Leute zu-
rückkommen. Sie gingen ſo langſam; mir war bang
zu Muthe.
— Bringt ihr was Gutes? — rief man ihnen zu.
„Diesmal nicht“ klang es traurig zurück. „Eine
hundsvöttiſche Flintenkugel aus der Hecke muß unſern
Bruder in die Bruſt treffen.“ Drei Jäger luden den
Sterbenden von ihren Schultern ab. Jch trat näher, —
und der Mond beleuchtete ***’s ſterbende Züge. Er
ſah mich noch einmal heftig an, drückte krampfhaft
meine Hand, öffnete den Mund, als wolle er ſprechen,
aber es war nur um den letzten Athem auszuhauchen.
Eh ich ihm eine Thräne weinen konnte, wurde ich
zu meinem Poſten abgerufen.
Mit mehr Seelenangſt, als vielleicht einem Sol-
daten erlaubt iſt, wartete ich meine vier Stunden auf
dem einſamen Poſten ab. Regenwolken waren herüber-
gezogen, der Mond war untergegangen. Am Himmel
glänzte auch nicht ein einziger Stern, und ein kalter
Regen ſchien mir oft bis in die Adern zu dringen.
Wenn ſich ein Strauch bewegte, oder eine Feldmaus
an den Wurzeln nagte, war ich auf die furchtbare Er-
ſcheinung gefaßt, die mich wie meinen Freund ermor-
den wollte. Der blutende *** ſchwebte vorüber an
den über den Fluß getriebenen Wolken; er öffnete den
Mund und wollte ſprechen, aber die Wolke zerfloß beim
nächſten Windſtoß. Es war wie ausgemacht bei mir, daß
ihm der Terroriſt, — ſo nannte ich das Schreckbild — hin-
ter den Hecken den Todesſchuß verſetzt, weil *** mehr
von ihm wußte, als ihm lieb war; und dieſe Phanta-
ſie hat mich Jahre lang nicht verlaſſen, obgleich darü-
ber nie auch nur Wahrſcheinliches zu Tage gekommen
iſt. Jch hielt den Athem an und den Finger am
Drük-
ker des Gewehrs, immer gewärtig, daß er auch auf
mich losſpringen werde.
Sonſt klang es wohl unheimlich, wenn ich Nachts
auf äußerſtem vorgerückten Poſten bis dicht am Feſtungs-
graben ſtand, und ſtündlich das wie ein Lauffeuer rund
um den Wall tönende: sentinelle, prenez garde à
vous! der Franzöſiſchen Wachten ſtill anhören mußte.
Jn dieſer Nacht war mir der Ruf willkommen. Er
rief mich aus der furchtbaren Welt meiner Träume in
eine minder ſchreckliche Wirklichkeit zurück. Mein erſtes
war, als ich bei dämmerndem Morgen abgelöſt wurde,
nach dem Leichnam meines Freundes zu fragen. Man
hatte ihn bereits in das Lager gebracht, und als ich
dorthin am nächſten Abende zurückkam, fand ich ihn
eben zur Erde beſtattet. Seine Sachen waren ſchon
durch mehrere Hände gegangen. Nachdem es mir end-
lich gelungen ſie vor der, einige Tage darauf erfolgen-
den, Verſteigerung bei’m Feldwebel zu unterſuchen, fand
ſich keine Spur jenes Papiers. Man neckte mich we-
gen meiner Fragen. Jch hielt für Pflicht über ***
letzte Rede Anzeige zu machen, aber man lächelte.
„Was will das bedeuten, ſagte der Obriſt, er hat
etwas ſagen wollen und hat nichts geſagt! Einen Tod-
ten kann man nicht inquiriren, am wenigſten über
nichts. Auch haben die Chirurgen angezeigt, daß er
auf gutem Wege war, toll zu werden. Darum beru-
higen Sie ſich, Jäger, und nehmen ſich vor den
hitzigen Fiebern in Acht, die unter den jungen Leuten
graſſiren. Die Luft iſt feucht.“
Der Schmerz der Jugend verflüchtigt ſich um ſo
ſchneller, je näher ſie noch dem Kindesalter ſteht. Kör-
perliche Anſtrengungen ſind hier eine unfehlbare Arz-
nei. Jn unſerm von Felſen umſchloſſenen Lager muß-
ten wir mit Mühe die Nothwendigkeiten des Lebens,
um wie viel mehr die Annehmlichkeiten herbeiholen.
Die Arbeit würzte den Genuß. So ſchmeckten die
Kartoffeln, welche man mit der größten Anſtrengung,
unter Gefahr bei der Entdeckung geſtraft zu werden,
in Mondnächten auf entfernten Feldern grub, und in
Mänteln herbeitrug, bei weitem beſſer, als die Delikateſ-
ſen, welche ab und zu von franzöſiſchen Marketendern
im Lager verkauft wurden. Jndem aber in unſerm
kleinen Hüttenleben unſere ganze Sorge ſich um Her-
beiſchaffung und Bereitung der Nahrung drehte, wur-
den wir einigermaßen Jnſtinktweſen, und wagten zu-
weilen beinahe das Leben für kleine Genüſſe. Jch
muß noch immer lächeln, wenn ich daran denke, welche
Freude es im Lager verurſachte, als ein Landwehr-
mann eine entfernte Felsſchlucht voller Brombeerſträu-
cher gefunden hatte, und wie nun beſtändig heimliche
Wallfahrten nach dieſem außer dem erlaubten Kreiſe bele-
genen Orte unternommen wurden, um die dort mit Mühe
gefüllten Kochgeſchirre auf dem langen Rückwege wie-
der zu leeren, und mit Nichts in das Lager heimzu-
kehren. Als eines Mittags mein Kochgenoſſe und ich
große Luſt auf ein Gericht verſpürten, entſchloß ich mich
am Nachmittage zu einer ſolchen heimlichen Erndte.
Ein Bach, der in den Steinwänden des Felskeſ-
ſels, welcher unſer Lager bildete, entſprang, führte durch
eine ſich vielfach windende Felsſchlucht bis nahe an die
Auſſenwerke der Feſtung. Für Heeresabtheilungen konnte
der beſchwerliche Fußpfad keine Straße abgeben; zum
Schleichwege für Spione ſchien er aber ganz geeignet,
und war deshalb mit mehreren Poſten vom Lager aus
beſetzt. Am äußerſten Ende dieſer Felſenſchlucht ſollten
noch reichliche Brombeerſtauden anzutreffen ſeyn. Jch
ſchlich, Mantel und Feldmütze über Schulter und Oh-
ren, mit verborgenem Kochgeſchirr, aus dem Lager.
Ohne von den Poſten entdeckt zu werden, war es un-
möglich, auf dem engen Grunde fort zu kommen, aber
die erſte Schildwach wandte ſich um, und die zweite,
der Luſtigmacher unſerer Compagnie, rief mir nach der
bekannten Melodie unſeres Signals im parodirten Ge-
ſange die Verſe zu: Ja ja es iſt erpreß befohlen,
Wir ſollen dem Bauer die Gänſe holen!
Was ließ ſich nicht alles überwinden um — Brom-
beeren! Jmmer weiter und weiter in eine unbekannte
Wildniß! Die heitere Herbſtluft ſpielte oben in den Gin-
ſterſträuchen. Die Tollheit des Gedankens, um ſchlechte
Waldbeeren, die ſelbſt der franzöſiſche Bauer nicht eſſen
mag, vielleicht feindlichen Vorpoſten in die Hände zu
laufen, hatte etwas Berauſchendes. Jch hätte heut mö-
gen Givet ſtürmen. Der todte Freund war vergeſſen.
Mit einem Male öffnete ſich der Grund links vor mir;
hoch auf dem violetten Schieferfelſen lag der Mont-
d’or, ein Außenwerk, und vor mir rauchten die Schorn-
ſteine von Givet. Zugleich aber lachten mich zu bei-
den Seiten die reichſten Brombeerſtauden an. Es war
mir, als müſſe man mich aus der Stadt, da dieſe ſo
offen vor mir lag, eben ſo gut bemerken, als ich jene,
und ich verbarg mich, ähnlich den Kindern, welche die
Augen zudrücken, wenn ſie geſehen zu werden fürchten,
in die Geſträuche. Bald indeſſen war dieſe Beſorgniß
überwunden; ich pflückte deſto eifriger, ſo daß mein
Geſchirr hochaufgefüllt war, als die Abenddämmerung
anfangen wollte. Eben war ich im Begriff aufzuſtehn,
als ich im Gebüſche hinter mir Fußtritte vernahm,
und ein Franzoſe aus dem Grunde hervor der Stadt
zueilte. Jch brauchte mich nicht lange zu beſinnen; es
war derſelbe, deſſen Andenken kaum die Brombeeren
in mir verdrängt hatten. Mit einem Male hielt er
inne, und ſah ſich nach allen Gegenden um. Jch ver-
wünſchte, daß ich kein Gewehr bei mir hatte. Plötzlich
warf er, da er keine Zeugen bemerkte, ſein Oberhemde
fort, und ſtand in franzöſiſcher Uniform am Ende des
Buſches. Jm nächſten Augenblicke war er mit zwei
Sprüngen hinter einem Geſträuch verſchwunden. Von
der Frucht der Waldſtauden brachte ich nicht viel in’s
Lager zurück; dagegen eine andere Frucht: den Vorſatz,
mich von keinem Freunde oder Feinde auf verbotenen
Wegen ertappen zu laſſen. Es war höchſt verdrieß-
lich, über den Vorfall ſchweigen zu müſſen. Jch durfte
noch froh ſeyn, daß man mich beim Appell nicht ver-
mißte. Der Kochkamerad hatte meinen Namen auch
beantwortet, und ſprang mir mit Büchſe und Patron-
taſche entgegen. Jch war zum Dienſte für die Nacht
aufgerufen worden.
Kaum hörte ich die Anordnungen des Feldwebels
und das Feldgeſchrei. Ein Gedanke nach rückwärts
weckte eine ganze Reihe. Jch marſchirte ohne zu wiſ-
ſen wohin, und ward erſt wieder inne wo ich war,
als man mich auf den äußerſten Poſten der Brombeer-
ſchlucht hinſtellte. Der Gefreite marſchirte nach dem
Lager zurück und ich hätte in unerfreulicher Einſam-
keit die halbe Nacht hier zubringen müſſen, wenn die
Bedeutſamkeit des Poſtens nicht eben für dieſe Zeit
eine doppelte Schildwacht nöthig gemacht hätte. Und
wäre mein Geſellſchafter noch alberner geweſen, als
der Berliner Marqueur, der auch einen grünen Rock
trug und ſich Freiwilliger nannte, hier war er mir
ein willkommener Freund.
Schon zwei Stunden hatte der Menſch fortge-
ſchwatzt, um ſo beredter, je weniger er von der Sache
verſtand. Auch hier in den öden Felsſchluchten der
Maas war das Theater ein unerſchöpflicher Gegenſtand,
und dieſer Marqueur war nicht der einzige Freiwillige,
der Mitglied eines Liebhabertheaters geweſen, „weil das
am leichteſten Bildung verſchafft.“ Er hoffte beſtimmt
auf eine Anſtellung bei’m Nationaltheater, wie Jffland
ihm ſchon verſprochen. Ein kleiner Dienſt für’s Va-
terland mußte ihm die noch fehlende Künſtlerqualifica-
tion geben, und nach ſeinen Militairzeugniſſen hoffte
er als Carl Moor auftreten zu dürfen. Jch weiß
nicht, ob es ihm gelungen iſt. Er war aber auch ein
großer Reformator. Jn die Räuber wollte er durch-
aus ein glückliches Ende bringen. Carl ſollte nach ihm
mit gebundenen Augen zum Rade geſchleift werden.
Dann wurde die Binde abgeriſſen und ein Pardon des
Kaiſers verſetzte ihn vom Galgen zu einem Gränzre-
giment, und zwar als Gouverneur. Er hegte die ge-
wiſſe Zuverſicht, daß man einem gedienten Soldaten
einen ſo billigen Wunſch nicht verſagen dürfe. Waren
doch die Anſprüche vieler Cameraden auf Berückſichti-
gung ihrer freiwilligen Verdienſte nicht geringer, wenn
auch das Lächerliche weniger in’s Auge fiel. Wie Viele
ſah man unzufrieden, in beſtändiger Erwartung, lange
Zeit in den Straßen von Berlin! Der Einzelne ver-
langte die ganze Aufmerkſamkeit des Staats auf ſeine
Perſon gerichtet, gleich den vielen franzöſiſchen Roya-
liſten, die noch immer die Reſtauration nicht für been-
det anſehn, weil ſie nicht für alles belohnt ſind, was
ſie gelitten und gedacht. Wie mancher Freiwillige
ſchämte ſich, zur früheren Beſchäftigung zurückzukeh-
ren! Um ſo ehrenwerther einzelne Beiſpiele, wo wir
den verdienten Officier wieder hinter den Ladentiſch
oder in die Werkſtatt ſeines Handwerks treten ſahen.
Alle jene kühnen Plane waren der Gegenſtand
des Geſprächs zweier nächtlichen Schildwachen. Unſer
Feldlager vor Givet hatte das Anſehn eines kleinen
Marktfleckens bei der Dauer der Belagerung gewon-
nen. Die Bauern und Bäuerinnen, welche alle Mor-
gen es bezogen, hatten ihre beſtimmten Steine, wo ſie
Obſt, Garten- und Feldfrüchte feil boten. Der Mar-
ketender, ein ſchleſiſcher Jude, ſchenkte Kaffee; die ber-
liner Voſſiſche Zeitung lag, wenn auch etwas veraltet,
aus, und die Politiker des Lagers ſammelten ſich hier,
um Nachricht aus der Heimath einzuziehen. Jch hatte
am Morgen dieſe Zuſammenkunft verſäumt, wußte da-
her auch nicht, welch ein Ereigniß die theatraliſchen
Köpfe aufgeregt hatte. Die Nachricht vom Tode der
Bethmann war eingelaufen. Das Feldgeſchrei führte
heut dieſen Namen und mit einem Zuſatz, den der
Unterofficier nicht ordentlich herausbuchſtabiren konnte,
den aber mein Camerad deutlicher erklärte, über die
Unbildung des Mannes raiſonnirend. Bethmann die
Köſtliche, heiße es. Er bewies mir, der ich das
etwas ſonderbar fand, dies ſey nur gerechte Anerken-
nung ihrer Verdienſte. Der Befehl dazu ſey expreß
aus dem Hauptquartier angekommen. Er gerieth in
eine glühende Lobrede, die ich aber plötzlich unterbre-
chen mußte.
„Hörten Sie kein Geräuſch?“ Er ſprang einen
Schritt vorwärts.
„Eine Geſtalt ſchleicht dort an der grauen Fels-
wand auf uns zu. Wetter noch mal, hier giebt’s was
zu fangen.“
Halb vor Freude zitternd, faßte ich ſchußrecht
meine Büchſe, und ſchrie ein „Halt“ der mir zu be-
kannten Erſcheinung entgegen. „Halt! Wer da?“ —
„Bertrand du Guesclin!“ antwortete eine
rauhe franzöſiſche Stimme, und ich drückte meine Büchſe
auf den Nachtwandler ab. Er prallte zurück, ich glaube
jedoch, daß die Kugel ihn nur geſtreift hat. „Que
diable!“ rief es im höchſten Jngrimm, und ehe wir
es uns verſahen, ſprang der Mann auf dem dunkeln
entgegengeſetzten Ufer des Baches an uns vorüber und
nach dem Lager zu.
„Jhm nach, ihm nach“ ſchrie ich, meiner ſelbſt
nicht mehr bewußt, und eine eigene Mordgier trieb
mich, in dem dunklen Thale ihm nachzuſpringen, hätte
mein Gefährte mich nicht am Arm gefaßt, und durch
die Worte: „Camerad, Sie werden doch Jhren Poſten
nicht verlaſſen?“ wieder zur Beſinnung gebracht. Mit
friſchgeladenen Flinten blieben wir ohne zu ſprechen,
Aug’ und Ohr der Stadt zugekehrt, ſtehen, um ſchär-
fer jeden Nachfolger auf’s Korn zu faſſen, als hinter
uns ein Geräuſch ſich näherte. Der phlegmatiſche Un-
terofficier kam zur Beſichtigung des Poſtens, und rief
uns ſchon von weitem zu: „Jäger, in Teufels Na-
men, was machen Sie denn? Das ganze Lager iſt
allarmirt von dem Schuß. Sie haben wol auf ’ne
Fledermaus losgedrückt? Sonſt iſt ja nichts zu ſehen.
Jch komme Jhnen nur zu ſagen, daß ich mich verhört
habe. Wer kann das vermaledeite Rothwelſch alles
behalten, was ſie jetzt zur Parole machen. Das Feld-
geſchrei heißt nicht Bethmann, ſondern“ — er buchſta-
birte den Namen Bertrand du Guesclin heraus.
Wir blickten uns verwundert an. „Wie konnte
er das wiſſen!“ entfuhr im ſelben Augenblicke unſern
Lippen. Jch drang ſogleich darauf, abgelöſt zu wer-
den, und eilte, um dem kommandirenden Officier alles
zu melden. Man war über den Vorfall betroffen,
das Lager, die umliegenden Büſche wurden durchſucht,
aber nirgends fand ſich eine Spur von dem Franzo-
ſen. Dagegen traten Soldaten und Jäger an den
Wachtfeuern zuſammen, und raunten ſich zu, dieſer
und jener habe längſt einen Spion gemerkt. Ein
Kerl, ſo und ſo gekleidet, ſey ſchon oft, den Poſten
vorbei in die Stadt und aus der Stadt geſchlichen.
