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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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im Gebet endlich ganz versenken in den neuen Sinn: Liebe ist
Satan; denn Liebe erhält den Menschen; der Mensch aber ist
Weh und Elend; der ewige Mensch durch die Sinnenliebe ist
der ewige Verdammte; nur wenn die Menschen sterben, ganz
aussterben, hört der ungeheure Spuk endlich auf, versinkt diese
Jammerwelt in ihren Wüstenboden, wie der wilde Wagen dort
versank; nicht die Menschheit ist Gott; unseliger Glaube; Gott
ist, wo es keinen Menschen mehr giebt; Gott ist in der Öde,
nicht in der Welt; Welt und Menschheit sind nur Satans¬
schleier vor Gott; nur wer sie zerreißt, kehrt endlich heim.

Das ist ein altes Bild, aus den Tagen Constantins, der
Zeit der Paulus und Antonius und Hilarion, mehr als andert¬
halb Jahrtausende hinter dir.

[Abbildung]

Aber nun ein moderner Denker. Er sitzt in seinem
Arbeitszimmer und stützt die Stirn auf die Hand. Draußen
rauscht die Weltstadt. Hier drinnen ist es friedlich. Helles
Sonnenlicht blinkt auf allerlei bunten Gaben der Kunst und
Wissenschaft, Gemälden, Büsten, guten Büchern. Er hat die
Welt nicht durchtollt in tollem Rausch, mit wilden Weibern
und Becherklang. Er flüchtet auch nicht in die Wüste. Denn
wo ist "Wüste?" Da hängt die Weltkarte. Überall ist das
uferlose All, diese Raumkugelhöhlung ohne Oben und Unten.
Ob hier, ob dort, ob Schlemmer, ob Asket: du bist überall
unrettbar darin. Nicht einmal von dieser kleinen Erde kannst
du los. Ob du lebst, ob du tot bist, Erde bist du. Also
bleibe ruhig hier, in der Weltstadt im Norden, anstatt nach
Ägypten zu pilgern.

Und doch: auch dieser Weise eines neuen, jungen Tages
starrt vor sich hin. Recht hattest du doch im Innersten, du
Eremit der Schlangengrube in der Wüste. Diese Welt ist eitel.

23*

im Gebet endlich ganz verſenken in den neuen Sinn: Liebe iſt
Satan; denn Liebe erhält den Menſchen; der Menſch aber iſt
Weh und Elend; der ewige Menſch durch die Sinnenliebe iſt
der ewige Verdammte; nur wenn die Menſchen ſterben, ganz
ausſterben, hört der ungeheure Spuk endlich auf, verſinkt dieſe
Jammerwelt in ihren Wüſtenboden, wie der wilde Wagen dort
verſank; nicht die Menſchheit iſt Gott; unſeliger Glaube; Gott
iſt, wo es keinen Menſchen mehr giebt; Gott iſt in der Öde,
nicht in der Welt; Welt und Menſchheit ſind nur Satans¬
ſchleier vor Gott; nur wer ſie zerreißt, kehrt endlich heim.

Das iſt ein altes Bild, aus den Tagen Conſtantins, der
Zeit der Paulus und Antonius und Hilarion, mehr als andert¬
halb Jahrtauſende hinter dir.

[Abbildung]

Aber nun ein moderner Denker. Er ſitzt in ſeinem
Arbeitszimmer und ſtützt die Stirn auf die Hand. Draußen
rauſcht die Weltſtadt. Hier drinnen iſt es friedlich. Helles
Sonnenlicht blinkt auf allerlei bunten Gaben der Kunſt und
Wiſſenſchaft, Gemälden, Büſten, guten Büchern. Er hat die
Welt nicht durchtollt in tollem Rauſch, mit wilden Weibern
und Becherklang. Er flüchtet auch nicht in die Wüſte. Denn
wo iſt „Wüſte?“ Da hängt die Weltkarte. Überall iſt das
uferloſe All, dieſe Raumkugelhöhlung ohne Oben und Unten.
Ob hier, ob dort, ob Schlemmer, ob Aſket: du biſt überall
unrettbar darin. Nicht einmal von dieſer kleinen Erde kannſt
du los. Ob du lebſt, ob du tot biſt, Erde biſt du. Alſo
bleibe ruhig hier, in der Weltſtadt im Norden, anſtatt nach
Ägypten zu pilgern.

Und doch: auch dieſer Weiſe eines neuen, jungen Tages
ſtarrt vor ſich hin. Recht hatteſt du doch im Innerſten, du
Eremit der Schlangengrube in der Wüſte. Dieſe Welt iſt eitel.

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[355/0369] im Gebet endlich ganz verſenken in den neuen Sinn: Liebe iſt Satan; denn Liebe erhält den Menſchen; der Menſch aber iſt Weh und Elend; der ewige Menſch durch die Sinnenliebe iſt der ewige Verdammte; nur wenn die Menſchen ſterben, ganz ausſterben, hört der ungeheure Spuk endlich auf, verſinkt dieſe Jammerwelt in ihren Wüſtenboden, wie der wilde Wagen dort verſank; nicht die Menſchheit iſt Gott; unſeliger Glaube; Gott iſt, wo es keinen Menſchen mehr giebt; Gott iſt in der Öde, nicht in der Welt; Welt und Menſchheit ſind nur Satans¬ ſchleier vor Gott; nur wer ſie zerreißt, kehrt endlich heim. Das iſt ein altes Bild, aus den Tagen Conſtantins, der Zeit der Paulus und Antonius und Hilarion, mehr als andert¬ halb Jahrtauſende hinter dir. [Abbildung] Aber nun ein moderner Denker. Er ſitzt in ſeinem Arbeitszimmer und ſtützt die Stirn auf die Hand. Draußen rauſcht die Weltſtadt. Hier drinnen iſt es friedlich. Helles Sonnenlicht blinkt auf allerlei bunten Gaben der Kunſt und Wiſſenſchaft, Gemälden, Büſten, guten Büchern. Er hat die Welt nicht durchtollt in tollem Rauſch, mit wilden Weibern und Becherklang. Er flüchtet auch nicht in die Wüſte. Denn wo iſt „Wüſte?“ Da hängt die Weltkarte. Überall iſt das uferloſe All, dieſe Raumkugelhöhlung ohne Oben und Unten. Ob hier, ob dort, ob Schlemmer, ob Aſket: du biſt überall unrettbar darin. Nicht einmal von dieſer kleinen Erde kannſt du los. Ob du lebſt, ob du tot biſt, Erde biſt du. Alſo bleibe ruhig hier, in der Weltſtadt im Norden, anſtatt nach Ägypten zu pilgern. Und doch: auch dieſer Weiſe eines neuen, jungen Tages ſtarrt vor ſich hin. Recht hatteſt du doch im Innerſten, du Eremit der Schlangengrube in der Wüſte. Dieſe Welt iſt eitel. 23*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/369>, abgerufen am 21.11.2024.