junge Mann in unserer Kultur, der in die Liebesjahre tritt, in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle vor der echten Frau die Prostituierte kennen lernen muß. Ihr giebt er seinen ersten erotischen Frühling hin. Unsere sozialen Verhältnisse drängen immer und immer wieder dahin, -- wie heute die Dinge liegen, kann es fast nicht mehr anders sein. Das ist allein schon eine harte Schule. Das Weib wird dir in seiner tiefsten Ver¬ kommenheit zuerst ganz gezeigt, jedes Ideal zunächst einmal in den Koth getreten mit der furchtbarsten Brutalität. Frage um, wem es nicht so gegangen ist. An die Edelsten, Besten, Ge¬ sundesten trat die Forderung ihrer Lebensreife, das alte heilige Ur-Gesetz: jetzt muß das Weib zu dir, dem Manne kommen. Und nun soziale, durch tausenderlei Erbschaft aufgerichtete eherne Schranken, die dich vom echten Weibe zurückwarfen -- in den Rinnstein der Liebe hinab. Wie wenige nur haben dieses Blatt nicht in ihren Erinnerungen: die erste Stunde der Hingabe an ein Weib, an die andere Hälfte unseres Menschenlebens, an diese großen, ewigen Unsterblichkeitsempfindungen, für die die Natur Jahrmillionen lang gehäuft, gesammelt, ausgespart hat, für die sie dich endlich auch reif gemacht hat -- und nun das Roheste, Perverseste, Dreckigste, was deine ganze Kultur über¬ haupt noch besitzt, ein "Weib", das im Kultursinne überhaupt noch nicht Mensch ist -- und darin lernst du das "Weib" kennen .....
Nun, das Leben ist nicht vollkommen. Man fügt sich. Wenn Ideale Kraft haben, so müssen sie sich auch aus dem Staube immer wieder gebären können. Also du ringst dich eines Tages doch auf zu dem echten Weibe. Du selbst fühlst dich mit Recht schuldlos, denn du hast nur eine zeitliche Gesellschafts- Verworrenheit abgebüßt. In solchem Falle flennt der echte Mensch nicht, er erlöst sich durch neue, bessere That. "Reue ist des Lebens einzige Schuld", sagt Mackay einmal so schön.
Hier aber gerade setzt die verteufeltste Steigerung ein. In so und so viel Fällen hat die physische Berührung mit der
junge Mann in unſerer Kultur, der in die Liebesjahre tritt, in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle vor der echten Frau die Proſtituierte kennen lernen muß. Ihr giebt er ſeinen erſten erotiſchen Frühling hin. Unſere ſozialen Verhältniſſe drängen immer und immer wieder dahin, — wie heute die Dinge liegen, kann es faſt nicht mehr anders ſein. Das iſt allein ſchon eine harte Schule. Das Weib wird dir in ſeiner tiefſten Ver¬ kommenheit zuerſt ganz gezeigt, jedes Ideal zunächſt einmal in den Koth getreten mit der furchtbarſten Brutalität. Frage um, wem es nicht ſo gegangen iſt. An die Edelſten, Beſten, Ge¬ ſundeſten trat die Forderung ihrer Lebensreife, das alte heilige Ur-Geſetz: jetzt muß das Weib zu dir, dem Manne kommen. Und nun ſoziale, durch tauſenderlei Erbſchaft aufgerichtete eherne Schranken, die dich vom echten Weibe zurückwarfen — in den Rinnſtein der Liebe hinab. Wie wenige nur haben dieſes Blatt nicht in ihren Erinnerungen: die erſte Stunde der Hingabe an ein Weib, an die andere Hälfte unſeres Menſchenlebens, an dieſe großen, ewigen Unſterblichkeitsempfindungen, für die die Natur Jahrmillionen lang gehäuft, geſammelt, ausgeſpart hat, für die ſie dich endlich auch reif gemacht hat — und nun das Roheſte, Perverſeſte, Dreckigſte, was deine ganze Kultur über¬ haupt noch beſitzt, ein „Weib“, das im Kulturſinne überhaupt noch nicht Menſch iſt — und darin lernſt du das „Weib“ kennen .....
Nun, das Leben iſt nicht vollkommen. Man fügt ſich. Wenn Ideale Kraft haben, ſo müſſen ſie ſich auch aus dem Staube immer wieder gebären können. Alſo du ringſt dich eines Tages doch auf zu dem echten Weibe. Du ſelbſt fühlſt dich mit Recht ſchuldlos, denn du haſt nur eine zeitliche Geſellſchafts- Verworrenheit abgebüßt. In ſolchem Falle flennt der echte Menſch nicht, er erlöſt ſich durch neue, beſſere That. „Reue iſt des Lebens einzige Schuld“, ſagt Mackay einmal ſo ſchön.
