-- seitdem zwei Jahre älter geworden, bewunderte ich noch mehr die Jugendlichkeit dieses Mannes. So viel Punkte, so viel Küsse sind in seinen Briefen. Und die unnachahmliche Kunst, daß man durch die zehen Jahre, die der Briefwechsel dauert, nie merkt, wie alt sie denn eigentlich ist. Anfänglich war ich ein dummer tugendhafter Deutscher und urtheilte: weil er mit ihr von gewissen Dinge auf eine gewisse Art spricht, muß sie wohl ihre Jugendzeit hinter sich haben. Als ich aber den dritten Band las, sah' ich ein wie ich mich geirrt. Da spricht Diderot einmal von und mit seiner eigenen Tochter, die sechszehen Jahre alt ist. Nein, das Blut kann einem dabei gefrieren! Ueber Dinge in welchen ein Frauenzim¬ mer nicht eher Schülerin werden darf, als bis sie Meisterin geworden, und worin sie nur die Erfah¬ rung belehren soll, wird Diderots Tochter von ihrem Vater wissenschaftlich unterrichtet. Und er erzählt seiner Freundin umständlich und mit väterlichem Ent¬ zücken, wie verständig sich seine Tochter dabei benom¬ men. Gut -- sagt sie zuletzt -- wir wollen keine Vorurtheile haben; aber der Anstand, die Ueberein¬ kunft, der Schein ist zu achten. Dann spricht sie von Geist und Materie wie Holbach und die Andern. Der Satan von sechszehen Jahren erkennt keine
V. 3
— ſeitdem zwei Jahre älter geworden, bewunderte ich noch mehr die Jugendlichkeit dieſes Mannes. So viel Punkte, ſo viel Küſſe ſind in ſeinen Briefen. Und die unnachahmliche Kunſt, daß man durch die zehen Jahre, die der Briefwechſel dauert, nie merkt, wie alt ſie denn eigentlich iſt. Anfänglich war ich ein dummer tugendhafter Deutſcher und urtheilte: weil er mit ihr von gewiſſen Dinge auf eine gewiſſe Art ſpricht, muß ſie wohl ihre Jugendzeit hinter ſich haben. Als ich aber den dritten Band las, ſah' ich ein wie ich mich geirrt. Da ſpricht Diderot einmal von und mit ſeiner eigenen Tochter, die ſechszehen Jahre alt iſt. Nein, das Blut kann einem dabei gefrieren! Ueber Dinge in welchen ein Frauenzim¬ mer nicht eher Schülerin werden darf, als bis ſie Meiſterin geworden, und worin ſie nur die Erfah¬ rung belehren ſoll, wird Diderots Tochter von ihrem Vater wiſſenſchaftlich unterrichtet. Und er erzählt ſeiner Freundin umſtändlich und mit väterlichem Ent¬ zücken, wie verſtändig ſich ſeine Tochter dabei benom¬ men. Gut — ſagt ſie zuletzt — wir wollen keine Vorurtheile haben; aber der Anſtand, die Ueberein¬ kunft, der Schein iſt zu achten. Dann ſpricht ſie von Geiſt und Materie wie Holbach und die Andern. Der Satan von ſechszehen Jahren erkennt keine
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— ſeitdem zwei Jahre älter geworden, bewunderte
ich noch mehr die Jugendlichkeit dieſes Mannes.
So viel Punkte, ſo viel Küſſe ſind in ſeinen Briefen.
Und die unnachahmliche Kunſt, daß man durch die
zehen Jahre, die der Briefwechſel dauert, nie merkt,
wie alt ſie denn eigentlich iſt. Anfänglich war ich
ein dummer tugendhafter Deutſcher und urtheilte:
weil er mit ihr von gewiſſen Dinge auf eine gewiſſe
Art ſpricht, muß ſie wohl ihre Jugendzeit hinter ſich
haben. Als ich aber den dritten Band las, ſah' ich
ein wie ich mich geirrt. Da ſpricht Diderot einmal
von und mit ſeiner eigenen Tochter, die ſechszehen
Jahre alt iſt. Nein, das Blut kann einem dabei
gefrieren! Ueber Dinge in welchen ein Frauenzim¬
mer nicht eher Schülerin werden darf, als bis ſie
Meiſterin geworden, und worin ſie nur die Erfah¬
rung belehren ſoll, wird Diderots Tochter von ihrem
Vater wiſſenſchaftlich unterrichtet. Und er erzählt
ſeiner Freundin umſtändlich und mit väterlichem Ent¬
zücken, wie verſtändig ſich ſeine Tochter dabei benom¬
men. Gut — ſagt ſie zuletzt — wir wollen keine
Vorurtheile haben; aber der Anſtand, die Ueberein¬
kunft, der Schein iſt zu achten. Dann ſpricht ſie
von Geiſt und Materie wie Holbach und die Andern.
Der Satan von ſechszehen Jahren erkennt keine
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834/45>, abgerufen am 16.07.2024.
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