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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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her, die Wölbung liegt so niedrig auf seinem Haupt, daß er
nicht aufstehen kann. Aber das ist es, was er will. Nichts
mehr sehen als das Elendeste und das Nichts selbst.

Freilich: die Schauerwelt ist zäh. Sie geht mit ihm in
seinen Gedanken. Nacht liegt über der Wüste; die Glutnacht,
in der die Sterne rot schimmern. Da öffnen sich die Wände
der Gruft, in der der Lebendige liegt. Dämonen kommen,
Schlangen, Löwen, Stiere, Wölfe, Skorpione, Leoparden, Bären,
eine brüllende Meute. Herkulische Menschenbilder stürzen vor
und zerschlagen den Einsiedler, diesen verfluchten "Lebendigen".
Draußen heult es, klagt es, jauchzt es immerzu: Kindergeschrei,
Geblök unendlich vorbeiwallender Schafherden, Gebrüll von
Ochsen, der Tritt langer Kolonnen einer Armee. Nun geht
der Mond gespenstisch fahl auf: ein Wagen mit durchgehenden
Rossen stürzt mit wahnsinnigem Gepolter grade auf den Ver¬
folgten zu: "Jesus", ringt sich keuchend aus seiner Brust und
der Spuk versinkt in der Erde. Aber indem er aufatmen will,
gebiert diese Erde schon ein Neues: üppig besetzte Tafeln ent¬
steigen der Wüstendürre, Trauben schwellen, goldener Wein
fließt im Pokal. Von den Polstern aber steigen schöne nackte
Frauen, mit entfesseltem Haar, mit feucht glühendem Auge,
mit dem wilden Duft der Liebesspezereien ... In Schweiß
gebadet flüchtet der Anachoret querfeldein in die Wüste. Aber
auf seine Schulter preßt sich ein höllischer Druck, ein Schatten
liegt über ihm: ein Gespenst sitzt ihm auf dem Nacken, reitet
ihn wie der Löwe die Giraffe im "Löwenritt". Triumphierend
hallt sein gräßliches Lachen durch die Wüstenstille.

Sie ist nicht tot zu bekommen, diese Welt. Sie haftet
an den Organen, die der Flüchtling mit gebracht hat. Am
schlimmsten ist das Organ der Liebe. Und der Asket greift
zum Messer, kastriert sich, löscht das Geschlechtsindividuum in
sich aus. Wenn das Organ tot von ihm absinkt, wie ein
endlich erlegtes Gifttier, dann wird auch der Geist von da
drunten gemordet sein. Dann kann der befreite Gedanke sich

her, die Wölbung liegt ſo niedrig auf ſeinem Haupt, daß er
nicht aufſtehen kann. Aber das iſt es, was er will. Nichts
mehr ſehen als das Elendeſte und das Nichts ſelbſt.

Freilich: die Schauerwelt iſt zäh. Sie geht mit ihm in
ſeinen Gedanken. Nacht liegt über der Wüſte; die Glutnacht,
in der die Sterne rot ſchimmern. Da öffnen ſich die Wände
der Gruft, in der der Lebendige liegt. Dämonen kommen,
Schlangen, Löwen, Stiere, Wölfe, Skorpione, Leoparden, Bären,
eine brüllende Meute. Herkuliſche Menſchenbilder ſtürzen vor
und zerſchlagen den Einſiedler, dieſen verfluchten „Lebendigen“.
Draußen heult es, klagt es, jauchzt es immerzu: Kindergeſchrei,
Geblök unendlich vorbeiwallender Schafherden, Gebrüll von
Ochſen, der Tritt langer Kolonnen einer Armee. Nun geht
der Mond geſpenſtiſch fahl auf: ein Wagen mit durchgehenden
Roſſen ſtürzt mit wahnſinnigem Gepolter grade auf den Ver¬
folgten zu: „Jeſus“, ringt ſich keuchend aus ſeiner Bruſt und
der Spuk verſinkt in der Erde. Aber indem er aufatmen will,
gebiert dieſe Erde ſchon ein Neues: üppig beſetzte Tafeln ent¬
ſteigen der Wüſtendürre, Trauben ſchwellen, goldener Wein
fließt im Pokal. Von den Polſtern aber ſteigen ſchöne nackte
Frauen, mit entfeſſeltem Haar, mit feucht glühendem Auge,
mit dem wilden Duft der Liebesſpezereien ... In Schweiß
gebadet flüchtet der Anachoret querfeldein in die Wüſte. Aber
auf ſeine Schulter preßt ſich ein hölliſcher Druck, ein Schatten
liegt über ihm: ein Geſpenſt ſitzt ihm auf dem Nacken, reitet
ihn wie der Löwe die Giraffe im „Löwenritt“. Triumphierend
hallt ſein gräßliches Lachen durch die Wüſtenſtille.

