Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

Ein Anderer fing mit mir an von Kant zu spre¬
chen, und als er glaubte ich hätte den Namen nicht
verstanden, dachte er wohl, er hätte ihn falsch aus¬
gesprochen und wiederholte Känt. Ein dritter sagte
mir, Anatomie wäre die Hauptsache in der Philo¬
sophie. Ich antwortete: Ganz gewiß. Wären Sie
keine Frauenzimmer, ich könnte Ihnen noch die schön¬
sten Dummheiten erzählen; aber Sie verstehen das
nicht. Und mit welcher Leidenschaftlichkeit wurde
gestritten! Ich dachte sie würden sich einander in die
Haare fallen. Aber die Franzosen haben eine be¬
wunderungswürdige Gewandtheit, einen Streit bis
an die Grenze der Beleidigung zu führen, ohne diese
zu überschreiten, und mit den Händen sich einander
unter die Nase zu gesticuliren, ohne sich Ohrfeigen
zu geben. Ich saß auf einem Sopha von blauer
Seide, unter den Füßen eine Decke von Pelz, trank
ein Glas Orgeade nach dem andern und beneidete
das glückselige Volk, das gar nichts weiß, von dem,
was es nicht weiß, entgegengesetzt uns armen Deut¬
schen, die wir am besten kennen was wir nicht
kennen. "Eh bien je vais vous exposer ma
doctrine"
sagte einmal ein junger blasser Mensch
mit einem Schnurrbarte zu einem Andern ohne Schnurr¬
bart ... und da sagte er ihm etwas, was in je¬
dem deutschen ABC-Buche stehet.


Ein Anderer fing mit mir an von Kant zu ſpre¬
chen, und als er glaubte ich hätte den Namen nicht
verſtanden, dachte er wohl, er hätte ihn falſch aus¬
geſprochen und wiederholte Känt. Ein dritter ſagte
mir, Anatomie wäre die Hauptſache in der Philo¬
ſophie. Ich antwortete: Ganz gewiß. Wären Sie
keine Frauenzimmer, ich könnte Ihnen noch die ſchön¬
ſten Dummheiten erzählen; aber Sie verſtehen das
nicht. Und mit welcher Leidenſchaftlichkeit wurde
geſtritten! Ich dachte ſie würden ſich einander in die
Haare fallen. Aber die Franzoſen haben eine be¬
wunderungswürdige Gewandtheit, einen Streit bis
an die Grenze der Beleidigung zu führen, ohne dieſe
zu überſchreiten, und mit den Händen ſich einander
unter die Naſe zu geſticuliren, ohne ſich Ohrfeigen
zu geben. Ich ſaß auf einem Sopha von blauer
Seide, unter den Füßen eine Decke von Pelz, trank
ein Glas Orgeade nach dem andern und beneidete
das glückſelige Volk, das gar nichts weiß, von dem,
was es nicht weiß, entgegengeſetzt uns armen Deut¬
ſchen, die wir am beſten kennen was wir nicht
kennen. „Eh bien je vais vous exposer ma
doctrine“
ſagte einmal ein junger blaſſer Menſch
mit einem Schnurrbarte zu einem Andern ohne Schnurr¬
bart ... und da ſagte er ihm etwas, was in je¬
dem deutſchen ABC-Buche ſtehet.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0179" n="165"/>
Ein Anderer fing mit mir an von <hi rendition="#g">Kant</hi> zu &#x017F;pre¬<lb/>
chen, und als er glaubte ich hätte den Namen nicht<lb/>
ver&#x017F;tanden, dachte er wohl, er hätte ihn fal&#x017F;ch aus¬<lb/>
ge&#x017F;prochen und wiederholte <hi rendition="#g">Känt</hi>. Ein dritter &#x017F;agte<lb/>
mir, Anatomie wäre die Haupt&#x017F;ache in der Philo¬<lb/>
&#x017F;ophie. Ich antwortete: Ganz gewiß. Wären Sie<lb/>
keine Frauenzimmer, ich könnte Ihnen noch die &#x017F;chön¬<lb/>
&#x017F;ten Dummheiten erzählen; aber Sie ver&#x017F;tehen das<lb/>
nicht. Und mit welcher Leiden&#x017F;chaftlichkeit wurde<lb/>
ge&#x017F;tritten! Ich dachte &#x017F;ie würden &#x017F;ich einander in die<lb/>
Haare fallen. Aber die Franzo&#x017F;en haben eine be¬<lb/>
wunderungswürdige Gewandtheit, einen Streit bis<lb/>
an die Grenze der Beleidigung zu führen, ohne die&#x017F;e<lb/>
zu über&#x017F;chreiten, und mit den Händen &#x017F;ich einander<lb/>
unter die Na&#x017F;e zu ge&#x017F;ticuliren, ohne &#x017F;ich Ohrfeigen<lb/>
zu geben. Ich &#x017F;aß auf einem Sopha von blauer<lb/>
Seide, unter den Füßen eine Decke von Pelz, trank<lb/>
ein Glas Orgeade nach dem andern und beneidete<lb/>
das glück&#x017F;elige Volk, das gar nichts weiß, von dem,<lb/>
was es nicht weiß, entgegenge&#x017F;etzt uns armen Deut¬<lb/>
&#x017F;chen, die wir am be&#x017F;ten kennen was wir nicht<lb/>
kennen. <hi rendition="#aq">&#x201E;Eh bien je vais vous exposer ma<lb/>
doctrine&#x201C;</hi> &#x017F;agte einmal ein junger bla&#x017F;&#x017F;er Men&#x017F;ch<lb/>
mit einem Schnurrbarte zu einem Andern ohne Schnurr¬<lb/>
bart ... und da &#x017F;agte er ihm etwas, was in je¬<lb/>
dem deut&#x017F;chen ABC-Buche &#x017F;tehet.</p><lb/>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0179] Ein Anderer fing mit mir an von Kant zu ſpre¬ chen, und als er glaubte ich hätte den Namen nicht verſtanden, dachte er wohl, er hätte ihn falſch aus¬ geſprochen und wiederholte Känt. Ein dritter ſagte mir, Anatomie wäre die Hauptſache in der Philo¬ ſophie. Ich antwortete: Ganz gewiß. Wären Sie keine Frauenzimmer, ich könnte Ihnen noch die ſchön¬ ſten Dummheiten erzählen; aber Sie verſtehen das nicht. Und mit welcher Leidenſchaftlichkeit wurde geſtritten! Ich dachte ſie würden ſich einander in die Haare fallen. Aber die Franzoſen haben eine be¬ wunderungswürdige Gewandtheit, einen Streit bis an die Grenze der Beleidigung zu führen, ohne dieſe zu überſchreiten, und mit den Händen ſich einander unter die Naſe zu geſticuliren, ohne ſich Ohrfeigen zu geben. Ich ſaß auf einem Sopha von blauer Seide, unter den Füßen eine Decke von Pelz, trank ein Glas Orgeade nach dem andern und beneidete das glückſelige Volk, das gar nichts weiß, von dem, was es nicht weiß, entgegengeſetzt uns armen Deut¬ ſchen, die wir am beſten kennen was wir nicht kennen. „Eh bien je vais vous exposer ma doctrine“ ſagte einmal ein junger blaſſer Menſch mit einem Schnurrbarte zu einem Andern ohne Schnurr¬ bart ... und da ſagte er ihm etwas, was in je¬ dem deutſchen ABC-Buche ſtehet.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/179
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/179>, abgerufen am 22.12.2024.