Unsterblichkeit. Der kleine Kirchhof war mit einer breiten Mauer von Menschen umgeben, Alle arme Leute aus dem Volke. Hier liegt ihr Stolz und ihre Freude begraben. Hier ist ihre Oper, ihr Ball, ihr Hof und ihre Kirche. Wer nahe genug herbei kommen konnte, Medor zu streicheln, der war glück¬ lich. Auch ich drang mich endlich durch. Medor ist ein großer weißer Pudel, ich ließ mich herab, ihn zu liebkosen; aber er achtete nicht auf mich, mein Rock war zu gut. Aber nahte sich ihm ein Mann in der Weste, oder eine zerlumpte Frau und strei¬ chelte ihn, das erwiederte er freundlich. Medor weiß sehr wohl, wo er die wahren Freunde seines Herrn zu suchen. Ein junges Mädchen, ganz zerlumpt, trat zu ihm. An diesem sprang er hinauf, zerrte es, ließ nicht mehr von ihm. Er war so froh, es war ihm so bequem, er brauchte um das arme Mädchen etwas zu fragen, es nicht wie eine vornehme ge¬ putzte Dame, sich erst niederlassen, am Rande des Rockes zu fassen. An welchem Theile des Kleides er zerrte, war ein Lappen der ihn in den Mund paßte. Das Kind war ganz stolz auf Medors Vertraulichkeit. Ich schlich mich fort, ich schämte mich meiner Thrä¬ nen. Wenn ich ein Gott wäre, ich wollte viele Freu¬ den unter die armen Geschöpfe der Welt vertheilen; aber die erste wäre: ich weckte Medors Freund wie¬ der auf. Armer Medor! .. Könnte ich den treuen
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Unſterblichkeit. Der kleine Kirchhof war mit einer breiten Mauer von Menſchen umgeben, Alle arme Leute aus dem Volke. Hier liegt ihr Stolz und ihre Freude begraben. Hier iſt ihre Oper, ihr Ball, ihr Hof und ihre Kirche. Wer nahe genug herbei kommen konnte, Medor zu ſtreicheln, der war glück¬ lich. Auch ich drang mich endlich durch. Medor iſt ein großer weißer Pudel, ich ließ mich herab, ihn zu liebkoſen; aber er achtete nicht auf mich, mein Rock war zu gut. Aber nahte ſich ihm ein Mann in der Weſte, oder eine zerlumpte Frau und ſtrei¬ chelte ihn, das erwiederte er freundlich. Medor weiß ſehr wohl, wo er die wahren Freunde ſeines Herrn zu ſuchen. Ein junges Mädchen, ganz zerlumpt, trat zu ihm. An dieſem ſprang er hinauf, zerrte es, ließ nicht mehr von ihm. Er war ſo froh, es war ihm ſo bequem, er brauchte um das arme Mädchen etwas zu fragen, es nicht wie eine vornehme ge¬ putzte Dame, ſich erſt niederlaſſen, am Rande des Rockes zu faſſen. An welchem Theile des Kleides er zerrte, war ein Lappen der ihn in den Mund paßte. Das Kind war ganz ſtolz auf Medors Vertraulichkeit. Ich ſchlich mich fort, ich ſchämte mich meiner Thrä¬ nen. Wenn ich ein Gott wäre, ich wollte viele Freu¬ den unter die armen Geſchöpfe der Welt vertheilen; aber die erſte wäre: ich weckte Medors Freund wie¬ der auf. Armer Medor! .. Könnte ich den treuen
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Unſterblichkeit. Der kleine Kirchhof war mit einer
breiten Mauer von Menſchen umgeben, Alle arme
Leute aus dem Volke. Hier liegt ihr Stolz und
ihre Freude begraben. Hier iſt ihre Oper, ihr Ball,
ihr Hof und ihre Kirche. Wer nahe genug herbei
kommen konnte, Medor zu ſtreicheln, der war glück¬
lich. Auch ich drang mich endlich durch. Medor iſt
ein großer weißer Pudel, ich ließ mich herab, ihn
zu liebkoſen; aber er achtete nicht auf mich, mein
Rock war zu gut. Aber nahte ſich ihm ein Mann
in der Weſte, oder eine zerlumpte Frau und ſtrei¬
chelte ihn, das erwiederte er freundlich. Medor weiß
ſehr wohl, wo er die wahren Freunde ſeines Herrn
zu ſuchen. Ein junges Mädchen, ganz zerlumpt,
trat zu ihm. An dieſem ſprang er hinauf, zerrte es,
ließ nicht mehr von ihm. Er war ſo froh, es war
ihm ſo bequem, er brauchte um das arme Mädchen
etwas zu fragen, es nicht wie eine vornehme ge¬
putzte Dame, ſich erſt niederlaſſen, am Rande des
Rockes zu faſſen. An welchem Theile des Kleides er
zerrte, war ein Lappen der ihn in den Mund paßte.
Das Kind war ganz ſtolz auf Medors Vertraulichkeit.
Ich ſchlich mich fort, ich ſchämte mich meiner Thrä¬
nen. Wenn ich ein Gott wäre, ich wollte viele Freu¬
den unter die armen Geſchöpfe der Welt vertheilen;
aber die erſte wäre: ich weckte Medors Freund wie¬
der auf. Armer Medor! .. Könnte ich den treuen
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/113>, abgerufen am 16.02.2025.
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