schlägt sie todt. Gut, ich weiß das; aber was wird aus ihnen nach dem Tode? Wehe, die Erziehung! Sobald ein Mensch geboren wird -- gleich umstellen und umlauern ihn die Mutter, die Amme, der Va¬ ter, die Wärterin; später kömmt der Lehrer, später der Polizeimann dazu. Die Mutter bringt ein Stückchen Zucker, die Amme ein Mährchen, die Wär¬ terin eine Ruthe, der Vater den Vorwurf, der Leh¬ rer den Stock, der Staat seine Ketten, sein Henker¬ beil. Und zeigt sich eine Kraft, rührt sich, stammelt nur eine Kraft -- gleich wird sie fortgeschmeichelt, fortgepredigt oder fortgezüchtigt. So werden wir wohlerzogene Menschen, so bekommen wir schöne Ta¬ lente. Wissen Sie was ein großes Talent heißt? Ein Talent ist eine große fette Gansleber. Es ist eine Krankheit; der Leber wird das ganze arme Thier aufgeopfert. Wir werden in einen engen Stall ge¬ sperrt, dürfen uns nicht bewegen, daß wir fett wer¬ den; werden gestopft mit moralischem Welschkorn und gelehrten Nudeln, und dann schnaufen wir und ersticken fast vor Moral, Gelehrsamkeit und Polizei¬ furcht, und dann kömmt eine alte Köchin von Re¬ gierung, betastet uns, lobt uns, schlachtet uns, rupft uns und benutzt unsere schönen Talente. Was nur an uns stirbt möchte ich wissen; ich möchte wissen, was nur der Tod an uns zu holen findet! Aber der Tod ist ein armer Hund; nichts als Knochen sein
ſchlägt ſie todt. Gut, ich weiß das; aber was wird aus ihnen nach dem Tode? Wehe, die Erziehung! Sobald ein Menſch geboren wird — gleich umſtellen und umlauern ihn die Mutter, die Amme, der Va¬ ter, die Wärterin; ſpäter kömmt der Lehrer, ſpäter der Polizeimann dazu. Die Mutter bringt ein Stückchen Zucker, die Amme ein Mährchen, die Wär¬ terin eine Ruthe, der Vater den Vorwurf, der Leh¬ rer den Stock, der Staat ſeine Ketten, ſein Henker¬ beil. Und zeigt ſich eine Kraft, rührt ſich, ſtammelt nur eine Kraft — gleich wird ſie fortgeſchmeichelt, fortgepredigt oder fortgezüchtigt. So werden wir wohlerzogene Menſchen, ſo bekommen wir ſchöne Ta¬ lente. Wiſſen Sie was ein großes Talent heißt? Ein Talent iſt eine große fette Gansleber. Es iſt eine Krankheit; der Leber wird das ganze arme Thier aufgeopfert. Wir werden in einen engen Stall ge¬ ſperrt, dürfen uns nicht bewegen, daß wir fett wer¬ den; werden geſtopft mit moraliſchem Welſchkorn und gelehrten Nudeln, und dann ſchnaufen wir und erſticken faſt vor Moral, Gelehrſamkeit und Polizei¬ furcht, und dann kömmt eine alte Köchin von Re¬ gierung, betaſtet uns, lobt uns, ſchlachtet uns, rupft uns und benutzt unſere ſchönen Talente. Was nur an uns ſtirbt möchte ich wiſſen; ich möchte wiſſen, was nur der Tod an uns zu holen findet! Aber der Tod iſt ein armer Hund; nichts als Knochen ſein
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ſchlägt ſie todt. Gut, ich weiß das; aber was wird
aus ihnen nach dem Tode? Wehe, die Erziehung!
Sobald ein Menſch geboren wird — gleich umſtellen
und umlauern ihn die Mutter, die Amme, der Va¬
ter, die Wärterin; ſpäter kömmt der Lehrer, ſpäter
der Polizeimann dazu. Die Mutter bringt ein
Stückchen Zucker, die Amme ein Mährchen, die Wär¬
terin eine Ruthe, der Vater den Vorwurf, der Leh¬
rer den Stock, der Staat ſeine Ketten, ſein Henker¬
beil. Und zeigt ſich eine Kraft, rührt ſich, ſtammelt
nur eine Kraft — gleich wird ſie fortgeſchmeichelt,
fortgepredigt oder fortgezüchtigt. So werden wir
wohlerzogene Menſchen, ſo bekommen wir ſchöne Ta¬
lente. Wiſſen Sie was ein großes Talent heißt?
Ein Talent iſt eine große fette Gansleber. Es iſt
eine Krankheit; der Leber wird das ganze arme Thier
aufgeopfert. Wir werden in einen engen Stall ge¬
ſperrt, dürfen uns nicht bewegen, daß wir fett wer¬
den; werden geſtopft mit moraliſchem Welſchkorn
und gelehrten Nudeln, und dann ſchnaufen wir und
erſticken faſt vor Moral, Gelehrſamkeit und Polizei¬
furcht, und dann kömmt eine alte Köchin von Re¬
gierung, betaſtet uns, lobt uns, ſchlachtet uns, rupft
uns und benutzt unſere ſchönen Talente. Was nur
an uns ſtirbt möchte ich wiſſen; ich möchte wiſſen,
was nur der Tod an uns zu holen findet! Aber der
Tod iſt ein armer Hund; nichts als Knochen ſein
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834/231>, abgerufen am 16.02.2025.
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