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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 1. Leipzig, 1896.

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§ 1. Mechanische Analogie.
fachen Gestalt abweicht, Wellen entstehen müssen, die immer
mehr durcheinanderlaufen, so dass sich die lebendige Kraft
der ursprünglichen sichtbaren Bewegung endlich in die
einer unsichtbaren Wellenbewegung auflösen muss. Diese
mathematische Consequenz der die Erscheinungen beschreiben-
den Gleichungen führt gewissermaassen von selbst zur Hypo-
these, dass jene Schwingungen der kleinsten Theilchen, in
welche die immer kleiner werdenden Wellen schliesslich über-
gehen müssen, mit der erfahrungsmässig entstehenden Wärme
identisch seien, und dass die Wärme überhaupt eine Bewegung
in kleinen, uns unsichtbaren Dimensionen ist.

Hierzu kommt nun die uralte Ansicht, dass die Körper
den von ihnen eingenommenen Raum nicht im mathematischen
Sinne continuirlich erfüllen, sondern aus discreten, wegen ihrer
Kleinheit einzeln für die Sinne vollkommen unwahrnehmbaren
Körperchen, den Molekülen, bestehen. Für diese Ansicht
sprechen philosophische Gründe. Denn ein wirkliches Con-
tinuum muss aus mathematisch unendlich vielen Theilen be-
stehen; eine im mathematischen Sinne wirklich unendliche
Zahl aber ist undefinirbar. Ferner muss man bei Annahme
eines Continuums die partiellen Differentialgleichungen für das
Verhalten desselben als das ursprünglich gegebene auffassen.
So wünschenswerth es nun auch ist, die partiellen Differential-
gleichungen als das erfahrungsmässig am vollständigsten Con-
trolirbare streng von deren mechanischer Begründung zu
scheiden (wie Hertz dies speciell für die Elektricitätslehre
betont), so erhöht doch eine mechanische Begründung der
partiellen Differentialgleichungen aus den durch das Kommen
und Gehen kleiner Körperchen bedingten Mittelzahlen ausser-
ordentlich deren Anschaulichkeit, und es ist bisher keine
andere mechanische Erklärung der Naturerscheinungen ge-
funden worden als die Atomistik.

Eine gewisse Discontinuität der Körper ist übrigens durch
zahlreiche, sogar quantitativ übereinstimmende Thatsachen er-
fahrungsmässig festgestellt. Besonders unentbehrlich ist die
Atomistik zur Versinnlichung der Thatsachen der Chemie und
Krystallographie. Die mechanische Analogie zwischen den
Thatsachen jener Wissenschaften und den Gruppirungsverhält-
nissen discreter Theilchen gehört sicher zu denjenigen, deren

§ 1. Mechanische Analogie.
fachen Gestalt abweicht, Wellen entstehen müssen, die immer
mehr durcheinanderlaufen, so dass sich die lebendige Kraft
der ursprünglichen sichtbaren Bewegung endlich in die
einer unsichtbaren Wellenbewegung auflösen muss. Diese
mathematische Consequenz der die Erscheinungen beschreiben-
den Gleichungen führt gewissermaassen von selbst zur Hypo-
these, dass jene Schwingungen der kleinsten Theilchen, in
welche die immer kleiner werdenden Wellen schliesslich über-
gehen müssen, mit der erfahrungsmässig entstehenden Wärme
identisch seien, und dass die Wärme überhaupt eine Bewegung
in kleinen, uns unsichtbaren Dimensionen ist.

