italienischen Dache. Sie mochte wohl eine große Musikfreundin seyn, denn sie hatte sich aus ihrem eigenen Körper ein schönes Häuschen gebaut, um daraus ungestört zuzuhören. Die Füße hatte sie auf die Bank vor ihr hoch aufgestellt, und die Knie an sich gezogen. Die Brust vorgebeugt, verbarg sie den rechten Ellenbogen in den Schoos und ließ den Kopf auf den zusammengeknickten Arm sinken. Die schöne Dame so gerundet, hatte keinen Anfang und kein Ende. Sie verstand gewiß etwas von Mathematik, und wußte, daß die Kugelform unter allen möglichen Gestalten mit der flachen Welt am wenigsten in Berührung kommt. Ihre Schwester vor ihr hatte den Hut abgelegt, und saß ganz vorn, in der Loge allen Blicken ausgesetzt, in purem Nachthäubchen da. Ich machte so meine Betrachtungen, woher es komme, daß nur allein die Engländer und Engländerinnen ihre Sitten und Kleider mit in das Ausland bringen, und sich nicht geniren? Gewiß war im ganzen Saale keine Dame, die in einer so häuslichen Stel¬ lung da saß, wie meine schöne Nachbarin, und keine, die es gewagt, sich in einem Nachthäubchen zu zeigen, wie deren Schwester. Aber trotz meiner Philosophie und Verdrüßlichkeit merkte ich doch zuweilen, daß man da unten schöne Musik machte. Die Sympho¬ nie eroica von Beethoven (ich fand die Musik mehr leidend als heroisch) eine Arie aus dem Freischütz
italieniſchen Dache. Sie mochte wohl eine große Muſikfreundin ſeyn, denn ſie hatte ſich aus ihrem eigenen Körper ein ſchönes Häuschen gebaut, um daraus ungeſtört zuzuhören. Die Füße hatte ſie auf die Bank vor ihr hoch aufgeſtellt, und die Knie an ſich gezogen. Die Bruſt vorgebeugt, verbarg ſie den rechten Ellenbogen in den Schoos und ließ den Kopf auf den zuſammengeknickten Arm ſinken. Die ſchöne Dame ſo gerundet, hatte keinen Anfang und kein Ende. Sie verſtand gewiß etwas von Mathematik, und wußte, daß die Kugelform unter allen möglichen Geſtalten mit der flachen Welt am wenigſten in Berührung kommt. Ihre Schweſter vor ihr hatte den Hut abgelegt, und ſaß ganz vorn, in der Loge allen Blicken ausgeſetzt, in purem Nachthäubchen da. Ich machte ſo meine Betrachtungen, woher es komme, daß nur allein die Engländer und Engländerinnen ihre Sitten und Kleider mit in das Ausland bringen, und ſich nicht geniren? Gewiß war im ganzen Saale keine Dame, die in einer ſo häuslichen Stel¬ lung da ſaß, wie meine ſchöne Nachbarin, und keine, die es gewagt, ſich in einem Nachthäubchen zu zeigen, wie deren Schweſter. Aber trotz meiner Philoſophie und Verdrüßlichkeit merkte ich doch zuweilen, daß man da unten ſchöne Muſik machte. Die Sympho¬ nie eroica von Beethoven (ich fand die Muſik mehr leidend als heroiſch) eine Arie aus dem Freiſchütz
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italieniſchen Dache. Sie mochte wohl eine große
Muſikfreundin ſeyn, denn ſie hatte ſich aus ihrem
eigenen Körper ein ſchönes Häuschen gebaut, um
daraus ungeſtört zuzuhören. Die Füße hatte ſie auf
die Bank vor ihr hoch aufgeſtellt, und die Knie an
ſich gezogen. Die Bruſt vorgebeugt, verbarg ſie den
rechten Ellenbogen in den Schoos und ließ den Kopf
auf den zuſammengeknickten Arm ſinken. Die ſchöne
Dame ſo gerundet, hatte keinen Anfang und kein
Ende. Sie verſtand gewiß etwas von Mathematik,
und wußte, daß die Kugelform unter allen möglichen
Geſtalten mit der flachen Welt am wenigſten in
Berührung kommt. Ihre Schweſter vor ihr hatte
den Hut abgelegt, und ſaß ganz vorn, in der Loge
allen Blicken ausgeſetzt, in purem Nachthäubchen da.
Ich machte ſo meine Betrachtungen, woher es komme,
daß nur allein die Engländer und Engländerinnen
ihre Sitten und Kleider mit in das Ausland bringen,
und ſich nicht geniren? Gewiß war im ganzen
Saale keine Dame, die in einer ſo häuslichen Stel¬
lung da ſaß, wie meine ſchöne Nachbarin, und keine,
die es gewagt, ſich in einem Nachthäubchen zu zeigen,
wie deren Schweſter. Aber trotz meiner Philoſophie
und Verdrüßlichkeit merkte ich doch zuweilen, daß
man da unten ſchöne Muſik machte. Die Sympho¬
nie eroica von Beethoven (ich fand die Muſik mehr
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/40>, abgerufen am 16.02.2025.
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