Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

hat, verletzt werde. Sie hat noch mehr gethan. Sie
hat, was ihr ein Leichtes gewesen wäre, den Mör¬
der (oder den Elenden, wie die Minister in allen
Blättern sagen) nicht den Händen der Gerechtigkeit
überliefert, sondern ihn entwischen lassen, damit er ohne
Buße sterbe und jenseits in ewiger Verdammniß leide.
Der Mörder gab sich alle mögliche Mühe entdeckt zu
werden, aber es half ihm nicht. Statt einen andern
Tag zu wählen, wo dem Könige, da er weniger be¬
wacht ist, so leicht beizukommen wäre, wählte er ge¬
rade einen Tag, wo viele tausend Soldaten alle
Straßen besetzt hielten, wo unzählige Polizei-Agen¬
ten unter dem Volke gemischt waren, und der König
selbst von einem dichten undurchdringlichen Gefolge
umpanzert war. Statt sich auf die freie Straße
hinzustellen, wo nach der That Hoffnung zur Flucht
blieb, stellte sich der Mörder auf die Brücke, wo auf
zwei Seiten nicht auszuweichen war, und die zwei
engen Zugänge augenblicklich gesperrt werden konnten,
wie es auch wirklich geschehen. Die Kugel war nir¬
gends zu finden, und der König war naiv genug
Abends bei Hofe zu erklären, er habe die Kugel nicht
zischen hören. Sehen Sie, das nennt man regie¬
ren
, und wenn Sie das jetzt nicht begreifen, bleiben
Sie dumm ihr Leben lang. Bei dieser Gelegenheit
aber konnte ich mich schämen, daß ich, ein Liberaler,
erst mit anderthalb Jahren begreife, was die Abso¬

hat, verletzt werde. Sie hat noch mehr gethan. Sie
hat, was ihr ein Leichtes geweſen wäre, den Mör¬
der (oder den Elenden, wie die Miniſter in allen
Blättern ſagen) nicht den Händen der Gerechtigkeit
überliefert, ſondern ihn entwiſchen laſſen, damit er ohne
Buße ſterbe und jenſeits in ewiger Verdammniß leide.
Der Mörder gab ſich alle mögliche Mühe entdeckt zu
werden, aber es half ihm nicht. Statt einen andern
Tag zu wählen, wo dem Könige, da er weniger be¬
wacht iſt, ſo leicht beizukommen wäre, wählte er ge¬
rade einen Tag, wo viele tauſend Soldaten alle
Straßen beſetzt hielten, wo unzählige Polizei-Agen¬
ten unter dem Volke gemiſcht waren, und der König
ſelbſt von einem dichten undurchdringlichen Gefolge
umpanzert war. Statt ſich auf die freie Straße
hinzuſtellen, wo nach der That Hoffnung zur Flucht
blieb, ſtellte ſich der Mörder auf die Brücke, wo auf
zwei Seiten nicht auszuweichen war, und die zwei
engen Zugänge augenblicklich geſperrt werden konnten,
wie es auch wirklich geſchehen. Die Kugel war nir¬
gends zu finden, und der König war naiv genug
Abends bei Hofe zu erklären, er habe die Kugel nicht
ziſchen hören. Sehen Sie, das nennt man regie¬
ren
, und wenn Sie das jetzt nicht begreifen, bleiben
Sie dumm ihr Leben lang. Bei dieſer Gelegenheit
aber konnte ich mich ſchämen, daß ich, ein Liberaler,
erſt mit anderthalb Jahren begreife, was die Abſo¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0033" n="21"/>
hat, verletzt werde. Sie hat noch mehr gethan. Sie<lb/>
hat, was ihr ein Leichtes gewe&#x017F;en wäre, den Mör¬<lb/>
der (oder den <hi rendition="#g">Elenden</hi>, wie die Mini&#x017F;ter in allen<lb/>
Blättern &#x017F;agen) nicht den Händen der Gerechtigkeit<lb/>