Hierzu kommt nun die uralte Ansicht, dass die Körper
den von ihnen eingenommenen Raum nicht im mathematischen
Sinne continuirlich erfüllen, sondern aus discreten, wegen ihrer
Kleinheit einzeln für die Sinne vollkommen unwahrnehmbaren
Körperchen, den Molekülen, bestehen. Für diese Ansicht
sprechen philosophische Gründe. Denn ein wirkliches Con-
tinuum muss aus mathematisch unendlich vielen Theilen be-
stehen; eine im mathematischen Sinne wirklich unendliche
Zahl aber ist undefinirbar. Ferner muss man bei Annahme
eines Continuums die partiellen Differentialgleichungen für das
Verhalten desselben als das ursprünglich gegebene auffassen.
So wünschenswerth es nun auch ist, die partiellen Differential-
gleichungen als das erfahrungsmässig am vollständigsten Con-
trolirbare streng von deren mechanischer Begründung zu
scheiden (wie Hertz dies speciell für die Elektricitätslehre
betont), so erhöht doch eine mechanische Begründung der
partiellen Differentialgleichungen aus den durch das Kommen
und Gehen kleiner Körperchen bedingten Mittelzahlen ausser-
ordentlich deren Anschaulichkeit, und es ist bisher keine
andere mechanische Erklärung der Naturerscheinungen ge-
funden worden als die Atomistik.

Eine gewisse Discontinuität der Körper ist übrigens durch
zahlreiche, sogar quantitativ übereinstimmende Thatsachen er-
fahrungsmässig festgestellt. Besonders unentbehrlich ist die
Atomistik zur Versinnlichung der Thatsachen der Chemie und
Krystallographie. Die mechanische Analogie zwischen den
Thatsachen jener Wissenschaften und den Gruppirungsverhält-
nissen discreter Theilchen gehört sicher zu denjenigen, deren

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[5/0019] § 1. Mechanische Analogie. fachen Gestalt abweicht, Wellen entstehen müssen, die immer mehr durcheinanderlaufen, so dass sich die lebendige Kraft der ursprünglichen sichtbaren Bewegung endlich in die einer unsichtbaren Wellenbewegung auflösen muss. Diese mathematische Consequenz der die Erscheinungen beschreiben- den Gleichungen führt gewissermaassen von selbst zur Hypo- these, dass jene Schwingungen der kleinsten Theilchen, in welche die immer kleiner werdenden Wellen schliesslich über- gehen müssen, mit der erfahrungsmässig entstehenden Wärme identisch seien, und dass die Wärme überhaupt eine Bewegung in kleinen, uns unsichtbaren Dimensionen ist. Hierzu kommt nun die uralte Ansicht, dass die Körper den von ihnen eingenommenen Raum nicht im mathematischen Sinne continuirlich erfüllen, sondern aus discreten, wegen ihrer Kleinheit einzeln für die Sinne vollkommen unwahrnehmbaren Körperchen, den Molekülen, bestehen. Für diese Ansicht sprechen philosophische Gründe. Denn ein wirkliches Con- tinuum muss aus mathematisch unendlich vielen Theilen be- stehen; eine im mathematischen Sinne wirklich unendliche Zahl aber ist undefinirbar. Ferner muss man bei Annahme eines Continuums die partiellen Differentialgleichungen für das Verhalten desselben als das ursprünglich gegebene auffassen. So wünschenswerth es nun auch ist, die partiellen Differential- gleichungen als das erfahrungsmässig am vollständigsten Con- trolirbare streng von deren mechanischer Begründung zu scheiden (wie Hertz dies speciell für die Elektricitätslehre betont), so erhöht doch eine mechanische Begründung der partiellen Differentialgleichungen aus den durch das Kommen und Gehen kleiner Körperchen bedingten Mittelzahlen ausser- ordentlich deren Anschaulichkeit, und es ist bisher keine andere mechanische Erklärung der Naturerscheinungen ge- funden worden als die Atomistik. Eine gewisse Discontinuität der Körper ist übrigens durch zahlreiche, sogar quantitativ übereinstimmende Thatsachen er- fahrungsmässig festgestellt. Besonders unentbehrlich ist die Atomistik zur Versinnlichung der Thatsachen der Chemie und Krystallographie. Die mechanische Analogie zwischen den Thatsachen jener Wissenschaften und den Gruppirungsverhält- nissen discreter Theilchen gehört sicher zu denjenigen, deren

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Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 1. Leipzig, 1896, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie01_1896/19>, abgerufen am 27.11.2024.