ist der Jammer. Wie damals, als ich die fluch¬ würdige Hinrichtung mit angesehen, so war auch heute mein Zorn, weniger gegen den Uebermuth der Gewalt, als gegen die niederträchtige Feigheit des Volkes gerichtet. Einige Tausend Mann waren zum Schutze der Henkerei versammelt. Diese waren ein¬ geschlossen, eingeengt von Hundert tausend Bürgern, welchen allen Haß und Wuth im Herzen kochte. Es war kein Leben, kaum eine Wunde dabei zu wagen. Hätten sie sich nur so viel bemüht, als sie es jeden Abend mit Fröhlichkeit thun, sich in die Schauspiel¬ häuser zu drängen; hätten sie nur rechts und links mit den Ellenbogen gestoßen: die Tyrannei wäre er¬ drückt und ihr Schlachtopfer gerettet worden. Aber die abergläubische Furcht vor der Soldatenmacht! Warum thaten sie nicht damals schon, was sie acht Jahre später gethan? Es ist zum Verzweifeln, daß ein Volk sich erst berauschen muß in Haß, ehe es den Muth bekömmt, ihn zu befriedigen; daß es nicht eher sein Herz findet, bis es den Kopf verloren.
Mit solchen Gedanken ging ich neben dem Zuge her und begleitete ihn bis auf den Greve-Platz. Dort schlossen sie einen Kreis, und Einer stellte sich auf eine Erhöhung und schickte sich zu reden an. Ich aber ging fort. Was an diesem Orte und über solche jammervolle Geschichten zu sagen ist, war mir bekannt genug. Ich ging die neue Kettenbrücke hinan,
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iſt der Jammer. Wie damals, als ich die fluch¬ würdige Hinrichtung mit angeſehen, ſo war auch heute mein Zorn, weniger gegen den Uebermuth der Gewalt, als gegen die niederträchtige Feigheit des Volkes gerichtet. Einige Tauſend Mann waren zum Schutze der Henkerei verſammelt. Dieſe waren ein¬ geſchloſſen, eingeengt von Hundert tauſend Bürgern, welchen allen Haß und Wuth im Herzen kochte. Es war kein Leben, kaum eine Wunde dabei zu wagen. Hätten ſie ſich nur ſo viel bemüht, als ſie es jeden Abend mit Fröhlichkeit thun, ſich in die Schauſpiel¬ häuſer zu drängen; hätten ſie nur rechts und links mit den Ellenbogen geſtoßen: die Tyrannei wäre er¬ drückt und ihr Schlachtopfer gerettet worden. Aber die abergläubiſche Furcht vor der Soldatenmacht! Warum thaten ſie nicht damals ſchon, was ſie acht Jahre ſpäter gethan? Es iſt zum Verzweifeln, daß ein Volk ſich erſt berauſchen muß in Haß, ehe es den Muth bekömmt, ihn zu befriedigen; daß es nicht eher ſein Herz findet, bis es den Kopf verloren.
Mit ſolchen Gedanken ging ich neben dem Zuge her und begleitete ihn bis auf den Greve-Platz. Dort ſchloſſen ſie einen Kreis, und Einer ſtellte ſich auf eine Erhöhung und ſchickte ſich zu reden an. Ich aber ging fort. Was an dieſem Orte und über ſolche jammervolle Geſchichten zu ſagen iſt, war mir bekannt genug. Ich ging die neue Kettenbrücke hinan,
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iſt der Jammer. Wie damals, als ich die fluch¬
würdige Hinrichtung mit angeſehen, ſo war auch
heute mein Zorn, weniger gegen den Uebermuth der
Gewalt, als gegen die niederträchtige Feigheit des
Volkes gerichtet. Einige Tauſend Mann waren zum
Schutze der Henkerei verſammelt. Dieſe waren ein¬
geſchloſſen, eingeengt von Hundert tauſend Bürgern,
welchen allen Haß und Wuth im Herzen kochte. Es
war kein Leben, kaum eine Wunde dabei zu wagen.
Hätten ſie ſich nur ſo viel bemüht, als ſie es jeden
Abend mit Fröhlichkeit thun, ſich in die Schauſpiel¬
häuſer zu drängen; hätten ſie nur rechts und links
mit den Ellenbogen geſtoßen: die Tyrannei wäre er¬
drückt und ihr Schlachtopfer gerettet worden. Aber
die abergläubiſche Furcht vor der Soldatenmacht!
Warum thaten ſie nicht damals ſchon, was ſie acht
Jahre ſpäter gethan? Es iſt zum Verzweifeln, daß
ein Volk ſich erſt berauſchen muß in Haß, ehe es
den Muth bekömmt, ihn zu befriedigen; daß es nicht
eher ſein Herz findet, bis es den Kopf verloren.
Mit ſolchen Gedanken ging ich neben dem
Zuge her und begleitete ihn bis auf den Greve-Platz.
Dort ſchloſſen ſie einen Kreis, und Einer ſtellte ſich
auf eine Erhöhung und ſchickte ſich zu reden an.
Ich aber ging fort. Was an dieſem Orte und über
ſolche jammervolle Geſchichten zu ſagen iſt, war mir
bekannt genug. Ich ging die neue Kettenbrücke hinan,
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/63>, abgerufen am 27.07.2024.
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