Ohne Einverſtändniß ſey das nicht möglich, und es
müſſe im Lager mancher ſchlechte Preuße ſeyn. Meine
zu Protokoll genommene Ausſage ward an den Chef
des Belagerungskorps geſandt. Als wir am andern
Mittage zum Appell verſammelt ſtanden, ſpazirten die
Officiere kopfſchüttelnd vor der Fronte. Die Reihe
kam auch an uns. Wir mußten einen engen Kreis
ſchließen und der Major theilte uns den eben erhalte-
nen, gemeſſenen Befehl mit:
„Wenn ſich ein Mann von der und der Ge-
ſtalt bei unſern Vorpoſten zeige, ſolle, ſobald
er das Loſungswort gegeben, ihn Niemand an-
halten, ſondern ſtill paſſiren laſſen, als habe
man ihn gar nicht bemerkt. Uebrigens werde
Jedermann Schweigen hierüber anbefohlen.“
So mancher meinte: Das zeige wieder klar, wie der
Franzoſe immerfort auch den geſcheuteſten Deutſchen
betrüge. Andre äußerten, ſie würden ſich nicht daran
kehren, ſondern dem Spion Arme und Beine zerſchla-
gen, wo er ihnen in die Hände laufe. Es herrſchte
im Lager ſeit dieſer Zeit eine allgemeine Wuth gegen
den unſichtbaren Franzoſen, wie man meinen Terrori-
ſten von nun an benannte.
Die Tage wurden kürzer und die Nachtkälte in
den leichten Strohhütten immer empfindlicher; aber
Givet wollte ſich nicht ergeben. Sehnſuchtsvoll blickte
ich oft am Tage von einem Berggipfel herab auf die
ſchöne von der Sonne beleuchtete Stadt, aber noch
weit ſehnſüchtiger in einer Nacht, als ich am Abhange
eines Hügels an einem von hohen Pappeln umkränz-
ten Forellenteiche, Wache ſtand, und hinter der weiten
Mondfläche die dunklere Stadt, aus welcher hie und
dort ein Licht flimmerte, vor mir liegen ſah. Ach,
dachte ich, wie warm muß es drinnen ſeyn, und wie
ſüß ſich’s in einem Bette ſchlafen laſſen! Wenn man
drei Monate auf faulendem Stroh und Steinhaufen,
unter offenem Himmel, oder unter einem Dach gele-
gen, das jeder ſtärkere Regenguß abzuſpühlen drohete,
iſt es wohl vergönnt, einen ſolchen Wunſch nicht allein
zu hegen, ſondern auch auszuſprechen. Ueberhaupt
war die Stadt ein gelobtes Land, das man kaum zu
betreten hoffte. Man drückte ſich die Hände, und
wenn man etwas Liebes und Gutes einem Freunde
wünſchte, ſagte man: „Wenn wir drin ſind!“ —
Es war ein ſchönes Schauſpiel vor mir. Der
Mond ſpiegelte ſich im Teiche und goß ſeinen kalten
Glanz auf die weite Gegend. Hinter den Büſchen
die Vorpoſten, meiſt Pommerſche Jäger in Grün mit
weißen Kragen und blitzenden Büchſen. Die Nacht-
kälte wurde auch ſchon beim Wacheſtehen empfunden.
Sie trieb zur Geſelligkeit, ſo weit dieſe erlaubt war.
Ein Jäger hatte ſich zu mir geſchlichen, und lehnte
ſich an eine Pappel. Er blickte faſt verlangender als
ich nach der Stadt. Da kam ein Unterofficier vorüber
und nahm einen tüchtigen Zug aus der Feldflaſche des
Cameraden. „Allert, Jungens!“ rief er, und drohte
mit der Fauſt nach der Feſtung, „wenn ich drin bin,
wollen wir wirthſchaften. Und paßt Acht, die Nacht
giebt’s was, denn der Unſichtbare iſt wieder reinge-
ſchlichen.“
„Jſt’s nicht eine Schande,“ rief der Jäger, als
dieſer weiter gegangen, „einem Weibe pariren zu müſ-
ſen. Und einen Zug that ſie, wie der beſte Grenadier.
Die iſt bis auf den Grund leer.“ Jch entſann mich
erſt jetzt, daß der Unterofficier Niemand anders gewe-
ſen, als das Mädchen, welches unter dem Namen der
Jungfrau Krüger in der Geſchichte des preußiſchen
Heeres berühmt geworden. Zwei Feldzüge hatte ſie,
ohne daß ihr Geſchlecht bekannt geworden, mitgemacht.
Schon prangte das eiſerne Kreuz auf der Bruſt des
Unterofficiers, als das Geheimniß herauskam; aber ſie
fühlte ſich deshalb noch nicht berufen, das freie Krie-
gerleben aufzugeben. Jm Lager war man indeſſen
über die Anweſenheit der jungfräulichen Heldin nicht
ſo erfreut, als ſpäterhin Berlin’s poetiſcher Patriotis-
mus, der ihren kühnen Sinn durch Lieder und Geſchenke
feierte. Man überließ ihr ungern, ich weiß nicht ob
mit Recht, den Befehl über wichtige Poſten. So weit
geht der Kaſtengeiſt, daß er ſelbſt den ritterlichen beein-
trächtigt. — Der Camerad fuhr fort über ſie zu witzeln,
was mir nicht angenehm war. Jch unterbrach ihn mit
der Frage: ob denn auch Er glaube, daß unſere Gene-
rale um die Abſicht des Unſichtbaren wüßten?
Storchmeier, — den Namen führte der Jäger, —
lächelte ſehr ſchlau: „Wer Den kennt, der kann ſagen,
daß er was weiß.“ — „Kennt Jhr ihn denn?“ fragte
ich erſtaunt. — „Jch habe in Spanien bei ihm ge-
dient, und hätte Manches zu erzählen.“ — Jch erin-
nerte mich, gehört zu haben, daß der Jäger, ein wü-
ſter Menſch, ſich früher in allen Weltgegenden umher-
getrieben, und ſogar unter den Franzoſen die Waf-
fen getragen habe. Er war als Taugenichts 1807
ſeinen Eltern aus Berlin entlaufen, um, in Dienſten
eines Franzöſiſchen Officiers, die Freiheit und die Verän-
derung im vollſten Maaße kennen zu lernen. Er hatte
kein Hehl, daß er in der pyrenäiſchen Halbinſel, wie
nur ein Franzoſe, unter dieſen ſein Weſen getrieben.
Dann von den Portugieſen gefangen, war er mit dem-
ſelben reinen Eifer in die deutſche Legion getreten.
Ueber Vittoria, Toulouſe und Paris kehrte er, gerei-
nigt als vaterländiſcher Krieger, in die Vaterſtadt zu-
rück. Er war äußerlich einer der Gebildetſten unter
unſern Freiwilligen, denn die ihrer Erziehung wegen
auf dieſen Namen Anſpruch machten, gehörten faſt
ſämmtlich der Schule an. Der welterfahrene, prak-
tiſch gewandte Mann, wußte ſich in vielen Verhält-
niſſen ein gewiſſes Uebergewicht zu verſchaffen. Aber
dennoch traute man ihm nicht recht. Hierzu kam, daß
er einmal Fourier und beim Proviantweſen beſchäftigt
war, — etwas, das unausbleiblich den Verdacht aller Sol-
daten aufregt, die einmal hungern müſſen. Der Name
„Mehlwurm“ bezeichnet alle militairiſche Beamte die-
ſer Art, die auch bei einer möglichen Redlichkeit einen
ſehr ſchweren Stand haben, indem ſelbſt die herbſte
Tugend nicht den Verdacht verdrängt, daß ein Fourier
für ſich ſelbſt bei der Austheilung das Beſte vorweg
nimmt. Seine kecke Antwort ließ mich jetzt Alles ver-
muthen. Die Wahrheit hat eine gewiſſe elektriſche
Kraft. Sie drängte mich zu weitern Fragen, und hatte
auch bei Storchmeier, wie es ſchien, elektriſch gewirkt,
denn er war im Zuge mehr zu antworten, als er ſpä-
terhin bei ſich verantwortet hätte.
„Freilich,“ ſagte er, „handelt ſich’s um uns. Dar-
um iſt er in der Stadt; aber ob der Fuchs unſern
Generalen ganz reinen Wein einſchenkt, iſt eine andere
Sache. Was er da apart ſchachern will, ich nähme
gern halbpart.“
Jn dem Augenblicke kam die Ablöſung, und der
Oberjäger hieß mich einer Patrouille folgen. Wir ſchli-
chen geduckt an den Hecken lang, um, in ihrem Schat-
ten verborgen, durch das mondhelle Feld bis unter ei-
nen, dem Montd’or gegenübergelegenen Felſen zu ge-
langen, wo Halt gemacht wurde. Plötzlich pfiff es;
von unſerer Seite wurde das Pfeifen erwiedert und
nach wenigen Augenblicken kamen athemlos drei Fran-
zoſen herangeſtürzt. — Es waren Ueberläufer, welche
an Seilen ſich von den Wällen herabgelaſſen hatten.
Bald folgten zu meiner Verwunderung mehrere, und
als ein ſo großer Haufe verſammelt war, daß der
Schatten des Felſens ſie nicht mehr verbarg, wurden
einzelne Jäger befehligt, die Ueberläufer truppweiſe in
den Schattenwegen nach dem nächſten Piket zu trans-
portiren. Jm nächſten Dorfe wurden Alle gemuſtert
und am Morgen entlaſſen. Sie zogen froh in die
Heimath. Daß hier kein zufälliges Entlaufen Statt
finde, ſondern ein bedeutendes und erwartetes Un-
ternehmen im Werke ſey, bewieſen die im Dorfe ge-
troffenen Anſtalten. Die höheren Officiere hielten zu
Pferde und zählten vergnügt die vorüberziehenden Fran-
zoſen. Bei dem ganzen nächtlichen Auftritte herrſchte
eine Todtenſtille, die erſt lange nach Mitternacht durch
zwei Schüſſe aus der Feſtung unterbrochen wurde. Eine
Ordonnanz ſprengte an die Officiere und man hörte
nachher den Ausruf: „Doch verſpielt!“ Es hieß hier-
auf allgemein, der unſichtbare Franzoſe ſey als Unter-
händler in die Feſtung geſchickt worden, um die Gar-
niſon zum Ueberlaufen zu bereden: ehe es aber ganz
geglückt, ſey die Wachſamkeit des Commandanten zu-
vorgekommen, und habe die Feſtung gerettet. Den-
noch wurden wir nach einigen Tagen mit der frohen
Botſchaft geweckt: die Stadt habe ſich, in Folge jener
Schwächung der Beſatzung, ergeben.
Wirklich zog ein Theil des Belagerungscorps am
vierten Tage in die Stadt, aber die Hoffnung auf
Quartiere war dennoch vereitelt. Nur eine geringe
Anzahl Truppen blieb drinnen, der größere Theil mußte
in das Lager zurück, um die Berennung der Felſen-
veſte Charlemont, wohin ſich die übrige Garniſon zu-
zückgezogen, fortzuſetzen. Es ward indeſſen nachgege-
ben, daß wir Jäger einzeln die Stadt beſuchten. Welch’
ein dürftiger Flecken war dieſes Givet, das uns von
außen zauberhaft angelacht! Ein Marktplatz und we-
nige Straßen mit ſchlechten Häuſern. Und doch ſprach
ſelbſt der Berliner mit ſtolzer Luſt von dem Stadtle-
ben, wenn er die Krämerladen beſuchte und in der
Weinſtube eine Flaſche auf die glückliche Heimkehr aus-
ge-
geſtochen. Auch war es nicht ohne Romantik, wenn
wir am Quai der Maas umbogen und die Straße
dicht unter Charlemont’s graden Felſen auf- und ab-
gingen. Oben zwiſchen den alten Zinnen, faſt über
unſern Köpfen, ſo ſenkrecht ſcheint die Felswand, ſpa-
zirten die franzöſiſchen Schildwachten, in der Entfer-
nung wie ſchwarze Marionettenpuppen anzuſchauen, und
aus den gegenüberliegenden Straßenfenſtern richteten
unſere Jngenieure ihre Fernröhre nach ihnen. Ein
Schauſpiel des Friedens mitten im ernſtgemeinten
Kriege! Der gewöhnliche Zuſammenkunftsort der Vo-
lontaire war bei einem Jrländer, der eine kleine Re-
ſtauration hielt, und damit wol mancherlei vermittelnde
Geſchäfte verband. Sein gebrochenes Engliſch-Fran-
zöſiſch, mit Deutſch vermiſcht, beluſtigte uns, und Storch-
meier, der von allen Sprachen eine Färbung gewon-
nen, ſchien an dem Mann ein beſonderes Jntereſſe zu
finden. Wir waren eines Nachmittags hier ſehr lu-
ſtig, der Wein ſpukte in den Köpfen der Anweſenden,
als ein Jäger hereinſtürzte und verſicherte, er habe den
Terroriſten ins Haus ſchleichen ſehen. Jch glaube,
wir griffen ſämmtlich an unſere Hirſchfänger, denn
noch immer galt die ſtillſchweigende Uebereinkunft ge-
gen den Unſichtbaren. Ein Wortwechſel in einer Ne-
benkammer erregte jetzt unſere Aufmerkſamkeit, und
wie wol keiner von uns bis dahin ihn ſprechen ge-
hört, riefen wir uns doch Alle im Augenblick zu: „Das
iſt ſeine Sprache.“ Jch, in dem die Botſchaft zugleich
mit dem Malvaſier etwas ſtärker wirken mochte, konnte
mich nicht zurückhalten. Jch ſtampfte an die Bretter-
wand und rief: „Wir wiſſen Alles, wir haben Alles
gehört!“
Es ward drinnen plötzlich ſtill. Als wir Alle, von
gleicher Wuth entflammt, die Thüre aufbrechen woll-
ten, öffnete ſie ſich von ſelbſt und der blaue Unſicht-
bare trat heraus und hinter ihm, aber etwas blaß,
der Jrländer. Der erſtere warf die Mütze ab und
riß das Hemde herunter, indem er rief: „Seyd Jhr
toll?“ Ein Jäger kam zum Vorſchein. Es war Storch-
meier, der ungeheuer lachte und erklärte: „er habe ſich
mit uns einen Spaß machen wollen.“ Wir lachten auch,
und nachdem noch einige Flaſchen, die er vorſetzte, ge-
leert waren, machte ſich die ganze Geſellſchaft ſehr ver-
gnügt auf den Weg in’s Lager.
Wir waren weit über die Zeit ausgeblieben, da-
her fanden wir das Stadtthor ſchon verſchloſſen und
mußten durch den Wallgraben uns einen bekannten
Ausweg ſuchen. Vorgänger hatten ihn bereits gang-
bar gemacht, und es war heut nur einige Schwierig-
keit bei der Dunkelheit über eine Palliſadenreihe zu
klettern. Jch war zurückgeblieben, indem das Herz
voll war und der Mund nicht ſchweigen konnte. Was
ich von dem Terroriſten wußte, theilte ich mehreren
mit, und darunter hörte Storchmeier, wenn ich mich
recht entſann, am theilnehmendſten zu, und man mun-
terte mich ſehr freundlich auf, immer mehr zum Be-
ſten zu geben. Als ich ſo an die Palliſaden gekom-
men, war nur noch Einer hinter mir zurückgeblieben.
Da er noch zögerte, als ich den letzten Vormann in
den Graben hinunterſpringen hörte, kletterte ich hinauf
und wollte mich eben hinablaſſen, als ich einen hefti-
gen Stoß von hinten fühlte. Jch ſtürzte beſinnungs-
los in die Tiefe und hörte nur die Worte: „Für’s
Alles-wiſſen.“ Meine Freunde vermißten mich noch
zur rechten Zeit, um umzukehren und mich hinaufzu-
ſchleppen. Mit ihrer Unterſtützung, wobei Storchmeier
ſich am thätigſten zeigte, kam ich wieder zu mir und
in’s Lager zurück, war jedoch erſt nach drei Tagen
zum Dienſt tüchtig. Hätte ich gegen Storchmeier ei-
nen Verdacht hegen können, er wäre durch die freund-
liche Theilnahme ſchnell beſeitigt worden. Denn wäh-
rend die Anderen meinten, der Wein habe bei mir ge-
ſpukt, verſicherte er, eine Planke ſey loſe geweſen,
und dies ſey allein an meinem Sturz ſchuld; er habe
es genau unterſucht.
Der Zufall brachte uns bei meinem erſten Wach-
dienſt zuſammen. Er machte ſich mit mir weit mehr
als je zu ſchaffen, und ſchien mir diesmal nicht von
der Seite weichen zu wollen. Als ich zum Poſten
aufgerufen wurde, ſchlug er mir vor, meine Nummer
mit ihm zu tauſchen. Er ſchützte vor, daß ich mich
noch erholen müſſe: ein Grund, der nicht ausreichte,
da mir alsdann die rauheren Nachtſtunden zufielen.
Er wurde dringend und wollte endlich — gern die
untergehende Sonne ſehen.
Wie wunderbar mir auch der Wunſch bei dieſem
Menſchen vorkam, ſo war ich doch ſchon im Nachge-
ben, als der Oberjäger der Wacht, welcher gegen ihn
eine Abneigung hatte, dazwiſchen trat und den Tauſch
gänzlich unterſagte. Storchmeier wurde hitzig; er ant-
wortete in beleidigenden Ausdrücken. Während ein
heftiger Wortwechſel ausbrach, zog der Gefreite mit
den Poſten ab. Erſt bei der Ablöſung erfuhr ich den
weitern Verlauf. Der Jäger hatte ſich in der Hitze
ſo weit vergeſſen, den Hirſchfänger zu ziehen, worauf
er als Arreſtant in’s Lager zurückgebracht worden. Zur
ſelben Zeit hatte ſich der unangenehme Vorfall ereig-
net, daß ein ſehr junger Freiwilliger, ermattet von der
Mittagshitze, auf dem äußerſten Vorpoſten eingeſchla-
fen, und ſo vom Chef des Belagerungscorps bei einer
Runde überraſcht worden. Nur ſeine große Jugend
hatte ihn vor der härteſten Strafe gerettet, aber der
Sinn des Generals war hierdurch gegen jedes Subor-
dinationsvergehen gereizt. Nach dem Spruche eines
Kriegsgerichtes wurde der Jäger in eine entfernte Fe-
ſtung zu langwierigem Arreſt abgeliefert. Jch habe
Storchmeier ſeitdem nicht mehr geſehen, glaube aber,
daß ein Gerücht nicht ungegründet iſt, demzufolge er
bei’m Verſuch zu entſpringen, oder einem noch gefähr-
lichern Attentate das Leben verloren hat. Er war ein
Menſch, der auf der Gränze zwiſchen Leichtſinn und
Schlechtigkeit ſtand. Bei mehr Bildung hätte er ge-
fährlich werden können. Aus manchen Umſtänden ging
hervor, daß man ihn gern ſchonen wollen, weil man
ihn vielleicht ſelbſt bei früheren Gelegenheiten gebraucht.
