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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898.

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VI. Abschnitt. [Gleich. 234]
treten. Leider stösst, mit Ausnahme des Falles, wo n2 klein
gegen n1 ist, die weitere Durchführung der Rechnung auf kaum
zu überwindende Schwierigkeiten, so dass es unentschieden
bleibt, ob man unter dieser Annahme ähnliche Gesetze für
die Verflüssigung erhielte, wie sie die van der Waals'sche
Formel liefert, welche wir aus einer Hypothese ableiteten, die
der gegenwärtigen in gewisser Beziehung gerade entgegen-
gesetzt ist; denn während wir dort von der Voraussetzung
ausgingen, dass sich die directe Anziehung jedes Moleküles
auf Distanzen erstreckt, welche gross gegen die Entfernung
der Mittelpunkte zweier Nachbaratome sind, so haben wir hier
angenommen, dass der Anziehungsbereich eines Atomes sogar
noch klein gegen den vom Atome erfüllten Raum ist.

Der Verfasser des vorliegenden Buches suchte sich ein-
mal 1) in folgender Weise ein mechanisches Bild vom Verhalten
der Gasmoleküle zu machen. Dieselben werden als materielle
Punkte (einzelne Atome) von der Masse m und dem mittleren
Geschwindigkeitsquadrate c2 betrachtet. In Entfernungen, die
[Formel 1] sind, wirken sie nicht auf einander, ebenso wenig in
Entfernungen, die [Formel 2] sind. In den dazwischen liegenden
Entfernungen aber üben sie eine enorme Anziehung auf ein-
ander aus, so dass ihre lebendige Kraft beim Uebergange von
der Entfernung s + e in die Entfernung s um kh wächst. e soll
noch klein gegenüber s sein.

Sei o = 4/3 p s3 eine Kugel vom Radius s, n1 die Zahl der
Einzelatome im Volumen v, n2 die der Doppelatome daselbst,
d. h. derjenigen, für welche die Entfernung der Mittelpunkte
kleiner als s ist. Dann findet man wie früher
[Formel 3] .
Wäre z. B. wie bei gewöhnlicher Luft n1 o/v etwa gleich 1/1000,
und ausserdem m c2 = kh, so könnte n2 ziemlich klein gegen n1
sein; ausserdem würden je zwei Atome beim Zusammentreffen
erheblich abgelenkt, so dass im Grossen und Ganzen noch der
Gas-Charakter gewahrt bliebe. Allein schon bei zehnfacher ab-
soluter Temperatur würde die Ablenkung der Moleküle von

1) Wien. Sitzungsber. Bd. 89, II, S. 714, 1884.

VI. Abschnitt. [Gleich. 234]
treten. Leider stösst, mit Ausnahme des Falles, wo n2 klein
gegen n1 ist, die weitere Durchführung der Rechnung auf kaum
zu überwindende Schwierigkeiten, so dass es unentschieden
bleibt, ob man unter dieser Annahme ähnliche Gesetze für
die Verflüssigung erhielte, wie sie die van der Waals’sche
Formel liefert, welche wir aus einer Hypothese ableiteten, die
der gegenwärtigen in gewisser Beziehung gerade entgegen-
gesetzt ist; denn während wir dort von der Voraussetzung
ausgingen, dass sich die directe Anziehung jedes Moleküles
auf Distanzen erstreckt, welche gross gegen die Entfernung
der Mittelpunkte zweier Nachbaratome sind, so haben wir hier
angenommen, dass der Anziehungsbereich eines Atomes sogar
noch klein gegen den vom Atome erfüllten Raum ist.

