Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

der böse Geist nicht leiden. Ein anderer Raubvogel wurde
der Armen direkt auf die Brust gesetzt, mit Stachelbeeren
wurde sie beworfen, damit der Böse daran kleben bleibe. Neben
ihrem Kopfkissen lag ein Schwert mit der Schneide nach oben
begraben. Zuletzt, wenn die Nachgeburt immer noch nicht
kommen will, vom Geiste gesperrt, so tritt -- nicht der Arzt,
sondern der Sänger des Stammes ins Zelt, wirft sich auf
die Leidende und verprügelt sie gelinde mit seinem Stabe.
Diese Rolle des "Sängers" kennt übrigens auch die voigt¬
länder Bäuerin dort: zu ihr kam der Nachtwächter, als die
Geburt sich hinzog, und sang ihr ein geistliches Lied. Sie
selber mußte dazu geweihten Kümmel nehmen, der in der
Johannisnacht um Zwölfe gepflückt war, im ganzen Hause
wurde mit Zwiebeln geräuchert und alle Schlösser wurden
aufgesperrt. Die Steiermärkerin daneben hat sich Heiligen¬
bilder dabei auf die Haut geklebt, sie hält die getrocknete Knie¬
drüse des brünstigen Gemsbocks in der Hand und trägt eine
Natternhaut um den Leib. Die Pfälzerin riecht, während sie
sich in Schmerzen windet, an einer im Wasser entfalteten Rose
von Jericho.

Hörst du das wahnsinnige Getrommel und Gepfeife? Es
sind die Freundinnen der nackten Niam-Niam-Frau in Afrika,
die so lange fanatisch musizieren, bis die Kreißende in ihrer
Mitte beim Ziel ist. Der ernste Mann aber wieder daneben
mit den glühenden Phantasieaugen des Mittelalters ist Franz
von Piemont, der Meister von Neapel um 1340. Auch er
hat eben eine Wöchnerin in Behandlung. In ihrer linken
Hand muß sie Magnesia, vermischt mit der Asche von Esels¬
klauen und Pferdeklauen, halten. Das Getränk aber der armen
lechzenden Kehle ist nach des Arztes strenger Vorschrift Wasser
mit Tinte. Doch ist es nicht gemeine Tinte, sondern Tinte,
die bereits einen Vergeistigungsprozeß durchgemacht hat. Mit
ihr ist nämlich auf ein Pergamentblatt der Psalm "Miserere
mei Domine"
bis zu den Worten "Domine labia mea aperis"

der böſe Geiſt nicht leiden. Ein anderer Raubvogel wurde
der Armen direkt auf die Bruſt geſetzt, mit Stachelbeeren
wurde ſie beworfen, damit der Böſe daran kleben bleibe. Neben
ihrem Kopfkiſſen lag ein Schwert mit der Schneide nach oben
begraben. Zuletzt, wenn die Nachgeburt immer noch nicht
kommen will, vom Geiſte geſperrt, ſo tritt — nicht der Arzt,
ſondern der Sänger des Stammes ins Zelt, wirft ſich auf
die Leidende und verprügelt ſie gelinde mit ſeinem Stabe.
Dieſe Rolle des „Sängers“ kennt übrigens auch die voigt¬
länder Bäuerin dort: zu ihr kam der Nachtwächter, als die
Geburt ſich hinzog, und ſang ihr ein geiſtliches Lied. Sie
ſelber mußte dazu geweihten Kümmel nehmen, der in der
Johannisnacht um Zwölfe gepflückt war, im ganzen Hauſe
wurde mit Zwiebeln geräuchert und alle Schlöſſer wurden
aufgeſperrt. Die Steiermärkerin daneben hat ſich Heiligen¬
bilder dabei auf die Haut geklebt, ſie hält die getrocknete Knie¬
drüſe des brünſtigen Gemsbocks in der Hand und trägt eine
Natternhaut um den Leib. Die Pfälzerin riecht, während ſie
ſich in Schmerzen windet, an einer im Waſſer entfalteten Roſe
von Jericho.