Diesmal lag ſeinen Schlichen wol kein Verrath zum
Grunde, indem, wozu er ſich brauchen ließ, moraliſch
grade nicht als ſtrafbare Dienſtleiſtung erſcheint. Er
erntete nur den Lohn für einen ganzen verkehrten Le-
benswandel.
Mein Poſten war dieſen Abend derſelbe, auf wel-
chem ich vor einigen Wochen zum erſten Mal den ge-
heimnißvollen Franzoſen geſehen. Aber diesmal ſchien
er mir weit anders als in jener Nacht. Am heiter-
ſten Herbſttage ging eben die Sonne unter, und pur-
purn lagen zu meiner Rechten jenſeits der Maas die
reichen Felder; die von den Spaniern kühn auf nack-
ten Felſen gebauten Mauern von Charlemont glühten
in derſelben Farbe, und die Thurmſpitzen der Stadt
ſchimmerten golden aus dem zart gefärbten Herbſtnebel
vor. Auch meine Gedanken nahmen eine jener melan-
choliſchen ganz entgegengeſetzte Richtung. Jch träumte
und monologiſirte von Glück, Friede und Freiheit, und
nicht die ſanfteſten Wünſche begleiteten den Heros, wel-
chen in dieſem Augenblicke der Northumberland über
den Ocean trug.
Der Poſten war eigentlich auf der Landſtraße,
welche ſich rechts um einen Hügel bog, und zum Fe-
ſtungsthore führte. Jn meinem Entzücken, welches ich
gern der ganzen Welt mitgetheilt hätte, war ich unbe-
merkt bis an den Vorbug vorgeſchritten, und ſah jetzt
zu meinem Schrecken kaum zehn Schritte von mir
entfernt zwei Franzoſen aus der Feſtung ſtehen; der
eine war der Vorpoſten, der andre ein in einen Man-
tel gehüllter Officier. Es war eine ſtarke Geſtalt.
Sein braunrothes Geſicht wurde durch den dunkeln
Backenbart nndund die hohe Bärenmütze noch wilder als
es von Natur ſeyn mochte. Bei der Begegnung war
eigentlich nichts Auſſerordentliches. Oft ſtoßen Vorpo-
ſten zuſammen, ohne immer verpflichtet zu ſeyn, in per-
ſönlichen Feindſeligkeiten, die ihrer Heere auszumachen.
Hier, wo beide Theile des Krieges müde waren, deſſen
Grund längſt weggefallen, kam es nicht ſelten, daß die
Vorpoſten ſich freundſchaftlich unterhielten. Die Fran-
zoſen, meiſt junge Rekruten, geſtanden ihr Herzensver-
langen, bald nach Hauſe zu kommen. Man trieb ſo-
gar einen Tauſchhandel. Aber die Beiden ſchienen auf
etwas Anderes zu deuten. Mechaniſch hatte ich meine
Büchſe geſenkt und rief: „Halt, werda?“ — Der Of-
ficier lachte, und antwortete in gebrochnem Deutſch:
„Du ſiehſt ja wer! Fürcht’ Dich nix, Jägerlein!“ —
Jch erwiederte mit möglichſt barſchem Tone: „O nein, ich
fürchte Niemand.“ — „Und ich auch nicht,“ fuhr er mit
ernſterer Stimme franzöſiſch fort, „denn wohl bewahrt
liegt drinnen mehr geſchrieben, als mein Mund verra-
then kann. Aber laß auch Dein Gewehr herunter.
Jch rede nicht gern, wenn mir die off’ne Mündung
zugekehrt iſt.“ —
Jch gehorchte ohne zu wiſſen warum, ſeinem Be-
fehle. „Du kennſt mich doch?“ fragte er von Neuem.
„Warum nicht?“ erwiederte ich, als gehöre hier eine
kecke Bejahung mit zur Ehre der preußiſchen Schild-
wacht. Darauf fuhr er mit drohender Stimme fort:
„Nun ſo ſage ihm, wenn er in Zeit eines Monats
nicht vierzig tauſend Franken zahlt, ſo — nun er wird
mich verſteh’n. Sage ihm, ich hielte Wort. Sage
ihm, daß mich eine Flintenkugel nicht ſtumm kann ma-
chen, denn ich habe zehn Zungen die länger als ich
leben. Erſt wenn er ſie baar zahlte, wollte ich die
Briefe in ſeiner Gegenwart vernichten. Sage ihm,
daß Zeiten in Frankreich kommen werden, wo die bra-
ven Leute theuer werden, und er einen Mann mit
eben ſo viel Louis nicht aufwiegen wird. Sage ihm
das Alles, es wäre mein Ultimatum und ſeiner Be-
ſuche wäre ich überdrüſſig, auch wollte ich keine Un-
terhändler — Geld — Geld! Nun Gott befohlen.“ —
Damit wandte er ſich um, und erreichte grade das
Thor, als mich der Gefreite von meinem Poſten ablöſte.
Andere würden vielleicht an meiner Stelle, durch
die Anhäufung des Geheimnißvollen, dagegen abge-
ſtumpft worden ſeyn. Mir wurde, je mehr ich er-
fuhr, immer unheimlicher zu Muthe. Jch fühlte mich
nicht mehr gedrungen, irgend Jemandem, was auf mir la-
ſtete, mitzutheilen, aber es war mein ſehnlicher Wunſch,
aus dieſem Kreiſe herausgeriſſen zu werden. Die-
ſer ſchien auch durch die angenehme Nachricht er-
füllt zu werden, daß unſer Regiment die Winterquar-
tiere beziehen ſolle. Mit welcher Luſt verbrannten wir
in der letzten Nacht unſere Hütten, und tanzten, Ab-
ſchied- und Spottlieder ſingend, um die himmelhohen
Strohflammen, bis das Horn zum Aufbruch rief. Aber
die Luſt verrauchte bald wie jenes Strohfeuer. Jn
langwierigen, beſchwerlichen Tagemärſchen, durchirrten
wir die herbſtlichen Ardennen, und es ſchien, als ſollten
wir, gleich den Juden, durch eine Wüſte geführt wer-
den, ehe wir gereinigt das gelobte Land der Cantonni-
rungen erreichten. Welch’ ein mühſames Hinaufſtei-
gen durch von Regen und Giesbächen durchwühlte
Hohlwege! Noch zuletzt alle Beſchwerden des Krieges
ohne ſeinen Glanz und ſeine Reize. Der Torniſter
zog die Schultern zuſammen, und der Regen drang
bis auf die Haut. Wenn mir dann zufällig eine frohe
Stelle aus einem Dichter einfiel, ſuchte ich mit wah-
rem Jngrimm das Gedächtniß daran zu vertilgen. Jch
konnte mich über Göthe’s Lieder ärgern. „Wenn er
nur hier wie ich im Lehm gewatet hätte, würde er
auch nicht ſo geſungen haben.“ Es klang mir, obgleich
ich deſto lauter lachen mußte, wie ein Spottgedicht
auf mich, wenn ich oben auf trocknen Boden gekom-
men war.
Ein Dorf, deſſen kümmerliche Hütten weit zer-
ſtreut in einer bergigten Moorgegend lagen, wurde in
der Gegend von Aubenton endlich unſerer Compagnie
zur Cantonnirung angewieſen. Mein ſtummer Führer
brachte mich zu einer in wilden Hecken verſteckten Hütte,
welche eine volle Stunde vom Verſammlungsplatze,
und eine halbe Stunde von jeder menſchlichen Woh-
nung entfernt lag. „Hier iſt Jhr Quartier:“ ſagte
er in der reinſten franzöſiſchen Mundart, und verließ
mich ſo an der Thüre. Jch blickte verwundert der ho-
hen Geſtalt des Landmanns nach, deſſen Sprache und
Benehmen einen andern Urſprung als aus dieſem Dorfe
zu verrathen ſchien. Erſt als ich ihn aus dem Auge
verloren, öffnete ich die Thür. Es war kein einladen-
der Anblick. Das Landvolk der Picardie, obgleich civi-
liſirter und auch wohlhabender als wenigſtens das der
Champagne, gehört doch zu dem ärmſten in Frank-
reich. Der ſteinige wenig bebaute Boden liefert von
Getreidearten faſt nur Hafer. Die Bewohner nähren
ſich von der Schweinemaſt, und ihr einziges Getränk
iſt der Cider, welchen ſie, für Fremde kaum genieß-
bar, aus den reichlich und halb wild ihnen zuwachſen-
den Aepfeln bereiten. Jn ihren Bergſchluchten, von
den größeren Heerſtraßen entfernt, und faſt ohne Unter-
richt der Jugend, ſcheinen ſie, in der Lebensart und ihrem
häßlichen Patois, der Civiliſation entfremdet. Aber das
franzöſiſche leicht aufbrauſende Blut duldet wenigſtens
nicht den gehäſſigen Anſtrich der Rohheit. Behendig-
keit leiht einen Schein von Bildung, und der patrio-
tiſche Stolz iſt ſeit der Revolution auch ein Bewohner
der Hütten.
Der Zugwind hatte, als ich die Thür öffnete, den
Rauch aus dem Schornſtein in die enge Stube zurück-
getrieben, und ich ſah von ihm ſchwarz umhüllt am
Feuer des Kamins ein häßliches altes Weib mit einer
wo möglich noch häßlichern Tochter und einem jungen
Burſchen ſitzen. Sie ſahen ſich nach mir um, mur-
melten einige unverſtändliche Worte, und blieben in
ihrer vorigen Ruhe. Ein Soldat im Felde fragt, wo
er als Sieger eintritt, wenig nach freundlichem Em-
pfang, doch befremdete mich dieſe Aufnahme. Dem
Aeußern nach zu urtheilen, konnte ich wenig erwarten,
und es war keine tröſtliche Ausſicht, wenn das We-
nige noch erzwungen werden mußte. Jch warf mei-
nen Torniſter ab, und forderte etwas Warmes. „Wir
haben nichts gekocht,“ war die Antwort. Jch forderte
Brod und Butter. „Wir haben keine Butter.“ —
Jch forderte zu trinken, und die Tochter entgegnete:
„draußen im Brunnen iſt Waſſer.“ Solchem Em-
pfange zu begegnen, und aus dem Felſen Quellen zu
ſchlagen verſtanden wol meine Cameraden; mir ging
die Luſt dazu ab. Jch begnügte mich, der Wirthin et-
was Kaffe, den ich bei mir führte, zu geben, und wäh-
rend ſie ihn in einer Eierkuchenpfanne, dem einzigen
dazu tauglichen Geſchirre, über dem helllodernden Feuer
ſott, ſtreckte ich mich zum Schlafen nieder. Das Bild
der alten Frau, wie ſie, gebückt am Feuerrande, die
Pfanne ſchüttelte, und mit dem häßlichen Geſicht über
dem Getränk lag, verließ mich auch im Schlafe nicht.
Die glotzenden Augen der Tochter verfolgten jede auf-
ſteigende Blaſe. Jch glaubte in Macbeth’s Hexenküche
gerathen zu ſeyn.
Es war ſchon finſter geworden als ich aufwachte.
Die mürriſchen Hausgenoſſen ſaßen ſchweigend wie zu-
vor um das Kaminfeuer. Jhr Anblick war durch die
wechſelnde Beleuchtung der letzten aufzitternden Flam-
men nur noch geſpenſterhafter. Ohne ein Wort zu
ſprechen, wies die Tochter in einen Winkel, wo mein
übelbereiteter Kaffee mit geröſtetem Brote ſtand. Von
Zeit zu Zeit brachte mir der Knabe Aepfel, welche zu
braten das einzige Geſchäft der Weiber war. Dazu
herrſchte eine Todtenſtille bis auf den einförmigen Ton,
wenn der Regen auf das Dach tropfenweiſe fiel. Jch
wünſchte mir die franzöſiſche Redſeligkeit, welche mich
ſonſt wol zur Verzweiflung gebracht, unter dieſe Wei-
ber. Mir ſchien, als deute dieſe Bezwingung ihrer
eigenthümlichſten Natur an, daß ein ſchwerer Vorſatz
die Gemüther beſchäftige. Sie blickten mich von Zeit zu
Zeit verſtohlen an; die Alte ſchien mehreremal ſprechen zu
wollen, aber ich kam ihr zuvor und machte der beeng-
ten Bruſt Luft: „Jſt es wohl recht, daß ein müder
und hungriger Soldat wie ein Hund von Euch aufge-
nommen wird? Eure Franzoſen verſtanden es beſſer,
die Speiſekammern zu finden, als ſie bei uns waren.“
— „Wir haben nichts,“ erwiederte die Mutter. —
„Die Preußen haben Alles genommen und verzehrt,
und wir müſſen verhungern,“ ſetzte die Tochter hin-
zu. — „Wie dann, Alte, hätten wir deinem Sohne
auch nur trocken Brod vorgeſetzt?“
Dies zündete, ohne daß ich wußte weshalb. Die
Alte hielt ſich nicht mehr; franzöſiſche Sprechluſt und
mütterliche Eitelkeit trugen den Sieg davon, und mit
funkelnden Augen folgte ein Redefluß: „Mein Sohn,
ja mein Sohn, das muß alle Welt wiſſen, mein Sohn
war immer ein braver Soldat. Jn Preußen, in Baiern,
in Jtalien und in Berlin, wiſſen Sie von meinem
Sohn zu erzählen, von meinem Sohn dem Capitain;
ja alle Welt weiß von ihm, nur der König will nichts
von ihm wiſſen. Aber der König iſt in Gent gewe-
ſen, und hat nicht geſehn, wie mein Sohn bei Fleurus
gefochten hat. Als mein Sohn der Capitain noch für
den Kaiſer gefochten hat, waren gute Zeiten für das
arme Frankreich; da war noch keine fremde Einquar-
tierung, und wir konnten unſern Wein trinken; aber
mein Sohn, der Capitain, hat oft hungern müſſen für
ſeinen Kaiſer, und in Deutſchland hat’s keinen Wein
gegeben, und er hat frieren und hungern müſſen in
Rußland, wie ein gemeiner Soldat; aber der Kö-
nig läßt ihn nun auch hungern, weil er bei Fleurus
ſich wie ein Franzoſe gehalten hat. Der König hat
Viele beſchenkt, die bei Fleurus nicht für das arme
Frankreich gefochten haben; aber mein Sohn, der Ca-
pitain, hat wie ein Capitain gefochten, und man hat
ihm Alles genommen.“ —
Die erfreute Mutter würde noch lange fortgefah-
ren haben von ihrem Sohne, dem Capitain, zu erzäh-
len, hätte man nicht draußen die Hofthüre zuſchlagen
gehört. „Jetzt kommt er,“ rief ſie und machte die
Stubenthür auf, durch welche, eine Flinte um die Schul-
ter, mein großer Führer eintrat. Der Franzoſe ſetzte
ſich, mit einem trüben bon soir auf einen Schemel am
Feuer, und wärmte ſeine Hände. Die Erſcheinung des
Capitains war keinesweges geeignet, mir mehreres Ver-
trauen zu meinen Wirthen einzuflößen. Obgleich in
ſeinen Zügen nichts Unedles und Bösartiges lag, ſo
ſchwebte doch immer auf den Lippen ein höhniſches Lä-
cheln; er ſang ein Liedchen, wies die Zähne, und ſchien
in der Unterhaltung mit ſich ſelbſt die Umſtehenden zu
vergeſſen. Er langte ein Paar Rebhühner aus der
Jagdtaſche und ſagte: „Hier Mutter! Etwas von den
Feldern des Maire.“ — „Um Gottes Willen, Mat-
thieu, wenn es Dir nur nicht einmal ſchlimm zu ſtehen
kommt:“ — Er erwiederte: „Wenn der König uns ver-
bietet, das Blei gegen unſre Feinde zu brauchen, ſo
müſſen die Freunde zuſehen, daß ſie’s nicht auf den
Pelz bekommen.“ Beim Worte Freunde grinſte er
ganz beſonders und blickte auf mich.
Jch nahm Torniſter und Büchſe, und forderte mein
Nachtlager. Der Capitain nahm ſelbſt die einzige Lampe,
und geleitete mich in die Nebenkammer, wo unter duf-
tenden Aepfelhaufen ein Lager von Strohmatratzen berei-
tet lag. Vor ſeinen Augen lud ich meine Büchſe,
legte ſie und den Hirſchfänger auf einen Tiſch neben
dem Bette und mich angezogen auf daſſelbe. Darauf
hieß ich ihn mit den Worten: „Jch hoffe eine gute Nacht
zu haben,“ gehn, und er wünſchte mir „eine ſichere
Nacht.“
Sein höhniſches Geſicht überzeugte mich nicht, daß
meine Vorſicht unnütz ſey. Jn dieſen zerſtreuten Wald-
dörfern hatte der Trommelſchlag viele unſerer Solda-
ten vergeblich zum Sammelplatz gerufen. Mancher,
der am Abend noch geſund und friſch zwiſchen den
Hecken verſchwand, auf dem Wege nach ſeinem fernen
Quartier, war nie wieder zum Vorſchein gekommen.
