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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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tutionslebens von heute, die uns ohne weiteres in den Begriff des
Unmoralischen mit eingehen, ja ihn wohl am stärksten vordrängen:
die individuelle Verrohung und geistige Verwahrlosung der Mädels,
die alle Degenerations- und Anachronismuserscheinungen unserer
Kultur in scheußlichster Fratze zu vereinigen pflegt, das Zuhälter¬
wesen und anderes sind auch nicht Grund der Moralverachtung,
sondern eine Folge dieser Verachtung, wie sie lange Jahr¬
hunderte geübt worden. Sie sind die Giftblüte eines fort¬
gesetzten Lebens in der öffentlichen Verachtung, in ihnen steckt
die furchtbare menschliche Tragödie des Prostitutionswesens. Es
berührt das ein Kapitel, wo jenes oben erwähnte Martyrium
der Unlogik den schon feiner organisierten Geist aufs schmerz¬
hafteste immer wieder verletzt. Jeder Verbrecher ist der Mär¬
tyrer seiner Unlogik. Auch sein Kampf hat einen tiefsten Sinn:
den Sinn des Adabsurdumführens eines falschen Prinzips.
Aber es ist doch individuell stets eine Tragödie, gerade ein
solches negatives Fortschrittsmoment durchfechten und mit seinem
Kopf zahlen zu müssen. Mit einer Grausamkeit ohne Erbarmen
hat die Kultur auch die Prostituierte gefoltert, sie zur Wilden
und zur Verbrecherin hinabgestoßen. Die Folgen sind vor aller
Welt Augen, aber als Folgen. Die Moral selbst ist älter als
sie und keineswegs erst ihr Produkt. Im Urbilde der Prosti¬
tuierten liegt an sich noch keineswegs, daß sie halb idiotisch,
besoffen, roh und die Genossin eines Banditen sei, dem sie
sich in der Not ihres rechtlosen Daseins angeschlossen hat.
Aber es liegt schon in ihm, daß sie ein unlogisches Prinzip
vertritt. Ein Prinzip, das das Liebesleben der Menschheit
innerlich auflöst. Und das hat der moralisch bildende Instinkt
allerdings von früh an erfaßt.

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Aber lösen wir die Prostituierte wieder aus unserm Bilde.
Laß die arme sterile Lustameise mit ihrem verpfuschten Lauf

tutionslebens von heute, die uns ohne weiteres in den Begriff des
Unmoraliſchen mit eingehen, ja ihn wohl am ſtärkſten vordrängen:
die individuelle Verrohung und geiſtige Verwahrloſung der Mädels,
die alle Degenerations- und Anachronismuserſcheinungen unſerer
Kultur in ſcheußlichſter Fratze zu vereinigen pflegt, das Zuhälter¬
weſen und anderes ſind auch nicht Grund der Moralverachtung,
ſondern eine Folge dieſer Verachtung, wie ſie lange Jahr¬
hunderte geübt worden. Sie ſind die Giftblüte eines fort¬
geſetzten Lebens in der öffentlichen Verachtung, in ihnen ſteckt
die furchtbare menſchliche Tragödie des Proſtitutionsweſens. Es
berührt das ein Kapitel, wo jenes oben erwähnte Martyrium
der Unlogik den ſchon feiner organiſierten Geiſt aufs ſchmerz¬
hafteſte immer wieder verletzt. Jeder Verbrecher iſt der Mär¬
tyrer ſeiner Unlogik. Auch ſein Kampf hat einen tiefſten Sinn:
den Sinn des Adabſurdumführens eines falſchen Prinzips.
Aber es iſt doch individuell ſtets eine Tragödie, gerade ein
ſolches negatives Fortſchrittsmoment durchfechten und mit ſeinem
Kopf zahlen zu müſſen. Mit einer Grauſamkeit ohne Erbarmen
hat die Kultur auch die Proſtituierte gefoltert, ſie zur Wilden
und zur Verbrecherin hinabgeſtoßen. Die Folgen ſind vor aller
Welt Augen, aber als Folgen. Die Moral ſelbſt iſt älter als
ſie und keineswegs erſt ihr Produkt. Im Urbilde der Proſti¬
tuierten liegt an ſich noch keineswegs, daß ſie halb idiotiſch,
beſoffen, roh und die Genoſſin eines Banditen ſei, dem ſie
ſich in der Not ihres rechtloſen Daſeins angeſchloſſen hat.
Aber es liegt ſchon in ihm, daß ſie ein unlogiſches Prinzip
vertritt. Ein Prinzip, das das Liebesleben der Menſchheit
innerlich auflöſt. Und das hat der moraliſch bildende Inſtinkt
allerdings von früh an erfaßt.

[Abbildung]

Aber löſen wir die Proſtituierte wieder aus unſerm Bilde.
Laß die arme ſterile Luſtameiſe mit ihrem verpfuſchten Lauf

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[264/0278] tutionslebens von heute, die uns ohne weiteres in den Begriff des Unmoraliſchen mit eingehen, ja ihn wohl am ſtärkſten vordrängen: die individuelle Verrohung und geiſtige Verwahrloſung der Mädels, die alle Degenerations- und Anachronismuserſcheinungen unſerer Kultur in ſcheußlichſter Fratze zu vereinigen pflegt, das Zuhälter¬ weſen und anderes ſind auch nicht Grund der Moralverachtung, ſondern eine Folge dieſer Verachtung, wie ſie lange Jahr¬ hunderte geübt worden. Sie ſind die Giftblüte eines fort¬ geſetzten Lebens in der öffentlichen Verachtung, in ihnen ſteckt die furchtbare menſchliche Tragödie des Proſtitutionsweſens. Es berührt das ein Kapitel, wo jenes oben erwähnte Martyrium der Unlogik den ſchon feiner organiſierten Geiſt aufs ſchmerz¬ hafteſte immer wieder verletzt. Jeder Verbrecher iſt der Mär¬ tyrer ſeiner Unlogik. Auch ſein Kampf hat einen tiefſten Sinn: den Sinn des Adabſurdumführens eines falſchen Prinzips. Aber es iſt doch individuell ſtets eine Tragödie, gerade ein ſolches negatives Fortſchrittsmoment durchfechten und mit ſeinem Kopf zahlen zu müſſen. Mit einer Grauſamkeit ohne Erbarmen hat die Kultur auch die Proſtituierte gefoltert, ſie zur Wilden und zur Verbrecherin hinabgeſtoßen. Die Folgen ſind vor aller Welt Augen, aber als Folgen. Die Moral ſelbſt iſt älter als ſie und keineswegs erſt ihr Produkt. Im Urbilde der Proſti¬ tuierten liegt an ſich noch keineswegs, daß ſie halb idiotiſch, beſoffen, roh und die Genoſſin eines Banditen ſei, dem ſie ſich in der Not ihres rechtloſen Daſeins angeſchloſſen hat. Aber es liegt ſchon in ihm, daß ſie ein unlogiſches Prinzip vertritt. Ein Prinzip, das das Liebesleben der Menſchheit innerlich auflöſt. Und das hat der moraliſch bildende Inſtinkt allerdings von früh an erfaßt. [Abbildung] Aber löſen wir die Proſtituierte wieder aus unſerm Bilde. Laß die arme ſterile Luſtameiſe mit ihrem verpfuſchten Lauf

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/278>, abgerufen am 25.11.2024.