sicht zuwende. Aber auch diesen Stolz lege ich auf den Altar des Vaterlandes, und wahrlich, hätte ich ihm alles zu verdanken, was ich ihm zu verzeihen habe -- ich wäre ihm jetzt nichts mehr schuldig. Oder glaubt Ihr, es wäre nichts, mit einem Philisterchen zu rechten, daß es geworden, wie es die Natur in einer langweiligen Stunde aus dem Kern einer Ha¬ selnuß geschnitzelt? Wenig für einen Mann von Ehre und Gefühl, sich vor ein Nürnberger Schäch¬ telchen hinzustellen, wie es beschaffen, wenn eben der letzte Nachtlichtdocht herausgenommen: offen und leer -- und es ernsthaft zu fragen, warum es nichts enthalte, und wo seine Seele hingekommen? Es ist viel. Und doch dauert mich der arme Schelm! Sie haben ihm heimlich Branntwein in seine Bierkalt¬ schale gegossen, und der blasse blöde Junge, der frü¬ her nicht den Muth hatte, eine rothwangige Bauern¬ dirne zum Tanze aufzufordern, stürzt hervor, wird ein Held, fliegt die Sturmleiter hinauf, und erwacht nicht eher aus seinem Taumel, bis eine starke Faust dort oben ihn mit einer Ohrfeige lachend in den Graben hinunter stürzt. Dann jammert er: Ach, Papa Schlessinger! Ach, lieber Papa Schlessinger! Ach, wäre ich doch freimüthig und zu Hause geblie¬ ben! Ach, hätte ich doch kein Handgeld genommen! Ach, wäre ich nur fort von hier, man erwischte mich kein zweitesmal! Thörigter Knabe! Trinke Milch
ſicht zuwende. Aber auch dieſen Stolz lege ich auf den Altar des Vaterlandes, und wahrlich, hätte ich ihm alles zu verdanken, was ich ihm zu verzeihen habe — ich wäre ihm jetzt nichts mehr ſchuldig. Oder glaubt Ihr, es wäre nichts, mit einem Philiſterchen zu rechten, daß es geworden, wie es die Natur in einer langweiligen Stunde aus dem Kern einer Ha¬ ſelnuß geſchnitzelt? Wenig für einen Mann von Ehre und Gefühl, ſich vor ein Nürnberger Schäch¬ telchen hinzuſtellen, wie es beſchaffen, wenn eben der letzte Nachtlichtdocht herausgenommen: offen und leer — und es ernſthaft zu fragen, warum es nichts enthalte, und wo ſeine Seele hingekommen? Es iſt viel. Und doch dauert mich der arme Schelm! Sie haben ihm heimlich Branntwein in ſeine Bierkalt¬ ſchale gegoſſen, und der blaſſe blöde Junge, der frü¬ her nicht den Muth hatte, eine rothwangige Bauern¬ dirne zum Tanze aufzufordern, ſtürzt hervor, wird ein Held, fliegt die Sturmleiter hinauf, und erwacht nicht eher aus ſeinem Taumel, bis eine ſtarke Fauſt dort oben ihn mit einer Ohrfeige lachend in den Graben hinunter ſtürzt. Dann jammert er: Ach, Papa Schleſſinger! Ach, lieber Papa Schleſſinger! Ach, wäre ich doch freimüthig und zu Hauſe geblie¬ ben! Ach, hätte ich doch kein Handgeld genommen! Ach, wäre ich nur fort von hier, man erwiſchte mich kein zweitesmal! Thörigter Knabe! Trinke Milch
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ſicht zuwende. Aber auch dieſen Stolz lege ich auf
den Altar des Vaterlandes, und wahrlich, hätte ich
ihm alles zu verdanken, was ich ihm zu verzeihen
habe — ich wäre ihm jetzt nichts mehr ſchuldig. Oder
glaubt Ihr, es wäre nichts, mit einem Philiſterchen
zu rechten, daß es geworden, wie es die Natur in
einer langweiligen Stunde aus dem Kern einer Ha¬
ſelnuß geſchnitzelt? Wenig für einen Mann von
Ehre und Gefühl, ſich vor ein Nürnberger Schäch¬
telchen hinzuſtellen, wie es beſchaffen, wenn eben der
letzte Nachtlichtdocht herausgenommen: offen und leer
— und es ernſthaft zu fragen, warum es nichts
enthalte, und wo ſeine Seele hingekommen? Es iſt
viel. Und doch dauert mich der arme Schelm! Sie
haben ihm heimlich Branntwein in ſeine Bierkalt¬
ſchale gegoſſen, und der blaſſe blöde Junge, der frü¬
her nicht den Muth hatte, eine rothwangige Bauern¬
dirne zum Tanze aufzufordern, ſtürzt hervor, wird
ein Held, fliegt die Sturmleiter hinauf, und erwacht
nicht eher aus ſeinem Taumel, bis eine ſtarke Fauſt
dort oben ihn mit einer Ohrfeige lachend in den
Graben hinunter ſtürzt. Dann jammert er: Ach,
Papa Schleſſinger! Ach, lieber Papa Schleſſinger!
Ach, wäre ich doch freimüthig und zu Hauſe geblie¬
ben! Ach, hätte ich doch kein Handgeld genommen!
Ach, wäre ich nur fort von hier, man erwiſchte mich
kein zweitesmal! Thörigter Knabe! Trinke Milch
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris04_1833/170>, abgerufen am 24.11.2024.
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