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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Draußen rauscht der Sturm.

Das Licht in der roten Ampel zuckt bisweilen leise auf.
Dann bewegen sich spuckhaft die Schatten an der Wand, als
wollten sie lebendige Wesen werden, vorkriechen, sich mit dem
Doktor Faustus zu verbünden zu dunklem Werk. Die alten
Möbel bekommen glühende Augen und lange Nasen. Aber
die Flamme wird wieder stät und jäh sind die Kobolde fort.
Das stille Gemach liegt wieder da, in der guten Heiterkeit
seiner Bücheraugen, seiner Sternenaugen.

Jede Entwickelung hat auch ihr Gespenst.

Es läuft nach, wie dem Wanderer in der Sonne sein
Schatten. Geht die Sonne der Entwickelung abwärts, so wird
es riesengroß, ein Vorbote der Dunkelheit, die endlich diesen
verfehlten Punkt ganz wieder verschlingen wird. Wenn aber
die Sonne des aufsteigenden Lebens auf den Zenit loswandert,
so schmilzt das Gespenst immer mehr vor ihr dahin, bis im
scheitelrechten Stande endlich das letzte Stäubchen des schwarzen
Doppelgängers geschwunden ist: die Entwickelung hat triumphiert
über ihr Gespenst.

Überall, wo immer du die tausend und tausend Versuchs¬
formen des Lebens anschaust auf dieser Erde, gewahrst du auch
diesen Gespensterschatten. Er lauert hinter jeder noch so schönen
Einzelanpassung.

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Draußen rauſcht der Sturm.

Das Licht in der roten Ampel zuckt bisweilen leiſe auf.
Dann bewegen ſich ſpuckhaft die Schatten an der Wand, als
wollten ſie lebendige Weſen werden, vorkriechen, ſich mit dem
Doktor Fauſtus zu verbünden zu dunklem Werk. Die alten
Möbel bekommen glühende Augen und lange Naſen. Aber
die Flamme wird wieder ſtät und jäh ſind die Kobolde fort.
Das ſtille Gemach liegt wieder da, in der guten Heiterkeit
ſeiner Bücheraugen, ſeiner Sternenaugen.

Jede Entwickelung hat auch ihr Geſpenſt.

Es läuft nach, wie dem Wanderer in der Sonne ſein
Schatten. Geht die Sonne der Entwickelung abwärts, ſo wird
es rieſengroß, ein Vorbote der Dunkelheit, die endlich dieſen
verfehlten Punkt ganz wieder verſchlingen wird. Wenn aber
die Sonne des aufſteigenden Lebens auf den Zenit loswandert,
ſo ſchmilzt das Geſpenſt immer mehr vor ihr dahin, bis im
ſcheitelrechten Stande endlich das letzte Stäubchen des ſchwarzen
Doppelgängers geſchwunden iſt: die Entwickelung hat triumphiert
über ihr Geſpenſt.

Überall, wo immer du die tauſend und tauſend Verſuchs¬
formen des Lebens anſchauſt auf dieſer Erde, gewahrſt du auch
dieſen Geſpenſterſchatten. Er lauert hinter jeder noch ſo ſchönen
Einzelanpaſſung.

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[305/0319] [Abbildung] Draußen rauſcht der Sturm. Das Licht in der roten Ampel zuckt bisweilen leiſe auf. Dann bewegen ſich ſpuckhaft die Schatten an der Wand, als wollten ſie lebendige Weſen werden, vorkriechen, ſich mit dem Doktor Fauſtus zu verbünden zu dunklem Werk. Die alten Möbel bekommen glühende Augen und lange Naſen. Aber die Flamme wird wieder ſtät und jäh ſind die Kobolde fort. Das ſtille Gemach liegt wieder da, in der guten Heiterkeit ſeiner Bücheraugen, ſeiner Sternenaugen. Jede Entwickelung hat auch ihr Geſpenſt. Es läuft nach, wie dem Wanderer in der Sonne ſein Schatten. Geht die Sonne der Entwickelung abwärts, ſo wird es rieſengroß, ein Vorbote der Dunkelheit, die endlich dieſen verfehlten Punkt ganz wieder verſchlingen wird. Wenn aber die Sonne des aufſteigenden Lebens auf den Zenit loswandert, ſo ſchmilzt das Geſpenſt immer mehr vor ihr dahin, bis im ſcheitelrechten Stande endlich das letzte Stäubchen des ſchwarzen Doppelgängers geſchwunden iſt: die Entwickelung hat triumphiert über ihr Geſpenſt. Überall, wo immer du die tauſend und tauſend Verſuchs¬ formen des Lebens anſchauſt auf dieſer Erde, gewahrſt du auch dieſen Geſpenſterſchatten. Er lauert hinter jeder noch ſo ſchönen Einzelanpaſſung. 20

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/319>, abgerufen am 22.11.2024.