Mars besonnen genug blieb, ihr Vermögen zu be¬ rechnen, und aus Furcht es zu übersteigen, es nicht einmal zu erreichen wagte. Sie stand nun da in ihrer edlen Art, wie eine betagte Königin und wagte, besorgt die Majestät ihrer Würde oder ihres Alters zu verletzen, nicht die kleinste jugendlich heitere Be¬ wegung, die sich doch selbst eine betagte Königin zu¬ weilen erlauben dürfte. Sie hatte so eine vornehme Haltung, daß die Gräfin als Kammermädchen neben ihr erschien, und es war ganz wunderlich zu sehen, wenn die Dienerin saß und die Gebieterin neben ihr stand. Wenn Figaro oder der Page ihr einen Kuß raubte, ließ sie es geschehen, wie ein Spalier von dem Knaben eine Birn abreißen. Diese Nachsicht, die freilich ein gebildetes Publikum überall mit einer beliebten Schauspielerin hat, finde ich kaum löblich. Gewiß ist es für Menschen von Gefühl eine rüh¬ rende Vorstellung, sich zu ihrem Vergnügen eine Künstlerin bemühen zu sehen, die einst ihre Väter entzückt hat. Aber wir müssen auch an unsere Kin¬ der denken, und aus Dankbarkeit für den Genuß den unsere Eltern gehabt, nicht den Enkeln den Ge¬ nuß entziehen. Wenn, wie es an vielen Orten ge¬ schieht, eine Schauspielerin eine jugendliche Rolle zwan¬ zig Jahr zu lange behauptet, so werden dadurch die jungen Künstlerinnen in ihrer Ausbildung zurückge¬ halten, und oft stirbt darüber ein ganzes Theaterge¬
Mars beſonnen genug blieb, ihr Vermögen zu be¬ rechnen, und aus Furcht es zu überſteigen, es nicht einmal zu erreichen wagte. Sie ſtand nun da in ihrer edlen Art, wie eine betagte Königin und wagte, beſorgt die Majeſtät ihrer Würde oder ihres Alters zu verletzen, nicht die kleinſte jugendlich heitere Be¬ wegung, die ſich doch ſelbſt eine betagte Königin zu¬ weilen erlauben dürfte. Sie hatte ſo eine vornehme Haltung, daß die Gräfin als Kammermädchen neben ihr erſchien, und es war ganz wunderlich zu ſehen, wenn die Dienerin ſaß und die Gebieterin neben ihr ſtand. Wenn Figaro oder der Page ihr einen Kuß raubte, ließ ſie es geſchehen, wie ein Spalier von dem Knaben eine Birn abreißen. Dieſe Nachſicht, die freilich ein gebildetes Publikum überall mit einer beliebten Schauſpielerin hat, finde ich kaum löblich. Gewiß iſt es für Menſchen von Gefühl eine rüh¬ rende Vorſtellung, ſich zu ihrem Vergnügen eine Künſtlerin bemühen zu ſehen, die einſt ihre Väter entzückt hat. Aber wir müſſen auch an unſere Kin¬ der denken, und aus Dankbarkeit für den Genuß den unſere Eltern gehabt, nicht den Enkeln den Ge¬ nuß entziehen. Wenn, wie es an vielen Orten ge¬ ſchieht, eine Schauſpielerin eine jugendliche Rolle zwan¬ zig Jahr zu lange behauptet, ſo werden dadurch die jungen Künſtlerinnen in ihrer Ausbildung zurückge¬ halten, und oft ſtirbt darüber ein ganzes Theaterge¬
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Mars beſonnen genug blieb, ihr Vermögen zu be¬
rechnen, und aus Furcht es zu überſteigen, es nicht
einmal zu erreichen wagte. Sie ſtand nun da in
ihrer edlen Art, wie eine betagte Königin und wagte,
beſorgt die Majeſtät ihrer Würde oder ihres Alters
zu verletzen, nicht die kleinſte jugendlich heitere Be¬
wegung, die ſich doch ſelbſt eine betagte Königin zu¬
weilen erlauben dürfte. Sie hatte ſo eine vornehme
Haltung, daß die Gräfin als Kammermädchen neben
ihr erſchien, und es war ganz wunderlich zu ſehen,
wenn die Dienerin ſaß und die Gebieterin neben ihr
ſtand. Wenn Figaro oder der Page ihr einen Kuß
raubte, ließ ſie es geſchehen, wie ein Spalier von
dem Knaben eine Birn abreißen. Dieſe Nachſicht,
die freilich ein gebildetes Publikum überall mit einer
beliebten Schauſpielerin hat, finde ich kaum löblich.
Gewiß iſt es für Menſchen von Gefühl eine rüh¬
rende Vorſtellung, ſich zu ihrem Vergnügen eine
Künſtlerin bemühen zu ſehen, die einſt ihre Väter
entzückt hat. Aber wir müſſen auch an unſere Kin¬
der denken, und aus Dankbarkeit für den Genuß
den unſere Eltern gehabt, nicht den Enkeln den Ge¬
nuß entziehen. Wenn, wie es an vielen Orten ge¬
ſchieht, eine Schauſpielerin eine jugendliche Rolle zwan¬
zig Jahr zu lange behauptet, ſo werden dadurch die
jungen Künſtlerinnen in ihrer Ausbildung zurückge¬
halten, und oft ſtirbt darüber ein ganzes Theaterge¬
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/41>, abgerufen am 02.03.2025.
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