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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832.

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ist die rohe Natur und man ziehet höchstens wissen¬
schaftlichen Gewinn. Das Theater ist eine Fremden¬
schule. Alte und neue Geschichte, Oertlichkeiten,
Statistik, Sitten und Gebräuche von Paris, werden
da gut gelehrt. -- Es ist ein großer Vortheil, da
viele Jahren dem Fremden nicht genug sind, Paris
in allen seinen Theilen aus eigener Erfahrung kennen
zu lernen. Und man kann nicht sagen, daß durch
solches Walten auf der Bühne die dramatische Kunst
zu Grunde gehe, sondern umgekehrt: weil die dra¬
matische Kunst untergegangen ist, bleibt nichts anders
übrig als solches Walten, wenn man von dem Ca¬
pital, das in den Schauspielhäusern steckt, nicht alle
Zinsen verlieren will. Es ist damit in Deutschland
gar nicht besser als in Frankreich; nur ist man bei
uns unbehüflicher, weil man nur ein Handwerk ge¬
lernt. Der Franzose aber weiß sich gleich in jede
Zeit zu schicken. Er ist Schauspieler, Pfarrer,
Schulmeister, Soldat, was am besten bezahlt wird.
Wird ihm ein Weg versperrt, sucht er sich einen
Andern; gleich einem Regenwurm findet er immer
seinen Ausweg. Kein Mann von Geist könnte jetzt
ein Drama dichten, er müßte denn wie Goethe zu¬
gleich kein Herz haben; aber Geist ohne Herz, das

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iſt die rohe Natur und man ziehet höchſtens wiſſen¬
ſchaftlichen Gewinn. Das Theater iſt eine Fremden¬
ſchule. Alte und neue Geſchichte, Oertlichkeiten,
Statiſtik, Sitten und Gebräuche von Paris, werden
da gut gelehrt. — Es iſt ein großer Vortheil, da
viele Jahren dem Fremden nicht genug ſind, Paris
in allen ſeinen Theilen aus eigener Erfahrung kennen
zu lernen. Und man kann nicht ſagen, daß durch
ſolches Walten auf der Bühne die dramatiſche Kunſt
zu Grunde gehe, ſondern umgekehrt: weil die dra¬
matiſche Kunſt untergegangen iſt, bleibt nichts anders
übrig als ſolches Walten, wenn man von dem Ca¬
pital, das in den Schauſpielhäuſern ſteckt, nicht alle
Zinſen verlieren will. Es iſt damit in Deutſchland
gar nicht beſſer als in Frankreich; nur iſt man bei
uns unbehüflicher, weil man nur ein Handwerk ge¬
lernt. Der Franzoſe aber weiß ſich gleich in jede
Zeit zu ſchicken. Er iſt Schauſpieler, Pfarrer,
Schulmeiſter, Soldat, was am beſten bezahlt wird.
Wird ihm ein Weg verſperrt, ſucht er ſich einen
Andern; gleich einem Regenwurm findet er immer
ſeinen Ausweg. Kein Mann von Geiſt könnte jetzt
ein Drama dichten, er müßte denn wie Goethe zu¬
gleich kein Herz haben; aber Geiſt ohne Herz, das

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[195/0209] iſt die rohe Natur und man ziehet höchſtens wiſſen¬ ſchaftlichen Gewinn. Das Theater iſt eine Fremden¬ ſchule. Alte und neue Geſchichte, Oertlichkeiten, Statiſtik, Sitten und Gebräuche von Paris, werden da gut gelehrt. — Es iſt ein großer Vortheil, da viele Jahren dem Fremden nicht genug ſind, Paris in allen ſeinen Theilen aus eigener Erfahrung kennen zu lernen. Und man kann nicht ſagen, daß durch ſolches Walten auf der Bühne die dramatiſche Kunſt zu Grunde gehe, ſondern umgekehrt: weil die dra¬ matiſche Kunſt untergegangen iſt, bleibt nichts anders übrig als ſolches Walten, wenn man von dem Ca¬ pital, das in den Schauſpielhäuſern ſteckt, nicht alle Zinſen verlieren will. Es iſt damit in Deutſchland gar nicht beſſer als in Frankreich; nur iſt man bei uns unbehüflicher, weil man nur ein Handwerk ge¬ lernt. Der Franzoſe aber weiß ſich gleich in jede Zeit zu ſchicken. Er iſt Schauſpieler, Pfarrer, Schulmeiſter, Soldat, was am beſten bezahlt wird. Wird ihm ein Weg verſperrt, ſucht er ſich einen Andern; gleich einem Regenwurm findet er immer ſeinen Ausweg. Kein Mann von Geiſt könnte jetzt ein Drama dichten, er müßte denn wie Goethe zu¬ gleich kein Herz haben; aber Geiſt ohne Herz, das 13 *

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/209>, abgerufen am 24.11.2024.