überliefert, &#x017F;ondern ihn entwi&#x017F;chen la&#x017F;&#x017F;en, damit er ohne<lb/>
Buße &#x017F;terbe und jen&#x017F;eits in ewiger Verdammniß leide.<lb/>
Der Mörder gab &#x017F;ich alle mögliche Mühe entdeckt zu<lb/>
werden, aber es half ihm nicht. Statt einen andern<lb/>
Tag zu wählen, wo dem Könige, da er weniger be¬<lb/>
wacht i&#x017F;t, &#x017F;o leicht beizukommen wäre, wählte er ge¬<lb/>
rade einen Tag, wo viele tau&#x017F;end Soldaten alle<lb/>
Straßen be&#x017F;etzt hielten, wo unzählige Polizei-Agen¬<lb/>
ten unter dem Volke gemi&#x017F;cht waren, und der König<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t von einem dichten undurchdringlichen Gefolge<lb/>
umpanzert war. Statt &#x017F;ich auf die freie Straße<lb/>
hinzu&#x017F;tellen, wo nach der That Hoffnung zur Flucht<lb/>
blieb, &#x017F;tellte &#x017F;ich der Mörder auf die Brücke, wo auf<lb/>
zwei Seiten nicht auszuweichen war, und die zwei<lb/>
engen Zugänge augenblicklich ge&#x017F;perrt werden konnten,<lb/>
wie es auch wirklich ge&#x017F;chehen. Die Kugel war nir¬<lb/>
gends zu finden, und der König war naiv genug<lb/>
Abends bei Hofe zu erklären, er habe die Kugel nicht<lb/>
zi&#x017F;chen hören. Sehen Sie, das nennt man <hi rendition="#g">regie¬<lb/>
ren</hi>, und wenn Sie das jetzt nicht begreifen, bleiben<lb/>
Sie dumm ihr Leben lang. Bei die&#x017F;er Gelegenheit<lb/>
aber konnte ich mich &#x017F;chämen, daß ich, ein Liberaler,<lb/>
er&#x017F;t mit anderthalb Jahren begreife, was die Ab&#x017F;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0033] hat, verletzt werde. Sie hat noch mehr gethan. Sie hat, was ihr ein Leichtes geweſen wäre, den Mör¬ der (oder den Elenden, wie die Miniſter in allen Blättern ſagen) nicht den Händen der Gerechtigkeit überliefert, ſondern ihn entwiſchen laſſen, damit er ohne Buße ſterbe und jenſeits in ewiger Verdammniß leide. Der Mörder gab ſich alle mögliche Mühe entdeckt zu werden, aber es half ihm nicht. Statt einen andern Tag zu wählen, wo dem Könige, da er weniger be¬ wacht iſt, ſo leicht beizukommen wäre, wählte er ge¬ rade einen Tag, wo viele tauſend Soldaten alle Straßen beſetzt hielten, wo unzählige Polizei-Agen¬ ten unter dem Volke gemiſcht waren, und der König ſelbſt von einem dichten undurchdringlichen Gefolge umpanzert war. Statt ſich auf die freie Straße hinzuſtellen, wo nach der That Hoffnung zur Flucht blieb, ſtellte ſich der Mörder auf die Brücke, wo auf zwei Seiten nicht auszuweichen war, und die zwei engen Zugänge augenblicklich geſperrt werden konnten, wie es auch wirklich geſchehen. Die Kugel war nir¬ gends zu finden, und der König war naiv genug Abends bei Hofe zu erklären, er habe die Kugel nicht ziſchen hören. Sehen Sie, das nennt man regie¬ ren, und wenn Sie das jetzt nicht begreifen, bleiben Sie dumm ihr Leben lang. Bei dieſer Gelegenheit aber konnte ich mich ſchämen, daß ich, ein Liberaler, erſt mit anderthalb Jahren begreife, was die Abſo¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834/33
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834/33>, abgerufen am 11.12.2024.