Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 3. Paris, 1833.

Bild:
<< vorherige Seite

Und Spiel in einer Oper! wer denkt nur an so
etwas, wer erwartet es? Nie habe ich eine
Schauspielerin gesehen, die so aufmerksam ist,
auf sich und auf die andern. Sie vergißt nichts,
weder bei der leidenschaftlichen Bewegung, noch
in der gleichgültigsten Ruhe. Sie vergaß nicht
einmal die Servietten auszuschütteln, als sie den
Tisch abdeckte. Es steht keiner auf der Bühne
und es mögen der Mitspielenden noch so viele,
deren Rollen noch so unbedeutend seyn, für den
sie nicht einen eigenen Blick, eine eigene Bewe¬
gung hätte. Sie spielt für alle. Die Darstel¬
lung der thätigen Leidenschaften, des Has¬
ses, des Zorns, der Verachtung, der handeln¬
den
Verzweiflung gelingt ihr meisterhaft, und
ganz durchsichtig wie sie ist, sieht man die Lei¬
denschaften nicht blos in ihrer Reife, sondern
man kann sie vom ersten Keime an bis zu den
Früchten verfolgen. Sie muß viel studiren, viel
nachdenken, viel lesen, sogar medizinisches. Wo¬

Und Spiel in einer Oper! wer denkt nur an ſo
etwas, wer erwartet es? Nie habe ich eine
Schauſpielerin geſehen, die ſo aufmerkſam iſt,
auf ſich und auf die andern. Sie vergißt nichts,
weder bei der leidenſchaftlichen Bewegung, noch
in der gleichguͤltigſten Ruhe. Sie vergaß nicht
einmal die Servietten auszuſchuͤtteln, als ſie den
Tiſch abdeckte. Es ſteht keiner auf der Buͤhne
und es moͤgen der Mitſpielenden noch ſo viele,
deren Rollen noch ſo unbedeutend ſeyn, fuͤr den
ſie nicht einen eigenen Blick, eine eigene Bewe¬
gung haͤtte. Sie ſpielt fuͤr alle. Die Darſtel¬
lung der thaͤtigen Leidenſchaften, des Haſ¬
ſes, des Zorns, der Verachtung, der handeln¬
den
Verzweiflung gelingt ihr meiſterhaft, und
ganz durchſichtig wie ſie iſt, ſieht man die Lei¬
denſchaften nicht blos in ihrer Reife, ſondern
man kann ſie vom erſten Keime an bis zu den
Fruͤchten verfolgen. Sie muß viel ſtudiren, viel
nachdenken, viel leſen, ſogar mediziniſches. Wo¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <p><pb facs="#f0142" n="128"/>
Und Spiel in einer Oper! wer denkt nur an &#x017F;o<lb/>
etwas, wer erwartet es? Nie habe ich eine<lb/>
Schau&#x017F;pielerin ge&#x017F;ehen, die &#x017F;o aufmerk&#x017F;am i&#x017F;t,<lb/>
auf &#x017F;ich und auf die andern. Sie vergißt nichts,<lb/>
weder bei der leiden&#x017F;chaftlichen Bewegung, noch<lb/>
in der gleichgu&#x0364;ltig&#x017F;ten Ruhe. Sie vergaß nicht<lb/>
einmal die Servietten auszu&#x017F;chu&#x0364;tteln, als &#x017F;ie den<lb/>
Ti&#x017F;ch abdeckte. Es &#x017F;teht keiner auf der Bu&#x0364;hne<lb/>
und es mo&#x0364;gen der Mit&#x017F;pielenden noch &#x017F;o viele,<lb/>
deren Rollen noch &#x017F;o unbedeutend &#x017F;eyn, fu&#x0364;r den<lb/>
&#x017F;ie nicht einen eigenen Blick, eine eigene Bewe¬<lb/>
gung ha&#x0364;tte. Sie &#x017F;pielt fu&#x0364;r alle. Die Dar&#x017F;tel¬<lb/>
lung der <hi rendition="#g">tha&#x0364;tigen</hi> Leiden&#x017F;chaften, des Ha&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;es, des Zorns, der Verachtung, der <hi rendition="#g">handeln¬<lb/>
den</hi> Verzweiflung gelingt ihr mei&#x017F;terhaft, und<lb/>
ganz durch&#x017F;ichtig wie &#x017F;ie i&#x017F;t, &#x017F;ieht man die Lei¬<lb/>
den&#x017F;chaften nicht blos in ihrer Reife, &#x017F;ondern<lb/>
man kann &#x017F;ie vom er&#x017F;ten Keime an bis zu den<lb/>
Fru&#x0364;chten verfolgen. Sie muß viel &#x017F;tudiren, viel<lb/>
nachdenken, viel le&#x017F;en, &#x017F;ogar medizini&#x017F;ches. Wo¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[128/0142] Und Spiel in einer Oper! wer denkt nur an ſo etwas, wer erwartet es? Nie habe ich eine Schauſpielerin geſehen, die ſo aufmerkſam iſt, auf ſich und auf die andern. Sie vergißt nichts, weder bei der leidenſchaftlichen Bewegung, noch in der gleichguͤltigſten Ruhe. Sie vergaß nicht einmal die Servietten auszuſchuͤtteln, als ſie den Tiſch abdeckte. Es ſteht keiner auf der Buͤhne und es moͤgen der Mitſpielenden noch ſo viele, deren Rollen noch ſo unbedeutend ſeyn, fuͤr den ſie nicht einen eigenen Blick, eine eigene Bewe¬ gung haͤtte. Sie ſpielt fuͤr alle. Die Darſtel¬ lung der thaͤtigen Leidenſchaften, des Haſ¬ ſes, des Zorns, der Verachtung, der handeln¬ den Verzweiflung gelingt ihr meiſterhaft, und ganz durchſichtig wie ſie iſt, ſieht man die Lei¬ denſchaften nicht blos in ihrer Reife, ſondern man kann ſie vom erſten Keime an bis zu den Fruͤchten verfolgen. Sie muß viel ſtudiren, viel nachdenken, viel leſen, ſogar mediziniſches. Wo¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris03_1833
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris03_1833/142
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 3. Paris, 1833, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris03_1833/142>, abgerufen am 22.11.2024.