sengender Sommerglast und ein Kranz brennend roter Herbst¬ blätter.
Mit diesen Gegensätzen taucht die tiefsinnigste "Astronomie der Liebe" auf. Ohne Achsenschiefe kein Frühling. Alle Tage wären überall gleich lang. Jene Linie dort zum Polarstern: sie ragt dir in Wahrheit durch jeden Lenzeswald, hinein in die violetten Birkenknospen und die stäubenden Kiefernzapfen, hinein auch in die Luftwellen, auf denen das Liebeslied der Nachtigall leise verschwebt. Sonne und Liebe stehen in ur¬ ältestem Zusammenhang. Die Sonne ist die Kraftquelle der Erde. Liebe ist die konzentrierteste Kraft des Erdenlebens. Aber das Licht dieser Sonne rollt vermöge jener Achsenschiefe in periodisch ungleichen Strömen, flutend bald und wieder ebbend, über weite Gebiete dieser Erde hin und vor allem gerade über die lebensbunten Landstrecken unserer Nord¬ halbkugel. So kam seit alters eine geheimnisvolle kosmische Periode auch in das Liebesleben mit hinein.
Es giebt ja eine noch einfachere darin, die auch astro¬ nomisch ist: Tag und Nacht. Durch die Nacht tönt am zauber¬ haftesten das Lied der Nachtigall. Und durch die Menschenliebe trällert das schalkhafte Verslein Philinens von dem langen Tage, der seine Plage hat, und der Nacht und ihrer Lust, -- Liebeslust. Eine feste Schutzanpassung des bedrängten Menschen liegt gewiß in dem Begriffe "Liebesnacht". Der helle Tag hatte wirklich seine Plage, das Individuum kämpfte eng um seine Person, seine Nahrung, sein Leben. In der stillen Nacht besann die Kraft der Gattung sich auf sich, das weitere Leben blühte auf, das zeugend über die Jahrtausende reicht. Immerhin spielt dieser Wechsel von Tag und Nacht keine entscheidende Rolle in der Liebe, keine ganz scharf einschneidende. Die Nachtigall singt auch bei Tage, wenn ihre höchste Kraftflut schwillt, und wie mancher von uns ist ein Sonnenkind. Unend¬ lich wichtiger war jene große Jahreszeiten-Periode.
Hier ist die Anpassung umgekehrt, und zugleich ist sie
ſengender Sommerglaſt und ein Kranz brennend roter Herbſt¬ blätter.
Mit dieſen Gegenſätzen taucht die tiefſinnigſte „Aſtronomie der Liebe“ auf. Ohne Achſenſchiefe kein Frühling. Alle Tage wären überall gleich lang. Jene Linie dort zum Polarſtern: ſie ragt dir in Wahrheit durch jeden Lenzeswald, hinein in die violetten Birkenknoſpen und die ſtäubenden Kiefernzapfen, hinein auch in die Luftwellen, auf denen das Liebeslied der Nachtigall leiſe verſchwebt. Sonne und Liebe ſtehen in ur¬ älteſtem Zuſammenhang. Die Sonne iſt die Kraftquelle der Erde. Liebe iſt die konzentrierteſte Kraft des Erdenlebens. Aber das Licht dieſer Sonne rollt vermöge jener Achſenſchiefe in periodiſch ungleichen Strömen, flutend bald und wieder ebbend, über weite Gebiete dieſer Erde hin und vor allem gerade über die lebensbunten Landſtrecken unſerer Nord¬ halbkugel. So kam ſeit alters eine geheimnisvolle kosmiſche Periode auch in das Liebesleben mit hinein.
Es giebt ja eine noch einfachere darin, die auch aſtro¬ nomiſch iſt: Tag und Nacht. Durch die Nacht tönt am zauber¬ hafteſten das Lied der Nachtigall. Und durch die Menſchenliebe trällert das ſchalkhafte Verslein Philinens von dem langen Tage, der ſeine Plage hat, und der Nacht und ihrer Luſt, — Liebesluſt. Eine feſte Schutzanpaſſung des bedrängten Menſchen liegt gewiß in dem Begriffe „Liebesnacht“. Der helle Tag hatte wirklich ſeine Plage, das Individuum kämpfte eng um ſeine Perſon, ſeine Nahrung, ſein Leben. In der ſtillen Nacht beſann die Kraft der Gattung ſich auf ſich, das weitere Leben blühte auf, das zeugend über die Jahrtauſende reicht. Immerhin ſpielt dieſer Wechſel von Tag und Nacht keine entſcheidende Rolle in der Liebe, keine ganz ſcharf einſchneidende. Die Nachtigall ſingt auch bei Tage, wenn ihre höchſte Kraftflut ſchwillt, und wie mancher von uns iſt ein Sonnenkind. Unend¬ lich wichtiger war jene große Jahreszeiten-Periode.
Hier iſt die Anpaſſung umgekehrt, und zugleich iſt ſie
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ſengender Sommerglaſt und ein Kranz brennend roter Herbſt¬
blätter.
Mit dieſen Gegenſätzen taucht die tiefſinnigſte „Aſtronomie
der Liebe“ auf. Ohne Achſenſchiefe kein Frühling. Alle Tage
wären überall gleich lang. Jene Linie dort zum Polarſtern:
ſie ragt dir in Wahrheit durch jeden Lenzeswald, hinein in
die violetten Birkenknoſpen und die ſtäubenden Kiefernzapfen,
hinein auch in die Luftwellen, auf denen das Liebeslied der
Nachtigall leiſe verſchwebt. Sonne und Liebe ſtehen in ur¬
älteſtem Zuſammenhang. Die Sonne iſt die Kraftquelle der
Erde. Liebe iſt die konzentrierteſte Kraft des Erdenlebens.
Aber das Licht dieſer Sonne rollt vermöge jener Achſenſchiefe
in periodiſch ungleichen Strömen, flutend bald und wieder
ebbend, über weite Gebiete dieſer Erde hin und vor allem
gerade über die lebensbunten Landſtrecken unſerer Nord¬
halbkugel. So kam ſeit alters eine geheimnisvolle kosmiſche
Periode auch in das Liebesleben mit hinein.
Es giebt ja eine noch einfachere darin, die auch aſtro¬
nomiſch iſt: Tag und Nacht. Durch die Nacht tönt am zauber¬
hafteſten das Lied der Nachtigall. Und durch die Menſchenliebe
trällert das ſchalkhafte Verslein Philinens von dem langen
Tage, der ſeine Plage hat, und der Nacht und ihrer Luſt, —
Liebesluſt. Eine feſte Schutzanpaſſung des bedrängten Menſchen
liegt gewiß in dem Begriffe „Liebesnacht“. Der helle Tag
hatte wirklich ſeine Plage, das Individuum kämpfte eng um
ſeine Perſon, ſeine Nahrung, ſein Leben. In der ſtillen Nacht
beſann die Kraft der Gattung ſich auf ſich, das weitere Leben
blühte auf, das zeugend über die Jahrtauſende reicht. Immerhin
ſpielt dieſer Wechſel von Tag und Nacht keine entſcheidende
Rolle in der Liebe, keine ganz ſcharf einſchneidende. Die
Nachtigall ſingt auch bei Tage, wenn ihre höchſte Kraftflut
ſchwillt, und wie mancher von uns iſt ein Sonnenkind. Unend¬
lich wichtiger war jene große Jahreszeiten-Periode.
Hier iſt die Anpaſſung umgekehrt, und zugleich iſt ſie
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/52>, abgerufen am 25.11.2024.
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