Ein ſchneller Abmarſch ſchützte die Mörder vor jeder
Nachſuchung. Es war keine unnatürliche Gedanken-
folge, die den Einſchlummernden überſchlich: „Keiner
meiner Kameraden weiß mein Quartier. Mein Führer
riß mich heftig fort. Er iſt Soldat, ein misvergnüg-
ter, entlaſſener. Dies rohe Landvolk würgte mit kal-
tem Blute ſeine Brüder in der Revolution. Was gilt
ihm ein Feind des Vaterlandes? Dieſe Hecken ſind an-
gepflanzt zu heimlichen Mordthaten; in dieſer abgele-
genen Hütte hört Niemand das Todesgeſchrei. Unter
dem Apfelbaum verſcharrt, Raſen darauf gelegt, wer
fragt in Ewigkeit nach dem Fremden?“ Aber ich ſchlief
doch ein.
Jch wachte auch wieder — und nicht erſchlagen —
auf. Aber nicht der Capitain, und nicht der Sonnen-
ſtrahl weckten mich, ſondern der Regen, welcher unun-
terbrochen gegen das einzige Fenſter anſchlug. Jch ſtand
auf. Jm Zimmer brannte kein Feuer, und keine menſch-
liche Seele war im Hauſe zu errufen. Jch fachte mir
ſelbſt ein Feuer im Kamine an, einige Aepfel aus der
Schlafkammer zum Frühſtück zu röſten. Meine Uhr
zeigte acht, neun, zehn, elf, und Niemand kam nach
Hauſe. Der Regen rieſelte ohne Aufhalt, der Wind
warf die letzten gelben Blätter von den Aepfelbäumen,
und ein dicker Nebel hatte ſich auf die Umgegend ge-
lagert. Es war mir unmöglich, mich nur zehn Schritt
über den Hofraum hinaus zurecht zu finden, ich mußte
wider Willen in meiner trüben Einſiedelei bleiben.
Die alte Melancholie erwachte, ich warf mich an den
Kohlen nieder. So unbehaglich war mir noch nie zu
Muthe geweſen. Die Beſorgniß war verſchwunden;
die Schrecken einer troſtloſen Einförmigkeit umſtarrten
mich. Wie wenn das Grau, und der Regen und der
Nebel im November immer dauerten! Wenn das die
Ewigkeit wäre, ein Schlummer, Träume und kein Er-
wachen! Zehn, hundert, tauſend Jahre ſo zu leben, —
und Niemand klopfte an die Thüre, nicht einmal ein
Hofhund bellte. Es lag das drückende Gefühl der
Unthätigkeit zum Grunde, in einem Alter, wo der Ge-
danke noch nicht reif iſt, und das Verlangen phyſiſch
und geiſtig erwacht, ohne noch ein Ziel zu kennen. Jch
phantaſirte vom Veilchen im Grünen, vom Verduften,
vom
vom Nimmerwiederkehren in die Heimath, als mit ei-
nem male alle Melancholie verſchwand.
Jch hörte die Schweine im Stalle grunzen. Es
war der Hunger geweſen, der ſo laut mitgeſprochen.
Mit dem Gedanken, eines zu ſchlachten und auf gut
homeriſch eine Mahlzeit zu bereiten, ſprang ich auf
und zog den Hirſchfänger. Aber noch im ſelben Au-
genblicke beſann ich mich eines beſſern: „Nein! ſo
ſchwer dürfen die armen Leute doch auch nicht ihre
Sorgloſigkeit büßen. Jch will mich begnügen die Reb-
hühner zu braten.“ Ein Koch würde über meine Ge-
ſchicklichkeit gelacht haben; ich hätte aber meine ver-
brannten Rebhühner nicht für das köſtlichſte Gericht
vertauſcht, denn ihre Zubereitung ließ während vier
Stunden auch keinen einzigen trüben Gedanken auf-
kommen.
Gegen fünf Uhr trat endlich die ganze Familie
in das Haus, jeder mit einem kleinen angefüllten Korbe
beladen. Sie waren von früh morgens an in den
Wald gegangen, um die reifen Buchnüſſe aufzuſam-
meln, die ſie theils zur Mäſtung der Schweine, theils
zur Bereitung ihres Oels gebrauchen. Unter dieſer
kümmerlichen Beſchäftigung vergehn oft Wochen. Sie
blickten mit ſchmerzlicher Verwunderung auf die Reſte
der Rebhühner. Der Capitain lächelte zur Mutter:
„Er gehört zu dem Blute der ci-devant sieurs. Die
verzehrten auch lachend, was Andre mit Schweiß und
Blut erworben, und derentwillen kommen ja die Her-
ren.“ —
Jch wurde roth, und ſchämte mich faſt, den ar-
men Leuten auch nur die Rebhühner genommen zu ha-
ben; aber dies Gefühl verſchwand, als der Capitain,
wie es ſchien, um mich zu ärgern, pfeifend umherging
und ein franzöſiſches Liedchen ſang: O Waterloo! der Feldherr liegt,
Jhr Sieger habt ihn nicht beſiegt!
Als jeder Bürger war ein Held,
Und Freiheit mit dem Ruhm geſellt,
Vor wem, Despoten, von Euch allen,
Jſt unſer junger Held gefallen?
Es zwang die Ehrſucht ihn allein:
Der Heros wollte König ſeyn.
O Waterloo! der Feldherr liegt,
Jhr Sieger habt ihn nicht beſiegt.
Dies wurmte mich gewaltig; ich wandte mich um, und
rief auf Deutſch: „Hätte Jch euren Tyrannen gefan-
gen, ſo würden wir keine Jnſel für ihn brauchen.
Die Franzoſen werden niemals klug und niemals frei
werden.“ — Der Capitain hatte mich verſtanden. Er
ſchielte nach mir herüber: „Nein, von den Deutſchen
werden wir’s niemals lernen, wo der Bauer an den
Pflug geſchmiedet iſt, und der Baron prügeln lernt,
um ſein Vaterland zu vertheidigen. Heil Dir, großer
Napoleon, weil Du Kraft und Verdienſt erkannt; und
Fluch dem Wespen- und Spinnengeſchmeiß, das Dein
Adlerneſt verklebt hat!“ Neben der ſtarren Wildheit
lag doch etwas Großartiges in dem Geſichte des Man-
nes. Es ſah aus wie Eines, der alle Grade der Fol-
ter hätte ausſtehen können und doch nichts bekannt
hätte. Der Mann war an Jahren, Lebenserfahrung
und Kraft mir unendlich überlegen, aber es peinigte
mich doch, den Hohn wenigſtens nicht ſchweigend hin-
zunehmen. Jch trat ruhig auf ihn zu und ſagte auf
Deutſch, daß es die Frauen nicht hören ſollten: „Wißt
Jhr, daß Euch die Aeußerung den Tod bringen kann,
wenn ich Euch angebe.“
Er ſah mich eine Weile an, als ſollten ſeine Blicke
mich durchbohren. Dann wurden die Züge milder,
und es kam nicht allzubarſch heraus als er ſagte: „Sie
ſind ſechszehn Jahr alt. Jch heiße Delabelle und war
Capitain. Drüben im Schloß wohnt der Maire. Er
wird Sie willig anhören.“ Er warf einen Schemel
gegen den Kamin, ſetzte ſich mit Gewalt darauf, und
ſtarrte, ohne ein Wort zu ſagen, in die Kohlen. So
blieb er wie eine Bildſäule den ganzen Abend.
Jch habe ihn nicht angezeigt. Aber die Gewohn-
heit gab der Hütte kein freundlicheres Anſehn. Die
Einförmigkeit laſtete täglich drückender auf den jugend-
lichen Sinn. Es drang kein Sonnenſtrahl mehr durch
den Novemberhimmel. Beim Appell harrten wir Abend
um Abend vergeblich der Rückmarſchordre. Jch las in
den Nibelungen, dem einzigen Buche, was ich mit mir
im Torniſter führte. Der grandioſe Zauber der Ein-
fachheit, der durch dies Epos weht, hat aber in jenen
Jahren noch wenig Reiz; es war noch kein Ueberreiz
da, der eine Rückkehr verlangt zur Einfalt.
Faſt vierzehn Tage vergingen, und ich ſaß mit
der ſchweigenden Familie vierzehn Tage lang, täglich
im Halbkreiſe und ſtarrte ſchweigend, wie ſie, auf die
Kohlen. Nur zuweilen kochte die Redſeligkeit der Frau
wie das Waſſer in der Marmite über. Dieſe hing,
ein ſchwerer eiſerner Keſſel, das einzige Kochgeräth in
dieſen Hütten, vom Morgen bis Abend in der Eſſe.
Zuerſt wurde drin die Mahlzeit für jene ſonoren Haus-
thiere abgekocht, die mich letzthin aus der Melancholie
erweckt; dann, wenn die Kartoffeln ausgeſchüttet, warf
man die Stoffe zu unſerem einzigen Gericht hinein.
Kraut, Kohl, Bohnen, Erbſen, Rüben, alles was ſich
in der Hütte eßbares fand und mit Waſſer kochen
ließ. Dies giebt die soupe de légume, die Nahrung,
Stärkung und Leckerei dieſer armen Leute. Selten,
daß Fleiſch dazu kommt; Pfeffer, höchſtens ein Stück
Speck, muß ſie würzen, und geröſtete Brotſcheiben that
man zur Ehre des Gaſtes hinein. An demſelben Ge-
richt wird den ganzen Tag über gekocht; allenfalls
bleibt der Keſſel auch noch zum folgenden hangen. Aber
um den Simms prangte eine Reihe der ſchönſten Aep-
fel. Es diente zur Unterhaltung, wenn einer aufſiedete.
Man wettete wohl und die Zeigefinger deuteten drauf
hin, aber mir erwies man die Ehre die beſten für
mich auszuwählen.
Der Capitain theilte das trüb unthätige Leben
der Familie. Er war nicht glücklich, das konnte man
auf den erſten Blick ſehen. Doch mochte ihn noch An-
deres drücken außer dem allgemeinen Schickſal ſeiner
Standes- und Meinungsgenoſſen. Ueber ſeinen ſchwar-
zen Brauen brütete etwas, und die Mutter ſprach oft
mit ihm geheim. Mit der Leichtigkeit des Franzoſen
ſich in alle Verhältniſſe zu finden, ertrug auch er die
Beſchränkung. Napoleon’s Officier konnte dem Preu-
ßiſchen Volontair helfen ſeine Büchſe putzen, ſein Ban-
delier poliren, er konnte ſcherzen über ſein Glück von
ſonſt und über das Hemde und die hölzernen Sabots,
die er heute trug; aber plötzlich fachte es in ihm auf,
die ganze Gluth des Südens ſtieg in ſein Geſicht und
die Fauſt ballte ſich. Ein leiſes Wort konnte dieſe
Verwandlung hervorbringen. Er ging mit etwas Ge-
heimem um. Jn der Nacht hörte ich einmal ein Pfei-
fen vor der Thüre, es rief: „Delabelle!“ Der Capi-
tain fuhr aus der Bodenkammer über mir hinunter.
Eine ſehr ernſte Berathung ſchien draußen im Gange;
wiewohl ich nur wenig davon verſtand, hörte ich doch
die Worte: „Mord nndund Flucht“ deutlich heraus. Ge-
gen mich war es nicht abgeſehen. Aber die Zuſam-
menkünfte wurden immer häufiger, der Capitain zeigte
jeden Morgen darauf eine finſtere Stirn. Jn Gedan-
ken verloren, hörte er nicht auf meine Reden. Er
prüfte meine Büchſe, legte an, und einmal hörte ich
ihn für ſich ſprechen: „Ein Druck, und es iſt abge-
than.“ Ein Franzoſe, der brütend über ſeine Gedan-
ken, ſich und das Leben vergißt, iſt eine gefährliche Er-
ſcheinung.
Jch behorchte wider Willen noch ein Zuſammen-
treffen. Jch hörte die Worte heraus: „Dein Haus
kannſt Du nicht in die Taſche ſtecken; wie wenn Deine
Mutter und Schweſter — Die Antwort des Capitains
nahm der Wind hinweg; ſein Ton, der Tritt mit dem
er in’s Haus zurückkehrte, deuteten aber an, daß ihn
die Vorſtellung in einem gefaßten Entſchluſſe nicht wan-
kend mache. Noch einmal umfaßte mich der Schlaf,
aber mit den Armen des Alps. Mein todter Freund
lag an meiner Bruſt, ſeine blauen Lippen öffneten ſich
umſonſt, er brachte keine Töne hervor. Aber es war,
als wollte er mit Anſtrengung aller ſeiner Kräfte mich
fortreißen. Er zeigte nach der Ferne, und ich ſah ein
Schloß, hell erleuchtet uudund drinnen zechte man. Er
riß mich endlich auf und verſchwand. Während ich
noch dem ſonderbaren Traume nachſann, der alle vori-
gen Schreckensbilder weckte, klopfte es an mein Fen-
ſter. Ein Jäger, den der Weg aus noch entfernterer
Hütte zuweilen hier vorbeiführte, fragte haſtig herein:
ob ich denn das Allarmzeichen nicht gehört? Der Hor-
niſt blaſe ſchon ſeit einer halben Stunde jenſeit der
Hecken die Jäger zuſammen. Er glaube, es gelte den
Aufbruch aus den Cantonnirungen. Jch war ſchnell
gerüſtet und ſtürmte über Hecken, Moorwieſen und
Gräben, nicht ohne mich zu verirren, dem Sammel-
platze zu. Mit Tagesanbruch ſtand ich dort, um, wie
ſo Viele, zu erfahren, daß es nur ein falſcher Allarm
geweſen. Die meiſten hatten ſich wieder zerſtreut. Jch
aber war entſchloſſen nicht in mein Quartier zurückzu-
zukehren. Phantaſie und Erinnerung beſtürmten mich
mit der Vorſtellung, dies ſey das Haus, worin ***
eine Erfahrung gemacht, die er mit ſich in das Jen-
ſeits hinübergenommen. Die zweifelhafte Erſcheinung
dieſes Delabelle, konnte ſie nicht verwandt ſeyn mit der
des Terroriſten? Stand mir dort nicht eine neue Ka-
taſtrophe bevor, ganz geeignet, den aufgeregten Sinn
zu verwirren, wie den meines ſeligen Freundes. Nach-
dem ich bei einigen Cameraden verweilt, ſchlug ich den
Weg zum Schloſſe ein, wo unſer Capitain lag, mit
der Abſicht, um ein anderes Quartier zu bitten.
Jch trat gerade in den Speiſeſaal als die Schloß-
geſellſchaft beim Nachtiſch der reich beſetzten Tafel ſaß.
Es brannten ſchon mehrere Armleuchter auf der lan-
gen Tafel, ſo daß ich mich nicht gleich in dem mir
ungewohnt gewordenen Glanze zurecht fand. Jch er-
kannte außer den Officieren noch einige Jäger, welche
zu ihrer näheren Bekanntſchaft gehörten, und ſo die
Begünſtigung, im Schloſſe znzu wohnen, erlangt hatten.
Andre Hausgenoſſen ſaßen nebſt dem Schloßbeſitzer und
Maire unter den Officieren vermiſcht, und die leeren
Weinflaſchen ſchienen Leben in der Geſellſchaft ver-
breitet zu haben. Um meinen Antrag zu rechtfertigen,
konnte ich nicht umhin, einiges von dem zu erzählen,
was mir in meinem vorigen Quartier auffällig ge-
weſen. Jch fügte etwas hinzu von der Armuth und
dem augenſcheinlichen Haß gegen die Preußen. Der
Maire verzog ſeinen Mund zum Lächeln; der Haupt-
mann aber verſicherte, ich ſollte nicht mehr unter
den Canibalen bleiben. Er bat Jenen, mich auch
unter den Gäſten ſeines befreundeten Schloſſes aufzu-
nehmen und kredenzte mir zum Willkommen ein Glas
Wein. Der Maire verſicherte, mit Vergnügen mich
aufzunehmen, wenn ich bei der Ueberfüllung mit ver-
ehrten Gäſten mit beſcheidenem Platze vorlieb nehmen
wolle. Dann ſetzte er hinzu mit gen Himmel gerich-
tetem Blicke:
„Jch kenne dieſen Capitain Delabelle; ich wage
es aber kaum etwas Schlimmes über ihn zu äußern,
weil die Verbindungen der Böſen wie das Unkraut
überall Wurzel ſchießen, und wir nicht wiſſen, wenn
wir zu unſerm Freunde zu reden glauben, ob uns nicht
der vergiftete Hauch eines Gottesläugners oder Kö-
nigsmörders entgegen weht. Was iſt aus dieſem Frank-
reich geworden, wo die Spötter zu Gericht ſitzen, und
die Gerechten kaum im Stillen zu beten wagen? De-
labelle hat ſich durch rohe Tapferkeit aus dem niedrig-
ſten Bauernſtande unter dem Uſurpator zum Capitain
aufgeſchwungen; aber in ſeiner neuen Würde neben
dem bäueriſchen Stolz die frevelhaften Grundſätze der
Revolution bewahrt. Jch zweifle nicht, nach dem, was
der junge Mann uns erzählte, daß er unter ſeinem
Strohdach nicht zum ſicherſten aufgehoben war. Die
Rachſucht dieſer Emporkömmlinge wird nur durch ihre
Ehrſucht in Schatten geſtellt. Jhr Jdol iſt durch
Jhre Tapferkeit, meine Herren, geſtürzt, aber noch gäh-
ren die frevelhaften Geſinnungen aus den Zeiten des
Unglaubens und der Gottesläſterung, wo keine Tugend
aus dem Nebel der Gleichheit hervorleuchten durfte.“
Der Maire lud mich nun mit einer ungemein
freundlichen Wendung ein, am Tiſche Platz zu neh-
men. Der Hauptmann meinte, wenn es ſich ſo ver-
halte, könne es damit doch nicht abgemacht ſeyn, und
die Sache gegen den Kerl müſſe unterſucht werden. Der
Maire aber beugte ſich, und ſprach in demüthigem Tone:
„Meine Herren, ich bitte, um meinet- und unſe-
rer heiligen Religion willen, laſſen Sie für diesmal
die Sache auf ſich beruhen. Mit einem Wort: er iſt
mein Privatfeind. Jch wünſchte nicht, daß es hieße,
ich hätte ihn den Feinden des Vaterlandes verrathen.
