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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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nicht noch nach der Geburt Geistesblut beständig weiter
zuführst.

Nun wirfst du wohl ein, gerade das könne aber ja das
Soziale auch. Eine Gemeinschaftserziehung könnte die Kinder
sämtlich lesen lehren und ihnen Goethes Faust zur rechten Stunde
in die Hand geben. Was braucht's da gerade der indivi¬
duellen Eltern!

Und doch behaupte ich, daß auch an dieser Stelle eine
Lücke ist. Der eigentümliche Zauber individueller Impondera¬
bilien, der in die Zeugung hineinarbeitet, waltet beim Menschen
auch noch darüber weit hinaus, wenn Eltern und Kinder bei¬
sammenbleiben. Der Zeugungsakt erschöpft unsere riesenhaft
erweiterte menschliche Individualität in keiner Weise, kann sie
nicht erschöpfen. Erst die Erziehung, mindestens in einer ersten
Reihe von Jahren, kann mit ihren Mitteln der Sprache, mit
ihrem ganzen bewußten Anblick den vollen seelischen Strom
jener Imponderabilien vollständig machen: sie gehört not¬
wendig dazu, die eigentliche "individuelle Aristokratie" (wenn
das mißverständliche Wort erlaubt sein soll) jedesmal in ganzer
Wucht zu begründen. Was wüßte ich, was besäße ich von
meinem Vater, wenn ich bloß durch die Samenzelle mit ihm
verknüpft sein sollte und nicht durch die Jahre, wo mein er¬
wachendes Weltbewußtsein sein schwaches Flämmchen fort und
fort an seiner alten, großen, durch und durch individualisierten
Flamme nährte und steigerte? Diese individuellen Impon¬
derabilien, alle laufend in der gleichen Richtung der Grund¬
anlage, hätte eine soziale Erziehung ohne individuellen Richt¬
punkt niemals geben können, ja sie würde sogar verhängnisvoll
im umgekehrten Sinne gewirkt haben. Dabei ist das Wort
"Erziehung" vielleicht schon zu grob, sieht noch zu sehr nach
der alten Schutzsache für des Lebens Not aus. "Zusammen¬
leben" entspricht viel eher dem feinen Weg des Überströmens
individueller Geisteswerte noch jenseits der Zeugung, -- Zu¬
sammenleben in seinem tiefsten Sinne.

nicht noch nach der Geburt Geiſtesblut beſtändig weiter
zuführſt.

Nun wirfſt du wohl ein, gerade das könne aber ja das
Soziale auch. Eine Gemeinſchaftserziehung könnte die Kinder
ſämtlich leſen lehren und ihnen Goethes Fauſt zur rechten Stunde
in die Hand geben. Was braucht's da gerade der indivi¬
duellen Eltern!

Und doch behaupte ich, daß auch an dieſer Stelle eine
Lücke iſt. Der eigentümliche Zauber individueller Impondera¬
bilien, der in die Zeugung hineinarbeitet, waltet beim Menſchen
auch noch darüber weit hinaus, wenn Eltern und Kinder bei¬
ſammenbleiben. Der Zeugungsakt erſchöpft unſere rieſenhaft
erweiterte menſchliche Individualität in keiner Weiſe, kann ſie
nicht erſchöpfen. Erſt die Erziehung, mindeſtens in einer erſten
Reihe von Jahren, kann mit ihren Mitteln der Sprache, mit
ihrem ganzen bewußten Anblick den vollen ſeeliſchen Strom
jener Imponderabilien vollſtändig machen: ſie gehört not¬
wendig dazu, die eigentliche „individuelle Ariſtokratie“ (wenn
das mißverſtändliche Wort erlaubt ſein ſoll) jedesmal in ganzer
Wucht zu begründen. Was wüßte ich, was beſäße ich von
meinem Vater, wenn ich bloß durch die Samenzelle mit ihm
verknüpft ſein ſollte und nicht durch die Jahre, wo mein er¬
wachendes Weltbewußtſein ſein ſchwaches Flämmchen fort und
fort an ſeiner alten, großen, durch und durch individualiſierten
Flamme nährte und ſteigerte? Dieſe individuellen Impon¬
derabilien, alle laufend in der gleichen Richtung der Grund¬
anlage, hätte eine ſoziale Erziehung ohne individuellen Richt¬
punkt niemals geben können, ja ſie würde ſogar verhängnisvoll
im umgekehrten Sinne gewirkt haben. Dabei iſt das Wort
„Erziehung“ vielleicht ſchon zu grob, ſieht noch zu ſehr nach
der alten Schutzſache für des Lebens Not aus. „Zuſammen¬
leben“ entſpricht viel eher dem feinen Weg des Überſtrömens
individueller Geiſteswerte noch jenſeits der Zeugung, — Zu¬
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[301/0315] nicht noch nach der Geburt Geiſtesblut beſtändig weiter zuführſt. Nun wirfſt du wohl ein, gerade das könne aber ja das Soziale auch. Eine Gemeinſchaftserziehung könnte die Kinder ſämtlich leſen lehren und ihnen Goethes Fauſt zur rechten Stunde in die Hand geben. Was braucht's da gerade der indivi¬ duellen Eltern! Und doch behaupte ich, daß auch an dieſer Stelle eine Lücke iſt. Der eigentümliche Zauber individueller Impondera¬ bilien, der in die Zeugung hineinarbeitet, waltet beim Menſchen auch noch darüber weit hinaus, wenn Eltern und Kinder bei¬ ſammenbleiben. Der Zeugungsakt erſchöpft unſere rieſenhaft erweiterte menſchliche Individualität in keiner Weiſe, kann ſie nicht erſchöpfen. Erſt die Erziehung, mindeſtens in einer erſten Reihe von Jahren, kann mit ihren Mitteln der Sprache, mit ihrem ganzen bewußten Anblick den vollen ſeeliſchen Strom jener Imponderabilien vollſtändig machen: ſie gehört not¬ wendig dazu, die eigentliche „individuelle Ariſtokratie“ (wenn das mißverſtändliche Wort erlaubt ſein ſoll) jedesmal in ganzer Wucht zu begründen. Was wüßte ich, was beſäße ich von meinem Vater, wenn ich bloß durch die Samenzelle mit ihm verknüpft ſein ſollte und nicht durch die Jahre, wo mein er¬ wachendes Weltbewußtſein ſein ſchwaches Flämmchen fort und fort an ſeiner alten, großen, durch und durch individualiſierten Flamme nährte und ſteigerte? Dieſe individuellen Impon¬ derabilien, alle laufend in der gleichen Richtung der Grund¬ anlage, hätte eine ſoziale Erziehung ohne individuellen Richt¬ punkt niemals geben können, ja ſie würde ſogar verhängnisvoll im umgekehrten Sinne gewirkt haben. Dabei iſt das Wort „Erziehung“ vielleicht ſchon zu grob, ſieht noch zu ſehr nach der alten Schutzſache für des Lebens Not aus. „Zuſammen¬ leben“ entſpricht viel eher dem feinen Weg des Überſtrömens individueller Geiſteswerte noch jenſeits der Zeugung, — Zu¬ ſammenleben in ſeinem tiefſten Sinne.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/315>, abgerufen am 22.11.2024.