Hörſt du das wahnſinnige Getrommel und Gepfeife? Es
ſind die Freundinnen der nackten Niam-Niam-Frau in Afrika,
die ſo lange fanatiſch muſizieren, bis die Kreißende in ihrer
Mitte beim Ziel iſt. Der ernſte Mann aber wieder daneben
mit den glühenden Phantaſieaugen des Mittelalters iſt Franz
von Piemont, der Meiſter von Neapel um 1340. Auch er
hat eben eine Wöchnerin in Behandlung. In ihrer linken
Hand muß ſie Magneſia, vermiſcht mit der Aſche von Eſels¬
klauen und Pferdeklauen, halten. Das Getränk aber der armen
lechzenden Kehle iſt nach des Arztes ſtrenger Vorſchrift Waſſer
mit Tinte. Doch iſt es nicht gemeine Tinte, ſondern Tinte,
die bereits einen Vergeiſtigungsprozeß durchgemacht hat. Mit
ihr iſt nämlich auf ein Pergamentblatt der Pſalm „Miserere
mei Domine“
bis zu den Worten „Domine labia mea aperis“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0329" n="315"/>
der bö&#x017F;e Gei&#x017F;t nicht leiden. Ein anderer Raubvogel wurde<lb/>
der Armen direkt auf die Bru&#x017F;t ge&#x017F;etzt, mit Stachelbeeren<lb/>
wurde &#x017F;ie beworfen, damit der Bö&#x017F;e daran kleben bleibe. Neben<lb/>
ihrem Kopfki&#x017F;&#x017F;en lag ein Schwert mit der Schneide nach oben<lb/>
begraben. Zuletzt, wenn die Nachgeburt immer noch nicht<lb/>
kommen will, vom Gei&#x017F;te ge&#x017F;perrt, &#x017F;o tritt &#x2014; nicht der Arzt,<lb/>
&#x017F;ondern der Sänger des Stammes ins Zelt, wirft &#x017F;ich auf<lb/>
die Leidende und verprügelt &#x017F;ie gelinde mit &#x017F;einem Stabe.<lb/>
Die&#x017F;e Rolle des &#x201E;Sängers&#x201C; kennt übrigens auch die voigt¬<lb/>
länder Bäuerin dort: zu ihr kam der Nachtwächter, als die<lb/>
Geburt &#x017F;ich hinzog, und &#x017F;ang ihr ein gei&#x017F;tliches Lied. Sie<lb/>
&#x017F;elber mußte dazu geweihten Kümmel nehmen, der in der<lb/>
Johannisnacht um Zwölfe gepflückt war, im ganzen Hau&#x017F;e<lb/>
wurde mit Zwiebeln geräuchert und alle Schlö&#x017F;&#x017F;er wurden<lb/>
aufge&#x017F;perrt. Die Steiermärkerin daneben hat &#x017F;ich Heiligen¬<lb/>
bilder dabei auf die Haut geklebt, &#x017F;ie hält die getrocknete Knie¬<lb/>
drü&#x017F;e des brün&#x017F;tigen Gemsbocks in der Hand und trägt eine<lb/>
Natternhaut um den Leib. Die Pfälzerin riecht, während &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich in Schmerzen windet, an einer im Wa&#x017F;&#x017F;er entfalteten Ro&#x017F;e<lb/>
von Jericho.</p><lb/>
        <p>Hör&#x017F;t du das wahn&#x017F;innige Getrommel und Gepfeife? Es<lb/>
&#x017F;ind die Freundinnen der nackten Niam-Niam-Frau in Afrika,<lb/>
die &#x017F;o lange fanati&#x017F;ch mu&#x017F;izieren, bis die Kreißende in ihrer<lb/>
Mitte beim Ziel i&#x017F;t. Der ern&#x017F;te Mann aber wieder daneben<lb/>
mit den glühenden Phanta&#x017F;ieaugen des Mittelalters i&#x017F;t Franz<lb/>
von Piemont, der Mei&#x017F;ter von Neapel um 1340. Auch er<lb/>