Sie wiſſen, in dieſem Lichte iſt eine Faction, die Thron
und Altar zu erniedrigen ſucht, bemüht, unſere Be-
freier der verblendeten Nation vorzuſtellen. Es kämen
vielleicht viele üble Dinge zur Sprache. Gott bewahre
Sie und Jeden vor denen, die keine Religion haben.“
Der unterwürfige Ton paßte ſchlecht mit der gi-
gantiſchen Geſtalt und der Stimme des Sprechenden;
auch war es ſichtlich, daß er einen ganz andern Aus-
gang erwartet hatte, als der fröhliche Hauptmann die
ganze Sache mit den Worten ſchloß:
Abgemacht! was hängen muß, wird hängen; wir
aber wollen trinken und offenherzig ſeyn. Und um
mit letzterm anzufangen, frage ich Sie: Sind Sie ein
Engländer oder Franzoſe? Noch immer keine Damen,
trotz Jhrem Verſprechen, am Tiſche. Sie ſind ein
vortrefflicher und ein charmanter Mann, aber eine Dame
ſind Sie darum noch nicht. Jhr Keller iſt auch vor-
trefflich, aber eine Dame iſt er auch nicht. Und der
Wein allein vertreibt nicht den Trübſinn in der ver-
dammten Ardennenſchlucht! Warum erſcheint Jhre
Nichte nicht bei Tiſche?“
Der Wirth ſenkte ſeinen Blick, und antwortete
mit leiſer Stimme: „Sie iſt beſtimmt, den Schleier
zu ergreifen, und wünſcht in ſtiller Betrachtung die
Tage bis zu ihrer gelobten Einweihung zu verbringen.“
Dazu faltete der Maire die Hände. Während
der Hauptmann entgegnete: „Jeder nach ſeinem Ge-
ſchmack“ und leiſe ein „Freut euch des Lebens“ an-
ſtimmte, worin allmählich die Deutſche Tiſchgeſellſchaft
einſtimmte, ſchnitt er bedächtig die Käſerinden in viele
künſtliche Theile, und es war, als ruhe in jedem Theil-
chen eine ſchwere, räthſelhafte Aufgabe, ſo emſig theilte
er und theilte wieder.
Der Abend am Kaminfeuer verging heiter. Der
Wein hatte die deutſchen Gemüther aufgeräumt, und
der Maire war ein angenehmer Geſellſchafter, ſobald
er die ſteifern Förmlichkeiten ablegen zu dürfen glaubte.
Martin Jblou de St. A*** war näher den ſechzigern
als den funfzigern, von ſtarkem Körperbau, und, wie
es bei’m erſten Anblick ſchien, von ungeſchwächter Ge-
ſundheit, doch verrieth ſein Geſicht die Stürme früher
Leidenſchaften. Er trug ſich auf alt franzöſiſche Weiſe,
in einem geſtickten weit ausgeſchnittenen Rocke, langer
Weſte und Schnallenſchuhen. Die Perüke, wie es
ſchien gefärbte Augenbraunen, und die beſtändig auf
der Erde, oder auf den gefalteten Händen ruhenden
Augen verbargen die Kühnheit, welche wol zuweilen
in einem ſchnellen Blicke aufleuchtete. Er galt für ei-
nen wohlhabenden, gewichtigen Mann in dieſer Ge-
gend, hielt ſich zur Ultrapartei, war mit dem Könige
bei der Wiederkehr des Uſurpators nach Gent gegan-
gen und zurückgekommen. Er war daher ein eben ſo
großer Vertheidiger des Abſolutismus neben den alten
Adelsvorrechten, als ein Feind der revolutionairen und
liberalen Meinungen. Da indeſſen ſeine Nachbarn, be-
ſonders die Landleute im Dorfe, nicht mit ihm gleiche
Geſinnung theilten, namentlich bei’m Streite über alte
Rechte und Abgaben, ſo hatte er manche Kämpfe zu
beſtehen, welche von Seiten der Bauern mit höchſtem
Trotz, von ſeiner mit mehr Liſt, Ausdauer und glück-
licherm Erfolge durchgefochten wurden. Der Haß ge-
gen ihn war um ſo größer, da er, gegenwärtig als
Maire auf ſeinem ehemaligen Dorfe, mit den Anfüh-
rern der feindlichen Truppen in freundſchaftlichem Ver-
kehr ſtand, und vielleicht noch mehr, weil man ſich er-
innerte, daß er einſt eine ganz andere Rolle geſpielt
hatte. Er ſollte ein eifriger Jacobiner in den erſten
Tagen der Revolution, geweſen ſeyn, und in der Schrek-
kenszeit ſogar in Robespierre’s Anhang den öffentlichen
Anklägern gedient haben. Als ihm nach ſeines Bru-
ders Tode dieſes Schloß eigenthümlich zugefallen, ſchien
er bald ein treuer Anhänger Napoleon’s. Beide Erin-
nerungen hielt man für die Urſach, wenn man den
reichen, in den Augen der Welt glücklichen Mann von
einer GemühsunruheGemüthsunruhe geplagt ſah, die ihm das Cere-
moniell des Hofmannes, oder die Höflichkeit des Wir-
thes für Augenblicke ganz vergeſſen ließ. Dagegen un-
terließ er keinen Morgen nüchtern die Meſſe zu beſu-
chen, und ſpendete an jedem Sonntage nach dem Got-
tesdienſte Almoſen. Aber auch die Armen waren nicht
auf ſeiner Seite. Jn der Unterhaltung vermied er
gern politiſche Berührungen, und wußte immer das
Geſpräch auf die mannigfaltigſten allgemeinen Gegen-
ſtände zu führen. Hier war er ſich’rer, wenn auch
nicht die Herzen, doch die Stimmung für ſich zu ge-
winnen.
Jch durchſtreifte am andern Morgen das weit-
läufige aus Quadern erbaute Schloß. Es lag in ei-
ner waldigen Bergſchlucht verſteckt, und die wildeſten
Ausſichten in die verſchiedenen Gründe boten ſich aus
den Fenſtern dar. Jnnen fand ich wenig, was mich
gefeſſelt hätte. Wenn auch die Armuth nicht wie in
den Dörfern herrſchte, ſo trat doch überall eine ge-
wiſſe Leere hervor, welche auch durch die zum Theil
prachtvollen Möbel nicht gehoben wurde. Jm Kamine
heulte der Oktoberſturm, und die damaſtnen Tapeten
waren an mehr als einer Stelle durchlöchert. Nur
ein Bild, wie es ſchien, ein Familiengemälde, zog mich
ungemein an. Ein ernſter Mann, in einer ſchwarzen
Perüke und alter Kleidung, ſtützte ſich auf einen zer-
brochenen Baumſtamm, und ſah mit trübem Blick auf
den von Dampf, Nebel und Flamme erfüllten Hinter-
grund zurück. Als ich mich umwandte, ſtand eine rei-
zende weibliche Geſtalt mir zur Seite. Jhr ſchöner
hoher Wuchs vereinte franzöſiſche Anmuth mit deut-
ſcher Würde, während auf ihrem Geſichte das Feuer
einer heitern Jugend durch tiefen Schmerz gedämpft
ſchien.
„Es iſt mein Vater,“ ſprach ſie unaufgefordert
mit ſanfter Stimme, die aber doch den Stolz, dies
ſagen zu dürfen, verrieth.
„Ein ſchönes Gemälde, voll Würde und hohem
Ausdruck,“ entgegnete ich.
„Ganz wie er im Leben geweſen. Er ſieht pro-
phetiſch auf die Zeiten hin, welche für ſein Vaterland
und für ihn kommen ſollten. Der melancholiſche Ma-
ler ſah ſchon ſo trübe voraus, als noch mein Vater
heiter war. Darum läßt er ihn auf einem zerbroch’-
nen Baumſtamm ſich ſtützen.“
„Jhr Vater, mein Fräulein, war beim Ausbruch
der Revolution emigrirt?“
„Nein! das war er nicht!“ rief ſie mit erhöhter
Stimme, indem ihre Wangen glühten, — „mein Va-
ter iſt nicht emigrirt. Er ſtand mit allen Edlen ſei-
ner Nation, um für die Freiheit zu kämpfen, bis der
Pöbel die Edlen erdrückte, und die Schamloſen ſieg-
ten. — Jch wurde erſt nach ſeinem Tode geboren,
aber das ſchönſte und einzige Erbtheil, was er mir
hinterließ, iſt ſeine Ehre. Er brauchte, wenn er jetzt
lebte, ſich nicht zu krümmen und zu winden; er könnte
jedermann grad ins Auge ſehen, was nicht Alle kön-
nen.“ —
Jhr Gefühl ſchien auf’s Höchſte geſpannt, doch
mochte ihr ein Blick auf meine Uniform ſagen, daß
die Aeußerung deſſelben nicht ganz angebracht ſey. Der
ſtarre Glanz ihres Auges machte einem freundlichern
Ausdruck Platz. Sie wiſchte ſchnell eine Thräne mit
dem Battiſttuch fort, und ſagte dann mit viel ſanfte-
rer Stimme:
„Sie ſind fremd und jung. Sie kennen nicht
unſere Verhältniſſe. Sie ſind verwickelter als man ſich
vorſtellt. Die Familien ſind zerriſſen. Zwiſchen die
Bande des Bluts treten die Parteien; und wenn ſie
auch heut nicht mehr nach Blut und Geſetzen kreiſchen,
ſchreit fürchterlicher noch der gemeine Eigennutz. Und
wie Viele dürfen nicht tugendhaft werden! Wenn
ſie zurückblicken, packt ſie der Wahnſinn an. Da krie-
chen ſie unter die Altardecken und laſſen ſich ertränken
mit Weihwaſſer. Andere ſtieren, wie der Wampyr,
noch immer nach Blut. Es ſoll ein fürchterlicher Durſt
ſeyn. Vielleicht auch Beides zuſammen. Warum nicht?
Aber“ — und ihr Geſicht leuchtete wieder auf — „es
giebt noch Tugenden. Wilde, auffahrende Menſchen.
Sie wurden ja unter dem Druck erzogen. Der Druck
empört, und der Geiſt bricht ſich ſeine eigene Bahn.
Die ſtehen höher als alle Geburt, es ſind die trotzigen
Kinder einer neuen Zeit. — Sie hat ihr Meteor ge-
habt und nun iſt es wieder Nacht.“
Die Schwärmerin fühlte zum zweiten Male, daß
ſie zu viel geſagt. Sie lächelte, machte eine leichte
Verbeugung, und verſchwand. Es war die Nichte des
Maire, die der Oheim für den Schleier beſtimmt hatte,
weil ſie einen Mann unter ihrem Stande und von ge-
fährlichen Grundſätzen, liebte. An der kalten gegen-
ſeitigen Begegnung fand ich Gelegenheit zu bemerken,
daß zwiſchen Oheim und Nichte faſt mehr als ein
Mißverhältniß obwalten müſſe, und daß nur die fran-
zöſiſche Höflichkeit den Frieden im Hauſe erhalte.
Nicht alle Jäger waren von der fröhlichen Ge-
müthsart unſeres Hauptmanns, und oft trat, wenn
dieſer, vom Weine ſchwer, den Saal verlaſſen hatte,
und wir um das matt glimmende Kohlenfeuer des
Marmorkamines ſaßen, eine trübe Stille ein. So ſa-
ßen wir auch heut, als der Sturm draußen heulte, in
Geſellſchaft des Maire im ſtillen Zimmer. Das Fräu-
lein, zufällig in der Geſellſchaft, ſchwieg wie immer;
der Maire ſtützte ſich mit ſeinen ausgebreiteten Hän-
den
den auf den Knieen und ſtarrte in die Kohlen, und
zwei oder drei Jäger ſaßen, ſtatt zu rauchen, ſprachlos
mit verſchränkten Armen dem Feuer zugekehrt. End-
lich unterbrach der Eine, ein abgelebter Menſch, ob-
gleich noch im Jugendalter, die Stille:
„Der Sturm heult draußen, als wollte er die
Bäume entwurzeln.“
Der Maire entgegnete ohne aufzuſehn: „Erſt ſchüt-
telt er das welke Laub ab, dann bricht er die Aeſte,
und endlich macht er ſich an den morſchen Stamm.“
„Unſere Lebensgeſchichte,“ ſagte der Jäger. Der
Maire fuhr fort:
„Es fällt Alles ab, bei den Meiſten periodenweis,
nach Frühling, Sommer, Herbſt; bei Anderen ſchneller.
Kein Baum langt mehr ſeine welken Blätter auf. Nicht
die Jugend, nicht das Mannesalter, nicht einmal eine
einzige Stunde der Luſt läßt ſich zurückrufen. Alles
was wir trieben mit dem Blick nach vorwärts, war
ein Spiel, wenn wir es gelind, eine Thorheit, wenn
wir es recht nennen wollen. Ziel und Ausgang bleibt
der Staub.
„Thoren und Kluge, fuhr der Jäger fort, ſchla-
fen in derſelben Grube, und der größte Thor iſt, wer
ſein Leben daran verſchwendet hat klug zu werden.“
„Doch mag ein Unterſchied ſeyn,“ unterbrach ihn
der Franzoſe: „der Thor verſcheidet, ohne Freude und
vielleicht noch mit der Furcht vor dem, was nicht iſt;
der Kluge amüſirt ſich noch in der Scheideſtunde, wenn
er an die verſchiedenen Rollen denkt, die er im Leben
gut durchgeführt hat; er kann auch noch über die nich-
tige Furcht des Andern lachen; er weiß, daß nichts
mehr kommt.“
Der Jäger ſchauderte wie unwillkührlich: „Am
Rande der kalten Gruft? Lachen, nein. Da iſt beſſer
ſchnell ein kühner Fingerdruck, oder, wem’s lieber iſt,
ein kühles Bad, um durch den verdammten Paß durch-
zukommen. Es bleibt nur eins wahr, daß der Augen-
blick unſer iſt. Aufſchieben iſt die größte Thorheit.
Faſſen, wo wir finden, denn Keiner weiß, ob er zum
zweitenmale finden wird.“
Der Maire ſchien den Worten nachzudenken. Er
richtete ſich etwas auf: „Der Grundſatz würde uns ſo
zum Thiere führen. Dem Genuß, ſo gedacht, folgt die
Sättigung, und in der Sättigung iſt nie Genuß. Es
giebt aber noch einen höhern im Leben, den nicht Alle
erringen, der iſt: ſich immer zu amüſiren. Und das
größte Amüſement gewährt, wenn wir unabläßlich ein
Ziel verfolgen, ſey es nun Gelderwerb, Ruhm oder
Macht. Wenn nur nicht der ganze Verſtand an ei-
nem haften bleibt, liegt doch am Ende in dieſen drei
Dingen das, was wir Glück zu nennen pflegen.“ —
„Wie!“ rief ich aus, „es gäbe kein höheres Glück?“
Der Maire antwortete entſchieden: „Nein, denn
bei’m Streben des Gelehrten, bei’m verzweiflungsvollen
Kampfe des Spielers mit dem Glücke, iſt mehr Qual
als Luſt, und in der Liebe endlich wird der Sinn zu
bald abgeſtumpft, und jeder Genuß entflieht.“
„Und was wäre denn die Begeiſterung für alles
Edle und Schöne?“
Der Maire lächelte, und ſah mich ſehr freundlich
an: „Ein Strohfeuer. Es wärmt für den Augenblick
und ergötzt in ſeinen laut und hoch lodernden Flam-
men. Darum erfreut es wol den Knaben, aber den
Mann läßt es kalt.“ —
„Dann gäbe es keine Begeiſterung für Freiheit
und Vaterland, nicht die Begeiſterung, welche in Deutſch-
land den Knaben wie den Greis in das Feld der Män-
ner trieb? Ja ich wage es vor jedem Spötter zu be-
theuern: es war ein heiliges Feuer, das Aller Adern
durchglühte. Es war kein Machtgebot, kein todtes
Pflichtgefühl, kein zerſtörender Ehrgeiz, es war das Auf-
lodern eines Brandes, glimmend von der Weichſel bis
zum Rhein, angefacht durch begeiſterte Stimmen; dieſe
wilde und heilige Glut war es, die das ſtolze, künſt-
liche Gebäude Jhres Tyrannen zuſammen warf und
Deutſchland frei machte.“
„Sie ſind ein Kind, lieber Jäger, und wenn Jhr
Feuer ſich verraucht hat, und es Jhnen kalt durch die
Adern rinnen wird, wie mir, werden Sie anders den-
ken und ſprechen. Aber es iſt gut; dieſe Begeiſterung
amüſirt ebenfalls.“
„Das wolle Gott nicht! Kamerad, bezeugen Sie.
— Trieb etwas Anderes als reine Liebe für Recht, Kö-
nigshaus, Vaterland und Freiheit in unſre Schaaren?“
„Wenn Sie mich meinen, ich hoffe nach der Rück-
kehr Salzinſpektor zu werden, entgegnete der Mann: —
ohne die Ausſicht wäre ich wahrhaftig nicht zum zwei-
tenmale mitgegangen. Von den Andern weiß ich’s
nicht.“ —
Der Jäger lachte, und der Maire verzog den
Mund äußerſt freundlich, ohne aus ſeinem Gleichmuth
zu kommen. Jch aber gab mich noch nicht gefangen:
„Sprechen Sie, was trieb zu Heldenthaten die
Krieger ihrer erſten Republik?“ —
„Sie wehrten ſich ihrer Haut, um das Leben
zu genießen.“
„Woher klebt ſo viel edles Blut an den Büſchen
der Vendēe?“ — fuhr ich ohne darauf zu achten fort.
