schwach, tugendhaft, aber unverständig; es macht der Menschheit Ehre, aber nicht den Menschen. Man hat Talleyrand vorgeworfen, er habe nach und nach alle Partheien, alle Regierungen verrathen. Es ist wahr, er ging von Ludwig XV. zur Republik, von diesem zum Direktorium, von diesem zum Consulat, von diesem zu Napoleon, von diesem zu den Bour¬ bonen, von diesen zu Orleans über, und es könnte wohl noch kommen, ehe er stirbt, daß er wieder von Louis Philipp zur Republik überginge. Aber verra¬ then hat er diese Alle nicht, er hat sie nur verlassen, als sie todt waren. Er saß am Krankenbette jeder Zeit, jeder Regierung, hatte immer die Finger auf dem Pulse, und merkte es zuerst, wenn ihr das Herz ausgeschlagen. Dann eilten er vom Todten zum Er¬ ben; die Andern aber dienten noch eine kurze Zeit der Leiche fort. Ist das Verrath? Ist Talleyrand darum schlechter, weil er klüger ist als Andere, weil fester, und sich der Nothwendigkeit unterwirft? Die Treue der andern währte auch nicht länger, nur ihre Täuschung währte länger. Auf Talleyrands Stimme habe ich immer gehorcht, wie auf die Entscheidung des Schicksals. Ich erinnere mich noch, wie ich er¬ schrack, als nach der Rückkehr Napoleons von Elba Talleyrand Ludwig XVIII. treu geblieben. Das ver¬ kündigte mir Napoleons Untergang. Ich freute mich, als er sich für Orleans erklärte; ich sah daraus daß
ſchwach, tugendhaft, aber unverſtändig; es macht der Menſchheit Ehre, aber nicht den Menſchen. Man hat Talleyrand vorgeworfen, er habe nach und nach alle Partheien, alle Regierungen verrathen. Es iſt wahr, er ging von Ludwig XV. zur Republik, von dieſem zum Direktorium, von dieſem zum Conſulat, von dieſem zu Napoleon, von dieſem zu den Bour¬ bonen, von dieſen zu Orleans über, und es könnte wohl noch kommen, ehe er ſtirbt, daß er wieder von Louis Philipp zur Republik überginge. Aber verra¬ then hat er dieſe Alle nicht, er hat ſie nur verlaſſen, als ſie todt waren. Er ſaß am Krankenbette jeder Zeit, jeder Regierung, hatte immer die Finger auf dem Pulſe, und merkte es zuerſt, wenn ihr das Herz ausgeſchlagen. Dann eilten er vom Todten zum Er¬ ben; die Andern aber dienten noch eine kurze Zeit der Leiche fort. Iſt das Verrath? Iſt Talleyrand darum ſchlechter, weil er klüger iſt als Andere, weil feſter, und ſich der Nothwendigkeit unterwirft? Die Treue der andern währte auch nicht länger, nur ihre Täuſchung währte länger. Auf Talleyrands Stimme habe ich immer gehorcht, wie auf die Entſcheidung des Schickſals. Ich erinnere mich noch, wie ich er¬ ſchrack, als nach der Rückkehr Napoleons von Elba Talleyrand Ludwig XVIII. treu geblieben. Das ver¬ kündigte mir Napoleons Untergang. Ich freute mich, als er ſich für Orleans erklärte; ich ſah daraus daß
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ſchwach, tugendhaft, aber unverſtändig; es macht der
Menſchheit Ehre, aber nicht den Menſchen. Man
hat Talleyrand vorgeworfen, er habe nach und nach
alle Partheien, alle Regierungen verrathen. Es iſt
wahr, er ging von Ludwig XV. zur Republik, von
dieſem zum Direktorium, von dieſem zum Conſulat,
von dieſem zu Napoleon, von dieſem zu den Bour¬
bonen, von dieſen zu Orleans über, und es könnte
wohl noch kommen, ehe er ſtirbt, daß er wieder von
Louis Philipp zur Republik überginge. Aber verra¬
then hat er dieſe Alle nicht, er hat ſie nur verlaſſen,
als ſie todt waren. Er ſaß am Krankenbette jeder
Zeit, jeder Regierung, hatte immer die Finger auf
dem Pulſe, und merkte es zuerſt, wenn ihr das Herz
ausgeſchlagen. Dann eilten er vom Todten zum Er¬
ben; die Andern aber dienten noch eine kurze Zeit
der Leiche fort. Iſt das Verrath? Iſt Talleyrand
darum ſchlechter, weil er klüger iſt als Andere, weil
feſter, und ſich der Nothwendigkeit unterwirft? Die
Treue der andern währte auch nicht länger, nur ihre
Täuſchung währte länger. Auf Talleyrands Stimme
habe ich immer gehorcht, wie auf die Entſcheidung
des Schickſals. Ich erinnere mich noch, wie ich er¬
ſchrack, als nach der Rückkehr Napoleons von Elba
Talleyrand Ludwig XVIII. treu geblieben. Das ver¬
kündigte mir Napoleons Untergang. Ich freute mich,
als er ſich für Orleans erklärte; ich ſah daraus daß
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/108>, abgerufen am 16.02.2025.
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