Sie iſt nicht tot zu bekommen, dieſe Welt. Sie haftet
an den Organen, die der Flüchtling mit gebracht hat. Am
ſchlimmſten iſt das Organ der Liebe. Und der Aſket greift
zum Meſſer, kaſtriert ſich, löſcht das Geſchlechtsindividuum in
ſich aus. Wenn das Organ tot von ihm abſinkt, wie ein
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[354/0368] her, die Wölbung liegt ſo niedrig auf ſeinem Haupt, daß er nicht aufſtehen kann. Aber das iſt es, was er will. Nichts mehr ſehen als das Elendeſte und das Nichts ſelbſt. Freilich: die Schauerwelt iſt zäh. Sie geht mit ihm in ſeinen Gedanken. Nacht liegt über der Wüſte; die Glutnacht, in der die Sterne rot ſchimmern. Da öffnen ſich die Wände der Gruft, in der der Lebendige liegt. Dämonen kommen, Schlangen, Löwen, Stiere, Wölfe, Skorpione, Leoparden, Bären, eine brüllende Meute. Herkuliſche Menſchenbilder ſtürzen vor und zerſchlagen den Einſiedler, dieſen verfluchten „Lebendigen“. Draußen heult es, klagt es, jauchzt es immerzu: Kindergeſchrei, Geblök unendlich vorbeiwallender Schafherden, Gebrüll von Ochſen, der Tritt langer Kolonnen einer Armee. Nun geht der Mond geſpenſtiſch fahl auf: ein Wagen mit durchgehenden Roſſen ſtürzt mit wahnſinnigem Gepolter grade auf den Ver¬ folgten zu: „Jeſus“, ringt ſich keuchend aus ſeiner Bruſt und der Spuk verſinkt in der Erde. Aber indem er aufatmen will, gebiert dieſe Erde ſchon ein Neues: üppig beſetzte Tafeln ent¬ ſteigen der Wüſtendürre, Trauben ſchwellen, goldener Wein fließt im Pokal. Von den Polſtern aber ſteigen ſchöne nackte Frauen, mit entfeſſeltem Haar, mit feucht glühendem Auge, mit dem wilden Duft der Liebesſpezereien ... In Schweiß gebadet flüchtet der Anachoret querfeldein in die Wüſte. Aber auf ſeine Schulter preßt ſich ein hölliſcher Druck, ein Schatten liegt über ihm: ein Geſpenſt ſitzt ihm auf dem Nacken, reitet ihn wie der Löwe die Giraffe im „Löwenritt“. Triumphierend hallt ſein gräßliches Lachen durch die Wüſtenſtille. Sie iſt nicht tot zu bekommen, dieſe Welt. Sie haftet an den Organen, die der Flüchtling mit gebracht hat. Am ſchlimmſten iſt das Organ der Liebe. Und der Aſket greift zum Meſſer, kaſtriert ſich, löſcht das Geſchlechtsindividuum in ſich aus. Wenn das Organ tot von ihm abſinkt, wie ein endlich erlegtes Gifttier, dann wird auch der Geiſt von da drunten gemordet ſein. Dann kann der befreite Gedanke ſich

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/368>, abgerufen am 21.11.2024.