— Trieb Geld- oder Ruhmſucht jene einfältigen Bauern
an, ihr Alles aufzuopfern für Etwas, was nicht zu
erobern war? Ganz Frankreich war ihnen feind, aber
ihr Bundesgenoſſe war ihr Bewußtſeyn.“ –
„Es waren Narren“ rief, wie zum Erſtenmale
unwillig, der Maire aus, und rückte auf ſeinem Stuhle.
„Nein, Oheim,“ erhob ſich plötzlich Adelaide, die
bis dahin in ihrem entfernten Armſeſſel zu ſchlummern
geſchienen, „es waren Männer“ — und ich fuhr, durch
das Bewußtſeyn, einen Bundesgenoſſen zu haben, er-
muthigt fort:
„Wer Weib und Kind lächelnd vom Ufer aus in
den Fluthen untergehn ſieht, und ſich ſelbſt dem Hen-
ker ausliefert, den wärmt mehr als ein Strohfeuer;
und kein Verlangen, ſich mehr zu amüſiren, hieß den
edlen Marigni ſtehn bleiben und ſelbſt „Feuer!“ com-
mandiren, als ſein verrätheriſcher Freund die Mörder
auf ihn abgeſchickt hatte.“ —
Ein Schrei unterbrach mich hier; als wir uns
umſahn, kämpfte Adelaide mit einer Ohnmacht. Der
Maire ſtampfte auf den Boden. Jch glaubte zu hö-
ren: „Sie muß fort.“ Er war mir nie ſo häßlich
vorgekommen; je mehr ich ihn mir aber anſah, um ſo
mehr dünkte mich, ich hätte ihn ſchon irgendwo geſehn.
Er war der Ohnmächtigen zugeeilt, aber während ſie
in ſeinen Armen ſich erhohlte, ſchien es mir, als um-
faſſe ein finſterer Dämon einen Engel, der ſeinen Kral-
len entſchlüpfen wollte. Seine Töne waren ſanft, be-
ruhigend; flüſterte ſein verzerrter Mund ihr aber nicht
etwas anderes ins Ohr, wenn er ſich über ſie beugte?
Als der erſte Blick ihrer ſchönen Augen ſeine finſteren
Brauen traf, ſah ich ſie ſichtlich zuſammenſchrecken.
Jhre Lippen ſtöhnten in halber Bewußtloſigkeit: „Blut!
Blut! überall Blut!“ aber er richtete den Blick gegen
die Decke des Saales und wiederholte ſalbungsvoll:
„Ja, das Blut des Einen ward für uns Alle
vergoſſen!“
Jndem trat unſer Hauptmann in den Saal. Er
hielt frohlockend ein Blatt in die Höhe und rief: „Nichts
von Blut mehr, Friede und Freundſchaft, Feſtung Gi-
vet iſt über.“
Jblou hatte von Adelaiden abgelaſſen. Seine
ganze Aufmerkſamkeit ſchien plötzlich auf einen andern
Gegenſtand übergegangen. Mit drei Schritten ſtand
er am Hauptmann und faßte unwillkührlich deſſen
Hand.
„Und die Beſatzung?“
„Zieht frank und frei ab, jeder in ſeine Heimath,
wohin auch wir aufbrechen.“
Der gewandte Weltmann, der politiſche Jntriguant,
hatte ſeine Faſſung verloren. Leichenblaß ſtand er meh-
rere Secunden, man ſah die vielfarbige Schminke ſei-
nes Geſichtes, er vergaß zu verbergen, worauf er viel-
leicht ſein Leben ſtudirt hatte. Endlich ſprach er ha-
ſtig, aber mit gedämpfter Stimme, wie noch athemlos
von einer innern Bewegung:
„Jch kann das Verfahren Jhrer Generale nicht
billigen. Hier war jede Gnade unangebracht. Wer
zweimal gegen ſeinen König gefochten – dieſer Kern
der Revolutionaire mußte ganz aufgerieben werden,
eher finden ſeine loyalen Unterthanen in ihrem Vater-
lande keine Ruhe. Soll denn die traurige Zeit fort-
dauern, wo die Verruchten auf ihren Spolien lachen
dürfen, und die Getreuen nicht ihres Lebens, nicht des
Reſtes ihrer Habe ſicher ſind!“
„Herr Maire,“ ſagte mit ruhiger Ueberlegenheit
der Hauptmann, „verlangten Sie, daß die ganze Be-
ſatzung in die Luft geſprengt würde, oder ſollten ſie
über die Klinge ſpringen bis Unterofficier und Gemei-
nen — Jhretwegen?“
„Man hätte wählen können, man hätte unter-
ſcheiden ſollen. Grade in Givet waren die verbreche-
riſchten Jndividuen, eiſerne Anhänger des blutigen Kai-
ſerthrons. Sie loslaſſen über das kaum befriedigte
Land, heißt die Käfige einer Menagerie öffnen. Jeder
Einzelne wird mit Drohungen, mit Brandbriefen das
flache Land überziehen.“
„Ei! Herr Maire,“ unterbrach ihn der Haupt-
mann, ihm zutraulich auf die Schulter klopfend: „da-
gegen ſchützt ein gutes Gewiſſen. Wir Beide haben
nichts von Brandbriefen zu fürchten. Sie hier ſind
ein Mann von Einfluß; kommen Sie bei Jhrem
Könige ein. Er läßt vielleicht die Beſatzung zu-
ſammen fangen und Jhnen zu Gefallen Allen nach-
träglich das Garaus machen. Wir Jäger, wir mar-
ſchiren morgen ab, und ich weiß nicht, Herr Maire,
ob die Leute hier ſich nicht ebenſo freuen werden, als
dazumal, wo Sie und die Jhrigen Jhr leeres Quar-
tier bei uns mit vollem Beutel verließen.“
Der Maire verbeugte ſich ruhig. „Und wenn auch,
meine Herren, die Nachſtellungen mit Jhrem Abzuge
wieder beginnen, der Herr wird die Gerechten be-
ſchützen.“
Jch fand keine Ruhe im Bette. Der Gedanke
laſtete auf mir, morgen die Gegend auf immer zu ver-
laſſen, wo über ein räthſelhaftes Dunkel ein Licht her-
einbrechen wollte. Jch ſchien mir mitverſtrickt in ein
Geheimniß. Es dünkte mir unrecht fortzugehen, ehe
ich mir ſelbſt etwas klar gemacht. Es dünkte mir un-
recht, Adelaiden zu verlaſſen, ohne von ihrem Schick-
ſale zu wiſſen. Als ob ich berufen wäre ihr zu helfen!
Dann erſchien mir wieder der todte Freund; er wurde
guillotinirt, neben ihm lachte Adelaide, aber ſie ver-
wandelte ſich in ihren Oheim. Die Träume führten
immer wieder auf Mord und Blut, bis ich es nicht
mehr aushielt und aufſprang. Jn den Mantel gehüllt
ſtieg ich in den mondhellen Garten hinab. Jch lief, bis ich
ermüdet war, umher. Die Phantaſie kämpfte mit den
Geiſtern, ſie griffen nach mir, aber ich trat ſie zu Boden.
Es waren die Schatten der Pappeln. Endlich warf
ich mich in’s welke Gras am äußerſten Ende des Gar-
tens, wo eine ſchöne Fontaine ihren großen Waſſer-
ſtrahl hinaufſchoß in den blauen klaren Horizont. „Wer
doch auch ſo klar und rein zu den wolkenloſen Räu-
men aufſteigen könnte, und die dunkle Erde verſchwände
mit ihren Winkeln und Höhlen!“ Aber das Waſſer
fiel wieder in das trübe Baſſin tropfenweis zurück, und
der Mond lachte. Es näherte ſich Jemand mit haſti-
gen Schritten. Jch lag im Schatten, und konnte nicht
bemerkt werden; um deſto deutlicher aber konnte ich den
Mann in der blauen Bauerntracht beobachten, welcher
ſich forſchend in allen Ecken und Büſchen umſah. Der
Mond mahlte ſein bleiches Geſicht zur Leiche, nur die
dunkeln Augen rollten. Obgleich Perücke und ſteife
Kleidung ihm fehlte, war doch der Maire Jblou nicht
zu verkennen; aber ich erkannte mehr in ihm, meine
Ahnung ward zur Wirklichkeit. Der Maire und der
Unſichtbare, welcher mehr als einmal unſer Blut vor
Givet hatte zuſammenrieſeln gemacht, waren eine und
dieſelbe Perſon.
Er ging mit gemeßnen Schritten am Teiche auf
und ab. Die welken Gräſer ſchienen mich zu umklam-
mern, der Leib ſchien am Boden feſt gebannt. Mir
war, als trete das Geheimniß in eigener Perſon auf
die Bühne des Lebens, den Vorhang aufzuziehn zu
einem grauſen Nachtſpiel. Jch zog den Athem an,
denn ſelbſt das fallende welke Blatt entging ſeinen for-
ſchenden Sinnen nicht. Jetzt rauſchte es hinter den
Hecken, und aus ihrem Schatten trat eine große in
einem weiten Mantel verhüllte Geſtalt vor. Der Maire
trat einen Schritt zurück, und rief dann dem Kom-
menden entgegen:
„Nicht weiter vor! Sind ſie es, deſſen namenlo-
ſer Zettel mich aus dem Schloß hierher citirt?“.
„Ja, Bürger Jblou, oder Ritter von der Ehren-
legion, oder Herr Marquis, oder wie Sie ſonſt heißen
wollen, ich bin’s,“ antwortete eine Baßſtimme. Als
der neue Ankömmling den Mantel ein wenig von ein-
anderſchlug, glaubte ich den Officier zu erkennen, wel-
cher mir einſt auf dem Vorpoſten vor Givet entge-
gen kam.
„Capitain Barbaroux?“ rief Jblou mit gepreßter
Stimme.
„Der bin ich.“ Beide ſahen ſich eine Weile for-
ſchend an, bis ſie im Geſpräche weiter gingen. „Herr
Marquis haben ſehr oft die Güte gehabt mich unter
den Rebellen in Givet zu beſuchen, und ſelbſt die böſe
Nachrede von loyalen Leuten nicht geſcheut. Heut er-
wiedere ich den Beſuch — aus Artigkeit!“
„Kommen Sie, Herr Capitain, in mein Schloß, dort
kann ich beſſer die Rechte der Gaſtfreundſchaft ausüben.“
Der Capitain lachte höhniſch: „Jch danke, Herr
Marquis. Jch weiß mich nicht gut in den Schlöſſern
vornehmer Leute zu benehmen. Wir verſtehen uns.“
„Barbaroux! Sie ſind auf halben Sold entlaſſen?“
„Ziehen Sie noch die andre Hälfte ab, ſo wer-
den meine Revenüen herauskommen. Jch habe leider
nicht die Schauſpielerkunſt gelernt, ſonſt würde ich die
alten Röcke beſſer nach der Zeit zuſtutzen und wenden.
Aus ’nem Hemde würd’ ich mir hundert weiße Kokar-
den ſchneiden. Jetzt bin ich ſo ein dummer Kerl, daß
ich aus ’ner rothen Mütze nichts zu machen weiß. Ein
alter Rock und überall Löcher, wo die natürlichen Li-
lien herausgucken. Aber hohl’s der Teufel, ich will
auch fromm werden wie andre Leute und bibliſch le-
ben; ich habe noch ein Pfund, und will’s nicht mehr
vergraben.“
„Ein Mann, wie Sie, Capitain, muß jeder Re-
gierung werth ſeyn, wenn Sie in etwas Jhre ſtarren
Meinungen ändern wollen. Jch nehme es auf mich,
Jhnen wieder Amt und Brot zu verſchaffen, ſobald
Sie ſich ganz mir anvertrauen wollen. Kommen Sie
in mein Schloß, ich will Sie dort vor Jedermann ver-
borgen halten, bis die Verfolgungen aufgehört haben.“
„Jch glaube es,“ lachte der Capitain. „Viel-
leicht ſo verborgen, daß mich Niemand wieder finden
ſollte. Wir verſtehn uns, Jblou.“
„Nun dann, wenn Sie mich kennen, Capitain,
— fuhr der Maire fort, die Zähne feſt zuſammenge-
preßt, — ſo wiſſen Sie, daß ich Alles wage, wo ich
fürchte. Zittern Sie.“
„Zittern Sie,“ wiederhohlte kaltblütig der Ca-
pitain. „Genug des Geſchwätzes. Jch komme mit
Jhnen die Rechnung abzuſchließen, und weiß, was meine
Wiſſenſchaft werth iſt, da ich der Einzige bin, der ſie
beſitzt. Zahlen Sie vierzigtauſend Franken, ſo vernichte
ich die Papiere, die in ſicheren Händen ruhen, und wenn
auch Jch ſtumm würde, laut ſprechen könnten. Zahlen
Sie nicht, ſo ſoll mich nichts hindern, Sie um Jhr
Alles zu bringen.“
„Unverſchämter! Daſſelbe verſprachſt Du, als ich
Dir die Tauſende gab, damit Du nach Elba entwichſt;
daſſelbe, als ich Dir die Wechſel nachſandte; und wenn
ich meinen letzten Franken Dir gegeben, wirſt Du noch
mehr fordern.“
„Jch weiß, was meine Kunde werth iſt,“ ſagte
kaltblütig der Capitain.
„So vergißt Du, Barbaroux, daß bei’m Abſchluß
der Rechnung die Hälfte der Schuld auf Deinem
Conto ſtand?“
„Der Capitain Barbaroux hat nichts zu verlieren,
keine Familienehre, keine Anſprüche auf Erbſchaften,
nur einen Flicken durchlöchertes Leben; aber Martin
Jblou de St. A. ſeinen ſehr unbeſcholtenen Ruf, ſeine Gü-
ter, ſeine Gelder, ſein thatenreiches Leben. Dem Staate
iſt er ſchuldig es zu erhalten, und unbefleckt. Nicht
wahr? Jch fordere vierzig tauſend Franken.“
„Und ich gebe keinen Cenfimen, denn Du warſt
es, der ihn vor dem Wohlfahrtsausſchuſſe anklagteſt,
Du, der ihn in der Vendēe in Verhaft nahmſt, Du,
der ihn erdroſſeln wollteſt.“
„Auf Deinen Befehl, Jblou!“,
„Das läugne ich, und ſetze mein Anſehn gegen
Deines. Mein Zeugniß iſt von Gewicht, vor den Tri-
bunalen, in beiden Kammern. Jch klage Dich um
Hochverrath an.“
„Und ich dringe darauf, daß Dein Schloß unter-
ſucht, und der Brunnen aufgegraben werde; ich bringe
ſolche Zeugniſſe vor, daß ſelbſt Dein König zurückſchau-
dern, daß Deine Freunde mit den Perücken Dich an-
ſpeien ſollen. Bürger Jblou, in zwei Stunden faſſen
Dich die Gendarmen. Man ſchleppt Dich unter dem
Jubel des Volkes vor die Aſſiſen. Sehnt Dich ſo
nach den Zeitungsberichten vom Verhör? Hörſt Du
das Ziſchen der empörten Menge, wenn Dir haarklein
bewieſen wird, daß — —“
„Halt, halt,“ unterbrach Jblou.
„Brudermörder!“ donnerte Barbaroux, „was wer-
den Deine adligen Freunde von ci-devant ſagen? wenn
Alles herauskommt, Stück für Stück, wie die Einge-
weide eines Ungeheuers. Kein Zoll wird geſchenkt.
Die Jacobiner werden jubeln, und denkſt Du, daß
Dir die Jeſuiten den Weg mit Roſen beſtreuen, wenn
man Dich zur Guillotine ſchleift? — Sieh’ mal, wie
die gute, alte Sache, wie die ganze Legitimität durch
den Prozeß beſchimpft wird, alles um lumpige vierzig
tauſend Franken. — Jblou, Du kennſt mich, ich ſchenke
Dir keinen Centimen, und wenn ſie mich neben Dir
lebendig ſchinden, wie den armen Tropf, der nicht tief
genug ſtieß auf Ludwig XV. Das war ſein einziger
Fehler.“
Der Maire ſchwieg. Die Hände auf dem Rücken,
ging er einige Secunden umher. Wenn der Mond
ihm in’s Geſicht ſchien, glaubte ich ein Lächeln wie die
Zufriedenheit der Hölle auf den Lippen zu leſen. Dann
hielt er inne und faßte Barbaroux’s Hand. „Sey’s
denn! zum letztenmale. Aber drei Tage Zeit. Jch
ſchaffe meine Nichte in’s Kloſter. Du weißt, das ko-
ſtet Geld — viel Geld, wenn — Du kennſt die Um-
ſtände und weißt, daß ich es muß, wenn ich Dich be-
zahlen ſoll. Störe mich nicht. Aber binnen drei Ta-
gen ſchaffe ich das Geld; bringe Du mir bis dahin die
Papiere — aber dann auf immer aus Europa.“
„Recht gern.“
„Doch welche Sicherheit giebſt Du mir?“
„Nun, wenn’s Dir Vergnügen macht, ich will
es beſchwören. “
„Beſchwören? Capitain Barbaroux, wir verſte-
hen uns.“
„Gewiß, Bürger Jblou. Müßte wahrhaftig auch
lachen, wenn wir Beide mit einander ein Poſſenſpiel
aufführen wollten.“
„Das Einzige, was den Menſchen bindet, iſt das
Jntereſſe. Capitain Barbaroux, in drei Tagen ſeh’n
wir uns wieder.“ —
„Jn dreien Tagen! Gehabt Euch wohl und ſucht
mir kein falſches Geld aus.“
Wie lange ich noch in dem feuchten Graſe gele-
gen, weiß ich nicht. Nur ſo viel konnte ich mich ſpä-
ter erinnern, daß ich im Fieberfroſt taumelnd eine
Treppe hinaufgeſtiegen bin. Der plötzliche Tauſch des
warmen Bettes mit dem feuchten Graslager einer ſpä-
ten Herbſtnacht hätte auch ohne Beihülfe einer entſetz-
lich aufgeregten Phantaſie einen Körper, der nicht aus
Eiſen gegoſſen, in den Zuſtand verſetzt, in dem ich Ta-
gelang zubrachte. Als ich einmal zum Bewußtſeyn er-
wachte, ſaß ein ältlicher Mann mit geſchornem Kopfe
neben meinem Bette, und ſchien ſehr tief nachzuden-
ken, indem er meine rechte Hand gefaßt hielt.