Der Verfasser des vorliegenden Buches suchte sich ein-
mal 1) in folgender Weise ein mechanisches Bild vom Verhalten
der Gasmoleküle zu machen. Dieselben werden als materielle
Punkte (einzelne Atome) von der Masse m und dem mittleren
Geschwindigkeitsquadrate c2̅ betrachtet. In Entfernungen, die
[Formel 1] sind, wirken sie nicht auf einander, ebenso wenig in
Entfernungen, die [Formel 2] sind. In den dazwischen liegenden
Entfernungen aber üben sie eine enorme Anziehung auf ein-
ander aus, so dass ihre lebendige Kraft beim Uebergange von
der Entfernung σ + ε in die Entfernung σ um χ wächst. ε soll
noch klein gegenüber σ sein.

Sei ω = 4/3 π σ3 eine Kugel vom Radius σ, n1 die Zahl der
Einzelatome im Volumen v, n2 die der Doppelatome daselbst,
d. h. derjenigen, für welche die Entfernung der Mittelpunkte
kleiner als σ ist. Dann findet man wie früher
[Formel 3] .
Wäre z. B. wie bei gewöhnlicher Luft n1 ω/v etwa gleich 1/1000,
und ausserdem m c2̅ = χ, so könnte n2 ziemlich klein gegen n1
sein; ausserdem würden je zwei Atome beim Zusammentreffen
erheblich abgelenkt, so dass im Grossen und Ganzen noch der
Gas-Charakter gewahrt bliebe. Allein schon bei zehnfacher ab-
soluter Temperatur würde die Ablenkung der Moleküle von

1) Wien. Sitzungsber. Bd. 89, II, S. 714, 1884.
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[216/0234] VI. Abschnitt. [Gleich. 234] treten. Leider stösst, mit Ausnahme des Falles, wo n2 klein gegen n1 ist, die weitere Durchführung der Rechnung auf kaum zu überwindende Schwierigkeiten, so dass es unentschieden bleibt, ob man unter dieser Annahme ähnliche Gesetze für die Verflüssigung erhielte, wie sie die van der Waals’sche Formel liefert, welche wir aus einer Hypothese ableiteten, die der gegenwärtigen in gewisser Beziehung gerade entgegen- gesetzt ist; denn während wir dort von der Voraussetzung ausgingen, dass sich die directe Anziehung jedes Moleküles auf Distanzen erstreckt, welche gross gegen die Entfernung der Mittelpunkte zweier Nachbaratome sind, so haben wir hier angenommen, dass der Anziehungsbereich eines Atomes sogar noch klein gegen den vom Atome erfüllten Raum ist. Der Verfasser des vorliegenden Buches suchte sich ein- mal 1) in folgender Weise ein mechanisches Bild vom Verhalten der Gasmoleküle zu machen. Dieselben werden als materielle Punkte (einzelne Atome) von der Masse m und dem mittleren Geschwindigkeitsquadrate c2̅ betrachtet. In Entfernungen, die [FORMEL] sind, wirken sie nicht auf einander, ebenso wenig in Entfernungen, die [FORMEL] sind. In den dazwischen liegenden Entfernungen aber üben sie eine enorme Anziehung auf ein- ander aus, so dass ihre lebendige Kraft beim Uebergange von der Entfernung σ + ε in die Entfernung σ um χ wächst. ε soll noch klein gegenüber σ sein. Sei ω = 4/3 π σ3 eine Kugel vom Radius σ, n1 die Zahl der Einzelatome im Volumen v, n2 die der Doppelatome daselbst, d. h. derjenigen, für welche die Entfernung der Mittelpunkte kleiner als σ ist. Dann findet man wie früher [FORMEL]. Wäre z. B. wie bei gewöhnlicher Luft n1 ω/v etwa gleich 1/1000, und ausserdem m c2̅ = χ, so könnte n2 ziemlich klein gegen n1 sein; ausserdem würden je zwei Atome beim Zusammentreffen erheblich abgelenkt, so dass im Grossen und Ganzen noch der Gas-Charakter gewahrt bliebe. Allein schon bei zehnfacher ab- soluter Temperatur würde die Ablenkung der Moleküle von 1) Wien. Sitzungsber. Bd. 89, II, S. 714, 1884.

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Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/234>, abgerufen am 26.11.2024.