hat eben eine Wöchnerin in Behandlung. In ihrer linken<lb/>
Hand muß &#x017F;ie Magne&#x017F;ia, vermi&#x017F;cht mit der A&#x017F;che von E&#x017F;els¬<lb/>
klauen und Pferdeklauen, halten. Das Getränk aber der armen<lb/>
lechzenden Kehle i&#x017F;t nach des Arztes &#x017F;trenger Vor&#x017F;chrift Wa&#x017F;&#x017F;er<lb/>
mit Tinte. Doch i&#x017F;t es nicht gemeine Tinte, &#x017F;ondern Tinte,<lb/>
die bereits einen Vergei&#x017F;tigungsprozeß durchgemacht hat. Mit<lb/>
ihr i&#x017F;t nämlich auf ein Pergamentblatt der P&#x017F;alm <hi rendition="#aq">&#x201E;Miserere<lb/>
mei Domine&#x201C;</hi> bis zu den Worten <hi rendition="#aq">&#x201E;Domine labia mea aperis&#x201C;</hi><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315/0329] der böſe Geiſt nicht leiden. Ein anderer Raubvogel wurde der Armen direkt auf die Bruſt geſetzt, mit Stachelbeeren wurde ſie beworfen, damit der Böſe daran kleben bleibe. Neben ihrem Kopfkiſſen lag ein Schwert mit der Schneide nach oben begraben. Zuletzt, wenn die Nachgeburt immer noch nicht kommen will, vom Geiſte geſperrt, ſo tritt — nicht der Arzt, ſondern der Sänger des Stammes ins Zelt, wirft ſich auf die Leidende und verprügelt ſie gelinde mit ſeinem Stabe. Dieſe Rolle des „Sängers“ kennt übrigens auch die voigt¬ länder Bäuerin dort: zu ihr kam der Nachtwächter, als die Geburt ſich hinzog, und ſang ihr ein geiſtliches Lied. Sie ſelber mußte dazu geweihten Kümmel nehmen, der in der Johannisnacht um Zwölfe gepflückt war, im ganzen Hauſe wurde mit Zwiebeln geräuchert und alle Schlöſſer wurden aufgeſperrt. Die Steiermärkerin daneben hat ſich Heiligen¬ bilder dabei auf die Haut geklebt, ſie hält die getrocknete Knie¬ drüſe des brünſtigen Gemsbocks in der Hand und trägt eine Natternhaut um den Leib. Die Pfälzerin riecht, während ſie ſich in Schmerzen windet, an einer im Waſſer entfalteten Roſe von Jericho. Hörſt du das wahnſinnige Getrommel und Gepfeife? Es ſind die Freundinnen der nackten Niam-Niam-Frau in Afrika, die ſo lange fanatiſch muſizieren, bis die Kreißende in ihrer Mitte beim Ziel iſt. Der ernſte Mann aber wieder daneben mit den glühenden Phantaſieaugen des Mittelalters iſt Franz von Piemont, der Meiſter von Neapel um 1340. Auch er hat eben eine Wöchnerin in Behandlung. In ihrer linken Hand muß ſie Magneſia, vermiſcht mit der Aſche von Eſels¬ klauen und Pferdeklauen, halten. Das Getränk aber der armen lechzenden Kehle iſt nach des Arztes ſtrenger Vorſchrift Waſſer mit Tinte. Doch iſt es nicht gemeine Tinte, ſondern Tinte, die bereits einen Vergeiſtigungsprozeß durchgemacht hat. Mit ihr iſt nämlich auf ein Pergamentblatt der Pſalm „Miserere mei Domine“ bis zu den Worten „Domine labia mea aperis“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/329
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/329>, abgerufen am 22.11.2024.