„Wo bin ich?“ rief ich mich erhebend.
„Noch immer im Fieber, mein Herr,“ ſagte ge-
laſſen der Mann, „obgleich der Puls ruhig geht.“
Daß ich es mindeſtens müſſe geweſen ſeyn, erſah
ich, weil ich ohne Kraft mich zu halten, auf das Kopf-
kiſſen zurückſank. „Um Gottes Willen, rufen Sie
mir ſogleich den Hauptmann oder meine Kameraden!“
„Meine Stimme müßte ſtärker ſeyn als die ein-
geſchmolzenen Glocken meiner Kirche waren, um die
Herren zu errufen.“
„Wo ſind Sie?"
„Längſt aufgebrochen, und auf dem Wege nach
der Heimath. Jm Umkreis von zwanzig Lieues ſind
Sie der einzige Preuße.“
„Wach’ ich, oder träume ich? Wann ſind ſie
fortgegangen?“
„Vorgeſtern früh. Da Sie, mein Herr, im hef-
tigſten Fieber lagen, und der Herr Hauptmann Sie
nicht gern ins Lazareth ſchaffen wollte, erboten ſich der
Herr Maire, Sie hier zu behalten und meiner Pflege
zu übergeben, und ſo habe ich das Glück gehabt, in den
drei Tagen Jhrer Bewußtloſigkeit das Fieber zu prü-
fen, und habe gefunden, daß es nahe an Manie gränzte,
denn ſolche Dinge, als ich hören mußte, ſind mir noch
nie vorgekommen, es müßte denn deutſche Philoſophie
ſeyn. Sie glaubten an einer blutigen Fontaine zu lie-
gen, und wollten immer abrücken und aus dem Bette
fort,
fort, um nicht beſpritzt zu werden. Da hatten wir
viel zu thun.“
Das Geſpräch brach hier ab, indem der Curē zum
gnädigen Herrn gerufen wurde, um ihn zu raſiren, ein
Geſchäft, zu welchem die franzöſiſchen Geiſtlichen, um
nicht Hungers zu ſterben, ſich in den letztern Zeiten
zuweilen bequemen mußten. Er ging und überließ mich
meinen Betrachtungen. Die Erinnerung ſammelte ſich
langſam. Jch kämpfte mit den errungenen Kräften
mich zu überzeugen, daß Alles ein Traum geweſen.
Die Anſtrengung hätte leicht das Fieber wieder zurück-
gerufen. Mein leitender Vorſatz blieb, ſo bald ich dies
möglich machen könne, das Schloß zu verlaſſen.
Das phyſiſche Bedürfniß des ermatteten Körpers
ſiegte endlich über das wirre Getriebe der Gedanken.
Jch wankte zum Mittagstiſche, der diesmal ſehr ver-
laſſen erſchien, indem, außer den meiſt ſtummen Haus-
genoſſen, nur Adelaide Platz daran nahm. Vergeblich
las ich in den Blicken des Maire, ob nicht einer zum
Verräther würde. Der bleiche Mann von der Fon-
taine war verſchwunden. Er war ein ſehr höflicher
Wirth; ſeine Augen ſuchten die Erde, nndund ſeine Stimme
klang ungemein wohlgefällig. Dagegen konnte er ein
Lächeln nicht unterdrücken über mein bleiches Ausſehn.
Er äußerte, die Begeiſterung möge wol recht ſchön und
ſtark ſeyn, nur müſſe ein rauhes Lüftchen, oder ein
kleiner Schreck, oder ſonſt etwas doch noch ſtärker
ſeyn, indem ich faſt aus der Begeiſterung zum Geiſt
geworden wäre. Vor mehreren Monaten habe auch
ein freiwilliger Jäger in ſeinem Schloſſe dahingeſiecht,
dem man es auf den erſten Blick angeſehen, daß er
immer Geſpenſter ſehe. Das ſey die gefährlichſte Ei-
genſchaft der Deutſchen. Auf alle Fälle aber ſey ein
Glas Champagner ein gutes Aequivalent für die Be-
geiſterung, indem es Farbe und Leben wieder einhauche.
Adelaide ſprach bei Tiſche kein Wort, aber ihre Blicke
ruhten mehrmals fragend auf mir. Die Landpoſt
brachte eine Zeitung, der Maire las immer eifriger bis
er mit entfärbtem Geſicht das Blatt fortlegte, die
Hände faltete, und mit Salbung ſprach:
„Deine Wege ſind wunderbar! Aber wie Spreu
werden die Gottloſen verweht, und von den Frevlern
entgeht Keiner dem Gerichte. Meine Herren, der
Marſchall Ney iſt erſchoſſen. Seine Seele will ich
nicht verdammen; aber mögen Alle wie Dieſer vergehn,
die ſich wie Dieſer vergangen. Amen.“ Die Haus-
genoſſen kreuzten ſich, und ſagten: „Amen.“ Der
Wirth bemerkte, daß die Kammern zuſammenberufen
wären, und er daher in wenigen Wochen nach Paris
aufbrechen müſſe. „Und ſomit laſſen Sie uns an
ſtoßen auf eine neue Ordnung, die von dieſer Seſ-
ſion, wo nur alte loyale Unterthanen des aller-
chriſtlichſten Königs ſprechen ſollen, über Frankreich
ausgeh’n wird.“ -
Alle, und warum ſollte ich mich ausſchließen, lei-
ſteten lebendig dem Wunſche Folge. Nur das Fräu-
lein blieb gleichgültig. Doch ſchien ſie mit Unruhe dem
Aufbruch der Tafel entgegen zu ſehen. Als dieſe er-
folgte und die Anderen ſich entfernt hatten, blieb ſie mit
einer Stickarbeit am Fenſter ſtehen. Sie wollte ein
Geſpräch mit mir, aber ſie ſchien den Anfang zu fürch-
ten. Auch als ſie jetzt mit einer Frage begann, mochte
es noch nicht das ſeyn, was ſie beabſichtigte:
„Sie lieben die Sache der Vendēer?“
Jch erwiederte: „Wer ſollte nicht ihren Muth und
frommen Glauben bewundern, wenn er auch die Sache,
für die ſie fochten, nicht ganz vertheidigen will?“
„Auch die Sache der Vendēer war gut, mein
Herr; ſie war gut, rein für jene Zeit,“ entgegnete ſie
heftiger. „Jch ſagte ihnen vorhin, mein Vater ſey
nicht emigrirt; jetzt darf ich Jhnen ſagen, daß er unter
den Vendēern wie ein Held geſtritten hat, nachdem er
als Mann unter den Republikanern nichts mehr ver-
mochte; und doch iſt mein Vater nie ſeinen Grund-
ſätzen untreu geworden.“ —
„Und was würde Jhr Vater jetzt thun?“ —
Eine hohe Gluth flog über Adelaiden’s Geſicht.
Jhre Augen funkelten; ſie vergaß ſich und was ſie
wollte, als ſie mit krampfhafter Heftigkeit ausrief: „Er
würde die Contribution, die die Fremden in Gold und
Silber ausſchreiben, in Blei bezahlen.“
„Ob Jhr Oheim dieſe Geſinnungen theilt?“ rief
ich etwas empfindlich, bereuete es aber ſogleich, denn
der ganze Unwille der nervös Gereizten brach aus,
indem ſie entgegnete:
„Der iſt mir ganz fremd, — blieb er doch
auch ganz fremd als in den Schreckenstagen mein Va-
ter an ſein Haus klopfte, und bat: „„Vertheidige mich
vor ungerechter Anklage, Bruder, Du vermagſt Alles
vor Gericht.““ Mein Oheim rief hinaus: „Bür-
ger, ich kenne Dich nicht,““ und ſchlug das Fenſter
zu. Erſt nach dem Tode hat er ihn wieder erkannt,
als er ſeine Güter meiner Mutter entriß.“
Etwas Verzerrtes, ein krankhafter Schmerz ſchwebte
über dem ſchönen Geſichte — ſie ſchien auch um ei-
nige Jahre älter als ſie war — aber dennoch liehen
die Runzeln des Zorns auf der hohen blaſſen Stirn
ihr einen ganz eigenthümlichen Reiz. Selten ſah ich
bei Franzöſinnen einen verwandten geiſtigen Ausdruck
des Geſichts, wo der Schmerz ſo durchgedrungen wäre,
ohne Eintrag der eigenthümlichen Lebendigkeit und Schön-
heit. Und doch hatte ſelbſt die Bitterkeit ihren ver-
jährten Sitz auf dieſen Lippen. Aber wie ſchnell es
in ihr aufflammte, eben ſo ſchnell war ſie zur Einſicht
gekommen, daß der Reiz ſie abgeführt. Die Runzeln
verzogen ſich, die ſchwarzen Brauen wölbten ſich heiter
über den lebendigen Augen, im Augenblick lächelten wie-
der ihre Lippen, und im nächſten hielt ſie mit beiden
Händen meine rechte gefaßt:
„Sie haſſen Napoleon. Aber es wird eine Zeit
kommen, wo er ein großer Mann auch bei Jhnen hei-
ßen wird. Seyn Sie darum nicht ſo zornig auf die
ſtarren, wilden Männer, die ihn ſchon heut zum Jdol
erhoben. Sie vergöttern in ihm das gekrönte Ver-
dienſt, und wer, der jung iſt und Kraft im Arme
fühlt, wollte denn nicht, daß die Tugend belohnt werde,
wenn ſie auch keine Ahnen hat! — Es könnte ſeyn —
es wird vielleicht — ſetzte ſie zögernd mit leichtem Er-
röthen hinzu — daß Jemand, den Sie kennen, heut
Jhren Beiſtand erbittet. Glauben Sie ihm, was er
ſpricht, und hat meine Bitte einiges Gewicht, ſo den-
ken Sie, daß ich mit ihm bitte. Leben Sie wohl, es
darf uns Niemand länger beiſammen ſehen.“ — Da
mit entſchwand ſie.
Jch lud zwar nicht die Büchſe, auch unterſuchte
ich nicht beim Zubettegehn mein Schlafgemach, doch
aber war es weit unheimlicher in dieſem Schloſſe ge-
worden, als je in der engen Bauernhütte. Alle Thü-
ren wurden mit dem Einbruch der Dämmerung ver-
ſchloſſen, und die Brücke über den Schloßgraben auf-
gezogen. Eine Todtenſtille herrſchte im ganzen Ge-
bäude, und nur im Zimmer des Maire auf dem andern
Flügel brannte Licht. Aus dunkler Ferne beobachtete
ich Auftritte, die mit jener Nachterſcheinung in Ver-
bindung ſtehen konnten, wenig geeignet, dem regnigten
Herbſtabende ſeine unfreundliche Seite zu nehmen. Schien
es mir doch faſt, wie eine Fortſetzung des Fiebertraum’s.
Jch glaubte Jblou auf- und abgeh’n zu ſehen, glaubte
Geld zählen und ihn Treppen ſteigen zu hören. Dann
kam es mir vor, als rauſche es im Nebenzimmer;
als ich die Thüre leiſe öffnete, traf mein Blick Ade-
laidens Vater. Auf ſein Geſicht fiel ein Mondenſtrahl.
Ernſt ſah er mich an, und doch ſchien er auch zu bit-
ten. Als ich aus dem Fenſter blickte, bemerkte ich
zwei dunkle Geſtalten, wie ſie ſich nach einem Buſch
im Garten hinſchlichen. Sie ſchienen zu unterhandeln,
der eine blieb immer vorſichtig zurück. Endlich fand
der andre eine Stelle, wo Beide ſtehen blieben. Er
riß einige Sträucher aus und griff aus der Höhlung der
Erde etwas hervor, was er dem zweiten übergab. Die-
ſer wog es in der Hand, Beide kehrten darauf nach
dem äußerſten Schloßflügel zurück, und ich erkannte
die zwei Geſtalten wieder in Jblou’s Zimmer. Doch
dauerte es nicht lange, ſo wurde es unter meinem Fen-
ſter abermals laut, und ich hörte eine Stimme: „Nun
wirſt Du mir endlich glauben lernen,“ und der Zweite
antwortete: „Ja, wenn ich Alles habe. Führ’ mich
nur hin, wo es vergraben liegt.“ — Jch wollte ſchla-
fen, aber wer erzwingt den Schlaf, wenn die Phan-
taſiebilder, denen er entfliehen will, mit ihm auf den
Kiſſen ſich ſchaukeln. Was kaum noch im Wachen un-
beſtimmt verſchwamm, tritt zuſammen, ſcharfe Linien
trennen die Geſtalten, helle Farben glänzen blendend
vor dem zugedrückten Auge. Was der Gedanke kaum
noch ſich wagte zu geſtehen, der Traum ſchreibt es mit
Flammenſchrift auf eine ſchwarze Tafel und kein Errö-
then hilft. Jch las in dieſer Flammenſchrift: „Dies
war das Schloß, deſſen Erinnerung *** bis zum Tode
quälte. Hier ſchläft ein altes Verbrechen, ſie rütteln
daran, es gähnt und erwachend ſtreckt es die Arme
aus nach neuem Raube.“ Nun nahte ſich auch mein
voriger Wirthsſohn, Capitain Delabelle ſpielte mit in
dieſem Drama. Er zog an der Hand eine weibliche
Geſtalt, die aber noch im ungewiſſen Nebel hinter ihm
verſchwamm. Er öffnete den Mund — als eine ſtarke
Berührung meiner Schulter alle Traumbilder verſcheuchte.
Und doch blieb das eine davon; neben dem Bette
ſtand Mathieu Delabelle, welcher mit verſchränkten Ar-
men mein Erwachen aus dem Schlaftaumel zu erwar-
ten ſchien. — „Wir ſind grade keine gute Freunde,
mein junger Soldat, begann er, und für mich iſt es
eben nicht die angenehmſte Aufgabe, den Feind meines
Vaterlandes um eine Gefälligkeit zu bitten. Jndeſſen
es muß ſeyn, ſchnell ſeyn, und beſinnen gilt nicht!“
„Was verlangen Sie ſo ſeltſam, mitten in der
Nacht?“
„Nur Jhre Uniform!“
„Wie, von einem Soldaten. Wiſſen Sie, was
Sie fordern?“
„O ja, denn ich war ſelbſt Soldat. Jch weiß
auch ganz gut, daß ſeine Uniform verlieren, nicht viel
beſſer iſt, als ſein Gewehr fortwerfen. Und dennoch
bitte ich Sie, es gilt ein Menſchenleben.“
„Erklärung.“
„Sie ſind doch Proteſtant?“
„Von ganzem Herzen.“
„Und müſſen das Unweſen der Pfaffen haſſen?“
„So weit es Unweſen iſt, gewiß.“
„Nun ſo können Sie’s nicht zulaſſen, wenn man
ein freies, edles Mädchen, wider ihren Willen, wider
ihre Gelübde in ein Kloſter mit Gewalt ſperren will?“
„Gewiß nicht.“ —
„Der Maire Jblou hat ſeine Nichte in ein fer-
nes Kloſter, in die Kreidefelſen der Bretagne, verkauft,
wo Niemand den Hülfsruf des armen Schlachtopfers
hören kann. Morgen wird ſie in den Wagen verſchloſ-
ſen, und kein menſchliches Auge bekommt ſie wieder zu
ſehen, wenn ich nicht Die errette, die mir folgen will
über Länder und Meere, — ſey’s in den Tod, lieber
doch als zu Jeſuiten. Jch will ſie retten — ſetzte
er mit Heftigkeit hinzu – und Sie müſſen mir bei-
ſtehn, oder, bei Gott —“ Jch war aufgeſtanden, und
unterbrach eine finſtre Drohung durch mein Befrem-
den, wie eine Preußiſche Jägeruniform die Verlaſſene
befreien könne, wenn nicht kräftigerer Beiſtand ein-
griffe? Er aber entriß mir den Rock, als ich ihn kaum
von der Wand abgenommen. „Zum Zweifeln iſt hier
keine Zeit, wenn Sie wollen. Still, in zwei Minu-
ten bin ich wieder bei Jhnen.“
Er war verſchwunden. Es galt eine Verkleidung.
Fielen mir doch jetzt erſt mehrere Umſtände ein, die ich
früher unbeachtet gelaſſen, die aber an eine förmliche
Gefangenſchaft des Fräuleins erinnerten. Jch über-
legte, ob nicht durch eine offene That die zweifelhafte
Flucht erſpart werden könne, als Delabelle ſchon wie-
der, mit dem zarteſten Jäger, welchen ich je geſehen,
in meine Stube trat.
„Unverkleidet kommt ſie nimmermehr aus dem
Schloſſe,“ rief Mathieu auf meinen Vorſchlag. Sie
kennen nicht die Ränke des Schurken. Jede Verzö-
gerung iſt der Tod.“
Adelaide, krampfhaft meine Hand drückend, ſetzte
hinzu: „Eher will ich verſchmachten, wie mein Vater
auf der Flucht am Heerwege ſeine Heldenſeele ausge-
haucht, als von jenem Böſewicht länger abhangen.“ —
Der Capitain flüſterte mir ſcheidend zu: „Zwei Lieues
von hier, wo der Bach, der durch den Park rinnt,
unter wildem Felsgeſtrüpp in die Maas fällt, mögen
Sie uns um Tagesgrauen treffen, um Jhre Uniform
wieder zu holen. Sie können nicht fehlen, wenn Sie
von der abgeſtorbenen Eiche aus, dem Bach folgen.
