Von diesen erfuhr sie, Gennaro sei jetzt in Venedig. Sie eilte ihm nach, sich an seinem Angesichte zu er¬ freuen. Sie findet ihn schlafend, betrachtet ihn lange mit Entzücken und weckt ihn endlich durch einen Kuß. Gennaro schlägt die Augen auf und sieht angenehm überrascht eine schöne Frau zu seiner Seite. Zwar hat er schon eine Liebe, aber das im Schlafe zu¬ gefallene Glück mag er darum doch nicht verschmähen. Er ist artig gegen die Schöne und das Heilige ihrer zärtlichen Erwiederung ahndet der Jüngling nicht. Er gesteht ihr, er fühle sich durch eine wunderbare Gewalt zu ihr hingezogen, ihr könne er alle seine Geheimnisse vertrauen. Er erzählt ihr von seiner unbekannten Mutter, liest ihr die Briefe vor, die er durch fremde Hand von ihr erhalten. Lucrecia Borgia vergißt alle ihre Verbrechen und ist einmal glücklich, weil sie sich schuldlos fühlt. Aber von dem Balkon des Pallastes herab, hat einer der Edelleute Lucrecia Borgia erkannt. Er theilt das Geheimniß seinen Freunden mit. Sie alle hatten eine Blutschuld an ihr zu rächen. Sie stürzen mit Fackeln in den Garten hinab und wie die Rachegötter umringen sie Lucrecia. Einer tritt nach dem Andern hervor, einer schreit nach dem Andern: du hast meinen Vater, du hast meinen Oheim ermordet. Lucrecia, sonst abgehärtet gegen solchen Vorwurf, fühlt sich jetzt zerschmettert von ihm. Sie kann
Von dieſen erfuhr ſie, Gennaro ſei jetzt in Venedig. Sie eilte ihm nach, ſich an ſeinem Angeſichte zu er¬ freuen. Sie findet ihn ſchlafend, betrachtet ihn lange mit Entzücken und weckt ihn endlich durch einen Kuß. Gennaro ſchlägt die Augen auf und ſieht angenehm überraſcht eine ſchöne Frau zu ſeiner Seite. Zwar hat er ſchon eine Liebe, aber das im Schlafe zu¬ gefallene Glück mag er darum doch nicht verſchmähen. Er iſt artig gegen die Schöne und das Heilige ihrer zärtlichen Erwiederung ahndet der Jüngling nicht. Er geſteht ihr, er fühle ſich durch eine wunderbare Gewalt zu ihr hingezogen, ihr könne er alle ſeine Geheimniſſe vertrauen. Er erzählt ihr von ſeiner unbekannten Mutter, liest ihr die Briefe vor, die er durch fremde Hand von ihr erhalten. Lucrecia Borgia vergißt alle ihre Verbrechen und iſt einmal glücklich, weil ſie ſich ſchuldlos fühlt. Aber von dem Balkon des Pallaſtes herab, hat einer der Edelleute Lucrecia Borgia erkannt. Er theilt das Geheimniß ſeinen Freunden mit. Sie alle hatten eine Blutſchuld an ihr zu rächen. Sie ſtürzen mit Fackeln in den Garten hinab und wie die Rachegötter umringen ſie Lucrecia. Einer tritt nach dem Andern hervor, einer ſchreit nach dem Andern: du haſt meinen Vater, du haſt meinen Oheim ermordet. Lucrecia, ſonſt abgehärtet gegen ſolchen Vorwurf, fühlt ſich jetzt zerſchmettert von ihm. Sie kann
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0137"n="125"/>
Von dieſen erfuhr ſie, Gennaro ſei jetzt in Venedig.<lb/>
Sie eilte ihm nach, ſich an ſeinem Angeſichte zu er¬<lb/>
freuen. Sie findet ihn ſchlafend, betrachtet ihn lange<lb/>
mit Entzücken und weckt ihn endlich durch einen Kuß.<lb/>
Gennaro ſchlägt die Augen auf und ſieht angenehm<lb/>
überraſcht eine ſchöne Frau zu ſeiner Seite. Zwar<lb/>
hat er ſchon eine Liebe, aber das im Schlafe zu¬<lb/>
gefallene Glück mag er darum doch nicht verſchmähen.<lb/>
Er iſt artig gegen die Schöne und das Heilige ihrer<lb/>
zärtlichen Erwiederung ahndet der Jüngling nicht.<lb/>
Er geſteht ihr, er fühle ſich durch eine wunderbare<lb/>
Gewalt zu ihr hingezogen, ihr könne er alle ſeine<lb/>
Geheimniſſe vertrauen. Er erzählt ihr von ſeiner<lb/>
unbekannten Mutter, liest ihr die Briefe vor, die<lb/>
er durch fremde Hand von ihr erhalten. Lucrecia<lb/>
Borgia vergißt alle ihre Verbrechen und iſt einmal<lb/>
glücklich, weil ſie ſich ſchuldlos fühlt. Aber von<lb/>
dem Balkon des Pallaſtes herab, hat einer der<lb/>
Edelleute Lucrecia Borgia erkannt. Er theilt das<lb/>
Geheimniß ſeinen Freunden mit. Sie alle hatten<lb/>
eine Blutſchuld an ihr zu rächen. Sie ſtürzen mit<lb/>
Fackeln in den Garten hinab und wie die Rachegötter<lb/>
umringen ſie Lucrecia. Einer tritt nach dem Andern<lb/>
hervor, einer ſchreit nach dem Andern: du haſt<lb/>
meinen Vater, du haſt meinen Oheim ermordet.<lb/>
Lucrecia, ſonſt abgehärtet gegen ſolchen Vorwurf,<lb/>
fühlt ſich jetzt zerſchmettert von ihm. Sie kann<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[125/0137]
Von dieſen erfuhr ſie, Gennaro ſei jetzt in Venedig.
Sie eilte ihm nach, ſich an ſeinem Angeſichte zu er¬
freuen. Sie findet ihn ſchlafend, betrachtet ihn lange
mit Entzücken und weckt ihn endlich durch einen Kuß.
Gennaro ſchlägt die Augen auf und ſieht angenehm
überraſcht eine ſchöne Frau zu ſeiner Seite. Zwar
hat er ſchon eine Liebe, aber das im Schlafe zu¬
gefallene Glück mag er darum doch nicht verſchmähen.
Er iſt artig gegen die Schöne und das Heilige ihrer
zärtlichen Erwiederung ahndet der Jüngling nicht.
Er geſteht ihr, er fühle ſich durch eine wunderbare
Gewalt zu ihr hingezogen, ihr könne er alle ſeine
Geheimniſſe vertrauen. Er erzählt ihr von ſeiner
unbekannten Mutter, liest ihr die Briefe vor, die
er durch fremde Hand von ihr erhalten. Lucrecia
Borgia vergißt alle ihre Verbrechen und iſt einmal
glücklich, weil ſie ſich ſchuldlos fühlt. Aber von
dem Balkon des Pallaſtes herab, hat einer der
Edelleute Lucrecia Borgia erkannt. Er theilt das
Geheimniß ſeinen Freunden mit. Sie alle hatten
eine Blutſchuld an ihr zu rächen. Sie ſtürzen mit
Fackeln in den Garten hinab und wie die Rachegötter
umringen ſie Lucrecia. Einer tritt nach dem Andern
hervor, einer ſchreit nach dem Andern: du haſt
meinen Vater, du haſt meinen Oheim ermordet.
Lucrecia, ſonſt abgehärtet gegen ſolchen Vorwurf,
fühlt ſich jetzt zerſchmettert von ihm. Sie kann
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/137>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.