Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

chen Taglioni. Ich habe sie seitdem wieder tanzen
sehen. Sie gefiel mir aber weniger als das vorige
Mal; ich habe Fehler entdeckt. Ihre ganze Seele
ist in den Füßen, ihr Gesicht ist todt. Ich hatte
das zwar das erste Mal schon bemerkt, aber da sie
damals die Göttin Flora spielte, nahm ich ihre Un¬
beweglichkeit für antike Ruhe, und ich ließ mir das
gefallen. In der zweiten Rolle aber trat sie als
Bajadere auf, als liebende, unglückliche, leidenschaft¬
liche Bajadere, sie tanzte zwischen Lust und Schmerz;
doch ihre Züge und ihre Augen schliefen den tiefsten
Schlaf. Entweder mein Opernglas war sehr trübe,
oder die holde Taglioni ist sehr dumm und versteht
ihre eigenen Füße nicht. Aber kann man zugleich
dumm seyn und Grazie haben? Bei der Taglioni
ist es vielleicht möglich. Sie ist die Schülerin ihres
Vaters, des Balletmeisters, und es mag wohl seyn,
daß dieser dem hoffnungsvollen Töchterchen, von den
frühesten Kinderjahren an die Grazie eingeprügelt
hat, doch mit dem Geiste ließ sich das nicht machen.
Diesen kann der Stock wohl ausprügeln aber nie
einprügeln. Es war die Oper Le dieu et la Ba¬
jadere
in der ich sie sah. Musik von Auber. Leichte
Waare; Rossini ist Marmor dagegen. Aber schöne
Tanzmusik; das Herz walzt einem in der Brust.

chen Taglioni. Ich habe ſie ſeitdem wieder tanzen
ſehen. Sie gefiel mir aber weniger als das vorige
Mal; ich habe Fehler entdeckt. Ihre ganze Seele
iſt in den Füßen, ihr Geſicht iſt todt. Ich hatte
das zwar das erſte Mal ſchon bemerkt, aber da ſie
damals die Göttin Flora ſpielte, nahm ich ihre Un¬
beweglichkeit für antike Ruhe, und ich ließ mir das
gefallen. In der zweiten Rolle aber trat ſie als
Bajadere auf, als liebende, unglückliche, leidenſchaft¬
liche Bajadere, ſie tanzte zwiſchen Luſt und Schmerz;
doch ihre Züge und ihre Augen ſchliefen den tiefſten
Schlaf. Entweder mein Opernglas war ſehr trübe,
oder die holde Taglioni iſt ſehr dumm und verſteht
ihre eigenen Füße nicht. Aber kann man zugleich
dumm ſeyn und Grazie haben? Bei der Taglioni
iſt es vielleicht möglich. Sie iſt die Schülerin ihres
Vaters, des Balletmeiſters, und es mag wohl ſeyn,
daß dieſer dem hoffnungsvollen Töchterchen, von den
früheſten Kinderjahren an die Grazie eingeprügelt
hat, doch mit dem Geiſte ließ ſich das nicht machen.
Dieſen kann der Stock wohl ausprügeln aber nie
einprügeln. Es war die Oper Le dieu et la Ba¬
jadére
in der ich ſie ſah. Muſik von Auber. Leichte
Waare; Roſſini iſt Marmor dagegen. Aber ſchöne
Tanzmuſik; das Herz walzt einem in der Bruſt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0222" n="208"/>
chen Taglioni. Ich habe &#x017F;ie &#x017F;eitdem wieder tanzen<lb/>
&#x017F;ehen. Sie gefiel mir aber weniger als das vorige<lb/>
Mal; ich habe Fehler entdeckt. Ihre ganze Seele<lb/>
i&#x017F;t in den Füßen, ihr Ge&#x017F;icht i&#x017F;t todt. Ich hatte<lb/>
das zwar das er&#x017F;te Mal &#x017F;chon bemerkt, aber da &#x017F;ie<lb/>
damals die Göttin Flora &#x017F;pielte, nahm ich ihre Un¬<lb/>
beweglichkeit für antike Ruhe, und ich ließ mir das<lb/>
gefallen. In der zweiten Rolle aber trat &#x017F;ie als<lb/>
Bajadere auf, als liebende, unglückliche, leiden&#x017F;chaft¬<lb/>
liche Bajadere, &#x017F;ie tanzte zwi&#x017F;chen Lu&#x017F;t und Schmerz;<lb/>
doch ihre Züge und ihre Augen &#x017F;chliefen den tief&#x017F;ten<lb/>
Schlaf. Entweder mein Opernglas war &#x017F;ehr trübe,<lb/>
oder die holde Taglioni i&#x017F;t &#x017F;ehr dumm und ver&#x017F;teht<lb/>
ihre eigenen Füße nicht. Aber kann man zugleich<lb/>
dumm &#x017F;eyn und Grazie haben? Bei der Taglioni<lb/>
i&#x017F;t es vielleicht möglich. Sie i&#x017F;t die Schülerin ihres<lb/>
Vaters, des Balletmei&#x017F;ters, und es mag wohl &#x017F;eyn,<lb/>
daß die&#x017F;er dem hoffnungsvollen Töchterchen, von den<lb/>
frühe&#x017F;ten Kinderjahren an die Grazie eingeprügelt<lb/>
hat, doch mit dem Gei&#x017F;te ließ &#x017F;ich das nicht machen.<lb/>
Die&#x017F;en kann der Stock wohl ausprügeln aber nie<lb/>
einprügeln. Es war die Oper <hi rendition="#aq">Le dieu et la Ba¬<lb/>
jadére</hi> in der ich &#x017F;ie &#x017F;ah. Mu&#x017F;ik von Auber. Leichte<lb/>
Waare; Ro&#x017F;&#x017F;ini i&#x017F;t Marmor dagegen. Aber &#x017F;chöne<lb/>
Tanzmu&#x017F;ik; das Herz walzt einem in der Bru&#x017F;t.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[208/0222] chen Taglioni. Ich habe ſie ſeitdem wieder tanzen ſehen. Sie gefiel mir aber weniger als das vorige Mal; ich habe Fehler entdeckt. Ihre ganze Seele iſt in den Füßen, ihr Geſicht iſt todt. Ich hatte das zwar das erſte Mal ſchon bemerkt, aber da ſie damals die Göttin Flora ſpielte, nahm ich ihre Un¬ beweglichkeit für antike Ruhe, und ich ließ mir das gefallen. In der zweiten Rolle aber trat ſie als Bajadere auf, als liebende, unglückliche, leidenſchaft¬ liche Bajadere, ſie tanzte zwiſchen Luſt und Schmerz; doch ihre Züge und ihre Augen ſchliefen den tiefſten Schlaf. Entweder mein Opernglas war ſehr trübe, oder die holde Taglioni iſt ſehr dumm und verſteht ihre eigenen Füße nicht. Aber kann man zugleich dumm ſeyn und Grazie haben? Bei der Taglioni iſt es vielleicht möglich. Sie iſt die Schülerin ihres Vaters, des Balletmeiſters, und es mag wohl ſeyn, daß dieſer dem hoffnungsvollen Töchterchen, von den früheſten Kinderjahren an die Grazie eingeprügelt hat, doch mit dem Geiſte ließ ſich das nicht machen. Dieſen kann der Stock wohl ausprügeln aber nie einprügeln. Es war die Oper Le dieu et la Ba¬ jadére in der ich ſie ſah. Muſik von Auber. Leichte Waare; Roſſini iſt Marmor dagegen. Aber ſchöne Tanzmuſik; das Herz walzt einem in der Bruſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/222
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/222>, abgerufen am 30.11.2024.