Adelaide, Sie kennen indeſſen Jhren Weg.“
Er führte das Fräulein auf den Corridor, kehrte
zurück, und ſchwang ſich dann zum Fenſter hinaus.
Auf dem äuſſerſten Geſims ſtehend, rief er mir zu:
„Hüten Sie ſich vor jedem Lärm.“ Er ſelbſt ließ
ſich ohne Geräuſch in den Kohlgarten hinab, und bald
verſchwand er mir zwiſchen den Hecken aus dem Ge-
ſichte. Jch überlegte, was ich zu thun habe. Mich
trieb es zu ſehen, was aus der Fliehenden werde. Da
ich von keiner Pflicht gebunden war, entſtand ſchnell
der Entſchluß, ohne Zögern ſelbſt das Schloß zu ver-
laſſen, und meinem Detachement nachzueilen. Die Däm-
merung warf kaum ihren erſten Bleiglanz auf die naſſe
Herbſtlandſchaft, als ich ſchon im Mantel, mit Büchſe
und Hirſchfänger, denſelben Ausweg ſuchte, den der
Capitain gefunden. Wäre ich zum Thore hinausge-
gangen, hätte es Adelaidens Flucht verrathen können,
nndund es drängte ja ein Gefühl, wenn auch halb unbe-
wußt, bei dem Entſchluſſe mit; ich durfte bei ihrer
Rettung nicht fehlen.
Der Spur des Capitains folgend, ſuchte ich aus
dem großen, noch in alt franzöſiſchem Geſchmack ange-
legten Garten, das freie Feld. Jm Begriff in eine
große Pappelallee einzubiegen, ſah ich am äußerſten
Ende derſelben Jemand eilig auf mich zu kommen.
Jch ſtellte mich in den Schatten einer Pappel und
ohne mich zu bemerken, ging, mit haſtig unſichern Schrit-
ten, wie einem Verfolger entfliehend, der Maire an
mir vorüber. Er ſchien ſehr verſtört und ſah ſich we-
der rückwärts noch ſeitwärts um. Es war das letzte
Mal, daß ich Jblou geſehen. Als er verſchwunden,
beflügelte ich meine Schritte, und ſtieß, noch vor der
bezeichneten Stelle, auf die geſuchten Flüchtlinge, den
Capitain und das Fräulein. Auch ſie hatten Jblou
geſehen, ohne von ihm bemerkt zu werden. Adelaide
trieb ebendeshalb zur Eil. Doch konnte ſie keinen
Grund für eine nächtliche Wanderung des Maire grade
nach jener Gegend, errathen.
„Das Morgenroth bricht ſchon durch den Nebel;
wir müſſen weiter in das Steingeklüft geh’n, um un-
bemerkt unſre Toilette zu machen,“ ſagte Delabelle.
„Belauſcht uns Jemand?“ rief plötzlich Adelaide,
und hielt ſtill.
„Es iſt nur der Wind zwiſchen den Steinſpalten,“
antwortete der Capitain. Wir ſetzten unſern Weg fort.
„Was war das?“ riefen wir alle Drei plötzlich
aus. Ein winſelnder Ton wurde immer deutlicher.
Jetzt ſtanden wir an einem ſteilen Felsrande, unter
uns floß die Maas, die Klagelaute kamen aus der
Tiefe. Der Capitain leitete uns durch das Felſenbett
des Baches über einen beſchwerlichen Weg hinab. Aber
der Nebel, welcher noch jede Felskuppe im Dämmer-
licht umhüllte, vereitelte das Suchen, bis ein neuer
Ausruf, halb Schmerzgeſtöhn, halb Fluch, zu einer ent-
ſetzlichen Entdeckung führte. Von einer Steinplatte
kam das Wimmern her. Ein zerſchellter Körper lag,
faſt regungslos, darauf. Adelaide umfaßte, halb ihn
zurückhaltend, den Capitain, und ein Schrei des Ent-
ſetzens entfuhr ihren Lippen. Der Röchelnde hörte
ihn, man ſah die Anſtrengung des Körpers, ſich auf-
zurichten. Es kam wie ein halbes Gelächter heraus,
als er „Victoria!“ ſtöhnte.
Mathieu war hinzugeſprungen, und hob den Kopf
dem Unglücklichen auf. Er ſchien Luft und Kraft zu
gewinnen, und nach einem langen Röcheln konnte er
auf die Frage: wer er ſey? antworten:
„Ein Thor, der funfzig Jahre unter Menſchen
lebte, und doch noch am Grabe den Narrenſtreich be-
ging, einem zu trauen.“
„Jſt Rettung möglich?“
„Nein, aber Rache. — Wer ſeyd Jhr? Jch kann
nicht mehr ſehen.“
„Der Capitain Delabelle und das Fräulein von A.“
ſagte Mathieu, wol fühlend, daß hier eine Entdeckung
nicht mehr zu fürchten, aber vielleicht zu wünſchen ſey.
Noch einmal verſuchte der Verwundete ſeine Kräfte.
Ein Freudenſtrahl durchzückte ihn. Er wehte mit der
rechten Hand. „Victoria! ruft Capitain Barbaroux
noch im Tode, Victoria!“
„Bei Gott, Barbaroux, Du?“ rief Delabelle, und
mit bewegter Stimme, „fürwahr beſſer für Dich, wenn
die Lanzenſpitze des Koſaken Dich damals traf. Wer
hat Dir das gethan?“
„Martin Jblou de St. A.“ rief mit entſetzli-
cher Deutlichkeit der Unglückliche.
„Weshalb?“ fragten wir Drei faſt mit einem
Laut, und drängten uns heran, die letzten Laute des
Sterbenden nicht zu verlieren. Aber der Troſt, unter
Menſchen, unter Befreundeten, mit der Ausſicht auf
Rache zu ſterben, hatte dem Leichnam neues Leben
eingehaucht. Seine Gedanken ſammelten ſich. Was
er von nun an mittheilte, wurde ohne widerliche Haſt
eines, den der Tod ſchon umfaßt hält, geſprochen.
„Bruder Mathieu, weißt Du noch, wie ich an
der Bereſina Dich auf meinem Rappen mit aufſitzen
ließ? Sonſt wärſt Du nicht über die Brücke gekom-
men, und über Deinem Leibe wüchſe Hirſe. Bruder,
laß mich nicht hundsföttiſch umkommen. — Jch habe
immer auf gute Cameradſchaft im Felde gehalten; das
iſt das Einzige, was uns tröſten kann, wenn wir am
Thore zum Nichts ſtehen. Bruder! duld’ es nicht,
daß der Fuchsſchwänzer ſich brüſtet, Deinen Camera-
den übertölpelt zu haben.“
„Jch verſpreche es Dir, ich ſchwöre es Dir, aber
ſprich, weshalb, wie gelang es ihm?“
„Tauſendmal habe ich ihm Angſt und Noth ge-
macht, und zum tauſend und erſten muß ich ihm glau-
ben, und folgen, bis er mich ſo ganz dumm und grob
mit einem Fauſtſtoß hinabſtößt. Oben ſiehſt Du, oben
von der Klippe. Da ſollte ich das Blutgeld haben.
Es wäre um aus der Haut zu fahren, wenn ich noch
einen Leib hätte!“
„Um Gotteswillen ſprich, ſprich in dem koſtbaren
Augenblick.“
„Sey unbeſorgt, noch ſterbe ich nicht. Wie ich
ſo zuerſt wieder zum Bewußtſeyn kam, und nichts
weiter um mich als der Schmerz, der kalte Stein und
der Nebel, war’s mir doch unheimlicher als im heißen
Sand von Aegypten und im ruſſiſchen Schnee. Erſt
glaubte ich, ſchon irgendwo außer dieſer Welt zu ſeyn.
Dann der Gedanke: ſo ſcheiden müſſen, ohne daß eine
Menſchenſeele mir das abnähme, was heißer brennt,
als die Sonne an den Pyramiden, kälter iſt als die
Winternacht am Dnieper, was keiner weiß, als ich —
Delabelle! Ob’s wol noch ein Leben giebt, außer die-
ſem hier?“
„Was Grillen in der ſchweren Stunde? Er-
zähle, erzähle.“
„Höre, Bruder! hören Sie, Fräulein. — Verdam-
men hier kann mich Niemand mehr, Niemand. Und
ob es drüben etwas giebt, ein Kriegsgericht, darüber
ſagſt Du mir nachher Deine aufrichtige Meinung, Ca-
merad. — Hu, es war eine wilde Zeit, Blut wie ro-
ther Wein. Jch wünſchte, ich wäre nicht dabei gewe-
ſen. Fräulein! Sollten wir uns irgendwo wiederfin-
den, — können Sie mir vergeben? — Jch habe ihn
nur vor dem Tribunal angeklagt — aber ermordet
habe ich ihn gewiß nicht — ſo wahr es eine Sonne
giebt. — Das hat Jblou ganz allein gethan. — Wie
ein Mann bin ich Jhrem Vater in die Vendēe gefolgt,
ich habe ihn wie einen Rebellen wollen erſchießen laſ-
ſen — das konnt’ ich auch, das durft’ ich auch — aber
ich habe es nicht gethan. Jch ſagte zu ihm: „„Flie-
hen Sie zu Jhrem Bruder, der wird Sie nach Deutſch-
land ſchaffen.““ — Warum that er es? Dafür kann
ich ja nicht. Warum floh er zu ſeinem Bruder? hatte
ich die Pflicht, ihn den Bruder kennen zu lehren? —
Jblou bot mir die Hälfte aller Güter, wenn ich ſeinen
ältern Bruder um’s Leben brächte, aber ich ſagte zu ihm:
„„ich thue es nicht um alle Güter der Welt.““ —
Der’s gethan hat, der kann nicht mehr ſprechen. Bei
Leipzig geht der Pflug eines Bauern über ſeinen Leib.
Meine Wiſſenſchaft ſtieg im Preiſe, aber mit mir iſt’s
nun auch aus.“
Adelaide ſtürzte ſich über den Sterbenden und
faßte mit verzweiflungsvoller Gebehrde ſeine Bruſt, als
wollte ſie noch das letzte Geſtändniß erpreſſen: „Sprich,
ſprich! Wer hat meinen Vater umgebracht? Bei Dei-
ner Seligkeit! redeſt Du Wahrheit?“
Mit ſteigender Erſchöpfung fuhr Barbaroux fort:
„Jhr Vater klopfte ermattet an’s Thor, Jblou nahm
ihn auf und gab ihm den Bruderkuß; aber in der
Nacht — erwürgten ſie ihn im Bette — im Brun-
nen ſchläft er.“
„Ungeheuer!“ ſchrie Adelaide und ſank beſinnungs-
los hin.
„Camerad! mir iſt recht unwohl. Giebt’s keinen
Prieſter in der Nähe, um Meſſe zu leſen — um zu
beten — ein Ave Maria — es kann ja nichts ſcha-
den — ein Paternoſter — Jeſus Maria! — noch nicht,
noch nicht!“
Die Sonne, welche jetzt über einer Felſenkuppe
hervortrat, fand kein Leben in ihm. Es war ein feier-
licher Anblick. Adelaide erholte ſich und ſprach bedeu-
tungsvoll ernſt zu ihrem Begleiter: „Delabelle! nicht
eher werde ich Jhre Gattin, bis ich werth bin meines
Va-
Vaters Tochter zu heißen.“ — Der Capitain erwiederte
in gleichem Tone: „Das nehm’ ich allein auf mich.
Jhr Vater iſt mein Vater.“
Hier könnte ich aufhören: meine Geſchichte iſt zu
Ende. Weder habe ich mehr in Erfahrung gebracht
von dem Vergangenen, noch erfuhr ich von dem, was
darauf folgte, anders als durch Hörenſagen. Wir trenn-
ten uns am Ufer der Maas, und ich ſah Adelaiden
und Delabelle nicht wieder. Aber nie vergeſſe ich die-
ſen Anblick, nie die letzte Scene zwiſchen uns, in welcher
ich in den Augen mancher Leſer keine glänzende Rolle
geſpielt habe. Aber gern verſchwinde ich aus dieſer Er-
zählung, wo es mein letzter Zweck geweſen, mich als
Helden, wie ihn der Roman verlangt, hinzuſtellen, wenn
nicht eben der Romanheld die allerbeſcheidenſte Aufgabe
hätte, nichts zu ſeyn als der äußere Faden für die
Begebenheiten.
Die Sonne brach hervor durch einen zerriſſenen
Himmel. Die grauen Felskuppen rötheten ſich tiefer
und tiefer; endlich ſchien der Morgenſtrahl auf das
Paar. Jch ſah ſie ſchweigend ſtehn, getrennt von dem
Leichnam; über ihm reichten ſie ſich die Hände. Es
war ein ſtiller Schwur, ein Gelöbniß, nicht wie eines
chriſtlichen Brautpaars: wie zwei aus dem Alterthum,
die ſich vor den Göttern zum Tode weihen, lagen ihre
Hände in einander. Bewundern konnte man die Ruhe,
die Feſtigkeit in den ſchönen, ausdrucksvollen Geſich-
tern. Die Erinnerung hatte eben ſo wenig Gewalt
über ſie, als die trübe Ausſicht. Sie wußten, was ſie
zu thun hatten. Da war kein Zweifel, kein Schwan-
ken; ſie hätten darauf den Tod genommen. Aber kein
Strahl des Troſtes in den Augen des Mannes, in den
Augen der ſchönen Frau.
Jch ſtand auf meine Büchſe gelehnt und ſchau-
derte. Da, fühlte ich, erblüht kein ſtilles Glück. De-
labelle bemerkte mich. Ein Gedanke durchzuckte ihn,
und plötzlich ſtand er mir zur Seite. Der Argwohn
lag auf den Augenbrauen der gigantiſchen Geſtalt. Sein
finſtres Auge ſuchte abwechſelnd in meinem Geſichte
zu leſen, abwechſelnd muſterte er den Fluß und ſein
ſchroffes Ufer, an dem ich ſtand. Ein Stoß von ſei-
ner Fauſt hätte den kaum Geneſenen hinabgeworfen.
Adelaide mochte einen ſchnellen Entſchluß fürchten, ſie
eilte herbei und flüſterte, Delabelle umfaſſend, ihm zu:
„Laß ihn; der verräth nichts.“
„Kind, Du haſt mehr erfahren, als Männer wiſ-
ſen dürfen,“ murmelte er zwiſchen den Zähnen.
„Und wenn es ſeyn muß, trete ich als Zeuge vor
Jhren Aſſiſen auf,“ entgegnete ich.
Er lachte tief auf: „Jch wähle einen kürzern
Prozeß, wo es keiner Aſſiſen braucht. Jhre Zunge,
junger Freund, iſt hier zur Gerechtigkeit ſo überflüſſig,
daß, wenn ich wüßte, ſie könnte jemals laut werden —
es koſtete einen Sprung in’s Waſſer.“
Jch machte mich auf Alles gefaßt, als Adelaide
einige Worte ihm in’s Ohr ſagte:
„Sieben Jahr,“ rief er dann aus, „es iſt wahr,
das genügt. Können Sie uns geloben, durch Hand-
ſchlag, ſieben Jahr zu ſchweigen, von Allem was Sie
hier erfuhren? Bei’m Himmel, wo nicht, ſo koſtet es
noch ein Blut mehr, als wir zählten. Daß die Ge-
rechtigkeit nicht zu kurz kommt, dafür bürgt Jhnen
Mathieu Delabelle.“
Das Beſinnen war kurz. Jch war nicht beru-
fen, die Blutdecke zu lüften über Verbrechen aus den
Zeiten des Terrorismus. Die Gerichte kommen von
ſelbſt und klopfen nächtlich an. Jch reichte dem Ca-
pitain die Hand. Er ſchüttelte ſie, und ſein letzter
Wunſch klang:
„Auf Wiederſehen, aber wenn die Trommeln wir-
beln, und zwei Heere einander gegenüber, und das
eine ruft: „Vive l’empereur!“
Es gehört nicht zu dieſer Erzählung, auf welche
Weiſe ich in das Hauptquartier der zur Heimath zie-
henden Jäger gelangte. Noch einmal trafen ſich alle
Jägercorps in Givet, um dort durch eine Anrede des
General v. Ziethen, welche vielleicht noch manchem mei-
ner ehemaligen Cameraden erinnerlich iſt, entlaſſen zu
werden. Der Regen, der auf den dicht gedrängten
Platz niedergoß, war nicht die einzige unangenehme
Mitgabe von dieſem Tage. Wir durchſtreiften darauf
in größern Colonnen die Ardennen. An einem ſchönen
Wintertage ſah man von der Höhe der Chauſſee die
Thürme des Schloſſes von Beauvais. Die Dorfglok-
ken läuteten dumpf herüber, und gewiß iſt die Ant-
wort des Bauern auf meine Frage noch allen Came-
raden, welche mit mir des Weges zogen, im Gedächt-
niß: Der Maire Jblou ſey erſtochen im Walde ge-
funden worden, vermuthlich von ſeinen Bauern ermor-
det. Ein lang gehegter Groll wegen vieler Bedrückun-
gen ſey endlich in einer wilden That der Rache aus-
gebrochen.
Darf ich den unbeſtimmten Nachrichten eines Rei-
ſenden durch die Picardie trauen, ſo hat einige Jahre
darauf ein Fräulein von A. ihre Güter dort verkauft
und iſt aus jener Gegend verſchwunden. Eines Dela-
belle Namen las ich unter dem Verzeichniß der emi-
grirten Franzoſen, welche unter L’Allemand in Amerika
das chimäriſche Champ d’Aſyle ſtiften wollten. Die
bedungenen ſieben Jahr des Schweigens hangen viel-
leicht mit der alten franzöſiſchen Verjährungsfriſt in
einigen Criminalſachen zuſammen.