Hier aber gerade ſetzt die verteufeltſte Steigerung ein. In ſo und ſo viel Fällen hat die phyſiſche Berührung mit der
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0361"n="347"/>
junge Mann in unſerer Kultur, der in die Liebesjahre tritt,<lb/>
in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle <hirendition="#g">vor</hi> der echten Frau<lb/>
die Proſtituierte kennen lernen muß. Ihr giebt er ſeinen erſten<lb/>
erotiſchen Frühling hin. Unſere ſozialen Verhältniſſe drängen<lb/>
immer <choice><sic>nnd</sic><corr>und</corr></choice> immer wieder dahin, — wie heute die Dinge<lb/>
liegen, kann es faſt nicht mehr anders ſein. Das iſt allein ſchon<lb/>
eine harte Schule. Das Weib wird dir in ſeiner tiefſten Ver¬<lb/>
kommenheit zuerſt ganz gezeigt, jedes Ideal zunächſt einmal in<lb/>
den Koth getreten mit der furchtbarſten Brutalität. Frage um,<lb/>
wem es nicht ſo gegangen iſt. An die Edelſten, Beſten, Ge¬<lb/>ſundeſten trat die Forderung ihrer Lebensreife, das alte heilige<lb/>
Ur-Geſetz: jetzt <hirendition="#g">muß</hi> das Weib zu dir, dem Manne kommen.<lb/>
Und nun ſoziale, durch tauſenderlei Erbſchaft aufgerichtete<lb/>
eherne Schranken, die dich vom echten Weibe zurückwarfen —<lb/>
in den Rinnſtein der Liebe hinab. Wie wenige nur haben dieſes<lb/>
Blatt nicht in ihren Erinnerungen: die erſte Stunde der Hingabe<lb/>
an ein Weib, an die andere Hälfte unſeres Menſchenlebens, an<lb/>
dieſe großen, ewigen Unſterblichkeitsempfindungen, für die die<lb/>
Natur Jahrmillionen lang gehäuft, geſammelt, ausgeſpart hat,<lb/>
für die ſie dich endlich auch reif gemacht hat — und nun das<lb/>
Roheſte, Perverſeſte, Dreckigſte, was deine ganze Kultur über¬<lb/>
haupt noch beſitzt, ein „Weib“, das im Kulturſinne überhaupt<lb/>
noch nicht Menſch iſt — und darin lernſt du das „Weib“<lb/>
kennen .....</p><lb/><p>Nun, das Leben iſt nicht vollkommen. Man fügt ſich.<lb/>
Wenn Ideale Kraft haben, ſo müſſen ſie ſich auch aus dem<lb/>
Staube immer wieder gebären können. Alſo du ringſt dich<lb/>
eines Tages doch auf zu dem echten Weibe. Du ſelbſt fühlſt<lb/>
dich mit Recht ſchuldlos, denn du haſt nur eine zeitliche Geſellſchafts-<lb/>
Verworrenheit abgebüßt. In ſolchem Falle flennt der echte<lb/>
Menſch nicht, er erlöſt ſich durch neue, beſſere That. „Reue<lb/>
iſt des Lebens einzige Schuld“, ſagt Mackay einmal ſo ſchön.</p><lb/><p>Hier aber gerade ſetzt die verteufeltſte Steigerung ein. In<lb/>ſo und ſo viel Fällen hat die phyſiſche Berührung mit der<lb/></p></div></body></text></TEI>
[347/0361]
junge Mann in unſerer Kultur, der in die Liebesjahre tritt,
in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle vor der echten Frau
die Proſtituierte kennen lernen muß. Ihr giebt er ſeinen erſten
erotiſchen Frühling hin. Unſere ſozialen Verhältniſſe drängen
immer und immer wieder dahin, — wie heute die Dinge
liegen, kann es faſt nicht mehr anders ſein. Das iſt allein ſchon
eine harte Schule. Das Weib wird dir in ſeiner tiefſten Ver¬
kommenheit zuerſt ganz gezeigt, jedes Ideal zunächſt einmal in
den Koth getreten mit der furchtbarſten Brutalität. Frage um,
wem es nicht ſo gegangen iſt. An die Edelſten, Beſten, Ge¬
ſundeſten trat die Forderung ihrer Lebensreife, das alte heilige
Ur-Geſetz: jetzt muß das Weib zu dir, dem Manne kommen.
Und nun ſoziale, durch tauſenderlei Erbſchaft aufgerichtete
eherne Schranken, die dich vom echten Weibe zurückwarfen —
in den Rinnſtein der Liebe hinab. Wie wenige nur haben dieſes
Blatt nicht in ihren Erinnerungen: die erſte Stunde der Hingabe
an ein Weib, an die andere Hälfte unſeres Menſchenlebens, an
dieſe großen, ewigen Unſterblichkeitsempfindungen, für die die
Natur Jahrmillionen lang gehäuft, geſammelt, ausgeſpart hat,
für die ſie dich endlich auch reif gemacht hat — und nun das
Roheſte, Perverſeſte, Dreckigſte, was deine ganze Kultur über¬
haupt noch beſitzt, ein „Weib“, das im Kulturſinne überhaupt
noch nicht Menſch iſt — und darin lernſt du das „Weib“
kennen .....
Nun, das Leben iſt nicht vollkommen. Man fügt ſich.
Wenn Ideale Kraft haben, ſo müſſen ſie ſich auch aus dem
Staube immer wieder gebären können. Alſo du ringſt dich
eines Tages doch auf zu dem echten Weibe. Du ſelbſt fühlſt
dich mit Recht ſchuldlos, denn du haſt nur eine zeitliche Geſellſchafts-
Verworrenheit abgebüßt. In ſolchem Falle flennt der echte
Menſch nicht, er erlöſt ſich durch neue, beſſere That. „Reue
iſt des Lebens einzige Schuld“, ſagt Mackay einmal ſo ſchön.
Hier aber gerade ſetzt die verteufeltſte Steigerung ein. In
ſo und ſo viel Fällen hat die phyſiſche Berührung mit der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/361>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.