der alle sieben Farben durchgelebt hat, mehr als zwanzig Male dabei roth geworden bin? und ich war doch allein -- aber allein mit Gott und der Natur. Ein Frauenzimmer darf das ohne Furcht lesen; kann sie das verstehen, kann sie nicht mehr erröthen. Welche Unsittlichkeit. Es ist wahr, die französische Sprache ist eine Art Flor, der den häßlichen Anblick blässer und milder macht; aber der Deutsche, der sich beim Lesen übersetzt, ziehet den Flor weg, und schaudert zurück. Jene Menschen hätten doch wenigstens aus Dankbarkeit die Zucht mehr schonen sollen, da sie ihnen das Vergnügen verschafft, sie zu verspotten und mit Füßen zu tre¬ ten. Und wo sie Recht haben, das ist am Schreck¬ lichsten! Den schönen Aberglauben der Unschuld, der eine irdische Freude zur himmlischen macht, zer¬ stören sie, und von der ganzen Ewigkeit bleibt nichts übrig, als eine Minute. Und so verfuhren sie mit der Tugend und mit der Religion. Waren jene Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts darum sittenlos, entartet, schlecht, gottlos? Gewiß nicht. Sie führten Krieg. Die Heuchelei hatte sich mit der Sittsamkeit umhüllt; sie mußten diese zerreißen, um jene in ihrer häßlichen Nacktheit zu zeigen. Die Priesterschaft hatte sich hinter der Religion verschanzt; sie mußten über die Religion wegschrei¬
der alle ſieben Farben durchgelebt hat, mehr als zwanzig Male dabei roth geworden bin? und ich war doch allein — aber allein mit Gott und der Natur. Ein Frauenzimmer darf das ohne Furcht leſen; kann ſie das verſtehen, kann ſie nicht mehr erröthen. Welche Unſittlichkeit. Es iſt wahr, die franzöſiſche Sprache iſt eine Art Flor, der den häßlichen Anblick bläſſer und milder macht; aber der Deutſche, der ſich beim Leſen überſetzt, ziehet den Flor weg, und ſchaudert zurück. Jene Menſchen hätten doch wenigſtens aus Dankbarkeit die Zucht mehr ſchonen ſollen, da ſie ihnen das Vergnügen verſchafft, ſie zu verſpotten und mit Füßen zu tre¬ ten. Und wo ſie Recht haben, das iſt am Schreck¬ lichſten! Den ſchönen Aberglauben der Unſchuld, der eine irdiſche Freude zur himmliſchen macht, zer¬ ſtören ſie, und von der ganzen Ewigkeit bleibt nichts übrig, als eine Minute. Und ſo verfuhren ſie mit der Tugend und mit der Religion. Waren jene Schriftſteller des achtzehnten Jahrhunderts darum ſittenlos, entartet, ſchlecht, gottlos? Gewiß nicht. Sie führten Krieg. Die Heuchelei hatte ſich mit der Sittſamkeit umhüllt; ſie mußten dieſe zerreißen, um jene in ihrer häßlichen Nacktheit zu zeigen. Die Prieſterſchaft hatte ſich hinter der Religion verſchanzt; ſie mußten über die Religion wegſchrei¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0187"n="173"/>
der alle ſieben Farben durchgelebt hat, mehr als<lb/>
zwanzig Male dabei roth geworden bin? und ich<lb/>
war doch allein — aber allein mit Gott und der<lb/>
Natur. Ein Frauenzimmer darf das ohne Furcht<lb/>
leſen; kann ſie das verſtehen, kann ſie nicht mehr<lb/>
erröthen. Welche Unſittlichkeit. Es iſt wahr, die<lb/>
franzöſiſche Sprache iſt eine Art Flor, der den<lb/>
häßlichen Anblick bläſſer und milder macht; aber der<lb/>
Deutſche, der ſich beim Leſen überſetzt, ziehet den<lb/>
Flor weg, und ſchaudert zurück. Jene Menſchen<lb/>
hätten doch wenigſtens aus Dankbarkeit die Zucht<lb/>
mehr ſchonen ſollen, da ſie ihnen das Vergnügen<lb/>
verſchafft, ſie zu verſpotten und mit Füßen zu tre¬<lb/>
ten. Und wo ſie Recht haben, das iſt am Schreck¬<lb/>
lichſten! Den ſchönen Aberglauben der Unſchuld,<lb/>
der eine irdiſche Freude zur himmliſchen macht, zer¬<lb/>ſtören ſie, und von der ganzen Ewigkeit bleibt nichts<lb/>
übrig, als eine Minute. Und ſo verfuhren ſie mit<lb/>
der Tugend und mit der Religion. Waren jene<lb/>
Schriftſteller des achtzehnten Jahrhunderts darum<lb/>ſittenlos, entartet, ſchlecht, gottlos? Gewiß nicht.<lb/>
Sie führten Krieg. Die Heuchelei hatte ſich mit<lb/>
der Sittſamkeit umhüllt; ſie mußten dieſe zerreißen,<lb/>
um jene in ihrer häßlichen Nacktheit zu zeigen.<lb/>
Die Prieſterſchaft hatte ſich hinter der Religion<lb/>
verſchanzt; ſie mußten über die Religion wegſchrei¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[173/0187]
der alle ſieben Farben durchgelebt hat, mehr als
zwanzig Male dabei roth geworden bin? und ich
war doch allein — aber allein mit Gott und der
Natur. Ein Frauenzimmer darf das ohne Furcht
leſen; kann ſie das verſtehen, kann ſie nicht mehr
erröthen. Welche Unſittlichkeit. Es iſt wahr, die
franzöſiſche Sprache iſt eine Art Flor, der den
häßlichen Anblick bläſſer und milder macht; aber der
Deutſche, der ſich beim Leſen überſetzt, ziehet den
Flor weg, und ſchaudert zurück. Jene Menſchen
hätten doch wenigſtens aus Dankbarkeit die Zucht
mehr ſchonen ſollen, da ſie ihnen das Vergnügen
verſchafft, ſie zu verſpotten und mit Füßen zu tre¬
ten. Und wo ſie Recht haben, das iſt am Schreck¬
lichſten! Den ſchönen Aberglauben der Unſchuld,
der eine irdiſche Freude zur himmliſchen macht, zer¬
ſtören ſie, und von der ganzen Ewigkeit bleibt nichts
übrig, als eine Minute. Und ſo verfuhren ſie mit
der Tugend und mit der Religion. Waren jene
Schriftſteller des achtzehnten Jahrhunderts darum
ſittenlos, entartet, ſchlecht, gottlos? Gewiß nicht.
Sie führten Krieg. Die Heuchelei hatte ſich mit
der Sittſamkeit umhüllt; ſie mußten dieſe zerreißen,
um jene in ihrer häßlichen Nacktheit zu zeigen.
Die Prieſterſchaft hatte ſich hinter der Religion
verſchanzt; ſie mußten über die Religion wegſchrei¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/187>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.