alten Sage gestaltet, noch der Kampf hinein zwischen "Vater¬ recht" und "Mutterrecht": in die Tragödie des Orestes in Äschylus "Eumeniden".
Klytemnästra, des Agamemnon untreue Gattin, hat Mit¬ schuld am Morde ihres Gatten. Orestes aber, der Sohn der beiden, hat die eigene Mutter erschlagen, um den Vater zu rächen. Ist das "Auge um Auge" im Sinne alter Gerechtigkeit?
Die Erinnyen sagen Nein!
Sie verfolgen den Orestes wegen eines furchtbaren Über¬ schusses in seinem Muttermord. Die Frau war dem Manne nicht stammverwandt, trotz der Ehe. Der Sohn aber steht zur Mutter im Verhältnis der absoluten Blutsverwandtschaft. Sein Mord war also unendlich mehr als jener: er schnitt ins eigene Blut.
Wir heute würden ganz anders urteilen. Uns ständen Vater und Mutter zum Sohne völlig gleich. Die Erinnyen des Dramas aber urteilen vom Standpunkt des Totemismus mit Mutterrecht!
Hochinteressant aber ist nun wieder, daß sie selber in der Dichtung des Äschylus nicht Recht behalten. Apollo und Athene legen sich ins Mittel zu Gunsten des Orestes. Die Mutter sei keineswegs mehr als der Vater! Und der Schluß ist, daß Orestes wirklich entsühnt wird: das "Vaterrecht" siegt. Es ist die neue Zeit, die Kultur, der Fortschritt im großem Völker¬ märchen selber, die ihren Stimmstein in die Wage werfen.
Willst du das Mutterrecht in seinen letzten Kulturschlupf¬ winkel noch bei uns heute verfolgen, so findest du es noch in dem konventionellen Bilde oder Zerrbilde der "Schwieger¬ mutter", die den Mann als Eindringling in ihre Familie auf¬ faßt und sich auch in die Ehe der Tochter hinein ein engeres Verhältnis zu dieser Tochter und ihren Kindern anmaßen möchte, als der Ehemann selber besitzen soll. Es ist die äußerste, kleine, schwache, mehr glucksende, als donnernde Welle des Totemismus mit Mutterrecht, die hier an unseren sonst überall veränderten Kulturstrand brandet.
alten Sage geſtaltet, noch der Kampf hinein zwiſchen „Vater¬ recht“ und „Mutterrecht“: in die Tragödie des Oreſtes in Äſchylus „Eumeniden“.
Klytemnäſtra, des Agamemnon untreue Gattin, hat Mit¬ ſchuld am Morde ihres Gatten. Oreſtes aber, der Sohn der beiden, hat die eigene Mutter erſchlagen, um den Vater zu rächen. Iſt das „Auge um Auge“ im Sinne alter Gerechtigkeit?
Die Erinnyen ſagen Nein!
Sie verfolgen den Oreſtes wegen eines furchtbaren Über¬ ſchuſſes in ſeinem Muttermord. Die Frau war dem Manne nicht ſtammverwandt, trotz der Ehe. Der Sohn aber ſteht zur Mutter im Verhältnis der abſoluten Blutsverwandtſchaft. Sein Mord war alſo unendlich mehr als jener: er ſchnitt ins eigene Blut.
Wir heute würden ganz anders urteilen. Uns ſtänden Vater und Mutter zum Sohne völlig gleich. Die Erinnyen des Dramas aber urteilen vom Standpunkt des Totemismus mit Mutterrecht!
Hochintereſſant aber iſt nun wieder, daß ſie ſelber in der Dichtung des Äſchylus nicht Recht behalten. Apollo und Athene legen ſich ins Mittel zu Gunſten des Oreſtes. Die Mutter ſei keineswegs mehr als der Vater! Und der Schluß iſt, daß Oreſtes wirklich entſühnt wird: das „Vaterrecht“ ſiegt. Es iſt die neue Zeit, die Kultur, der Fortſchritt im großem Völker¬ märchen ſelber, die ihren Stimmſtein in die Wage werfen.
Willſt du das Mutterrecht in ſeinen letzten Kulturſchlupf¬ winkel noch bei uns heute verfolgen, ſo findeſt du es noch in dem konventionellen Bilde oder Zerrbilde der „Schwieger¬ mutter“, die den Mann als Eindringling in ihre Familie auf¬ faßt und ſich auch in die Ehe der Tochter hinein ein engeres Verhältnis zu dieſer Tochter und ihren Kindern anmaßen möchte, als der Ehemann ſelber beſitzen ſoll. Es iſt die äußerſte, kleine, ſchwache, mehr gluckſende, als donnernde Welle des Totemismus mit Mutterrecht, die hier an unſeren ſonſt überall veränderten Kulturſtrand brandet.
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recht“ und „Mutterrecht“: in die Tragödie des Oreſtes in
Äſchylus „Eumeniden“.
Klytemnäſtra, des Agamemnon untreue Gattin, hat Mit¬
ſchuld am Morde ihres Gatten. Oreſtes aber, der Sohn der
beiden, hat die eigene Mutter erſchlagen, um den Vater zu
rächen. Iſt das „Auge um Auge“ im Sinne alter Gerechtigkeit?
Die Erinnyen ſagen Nein!
Sie verfolgen den Oreſtes wegen eines furchtbaren Über¬
ſchuſſes in ſeinem Muttermord. Die Frau war dem Manne
nicht ſtammverwandt, trotz der Ehe. Der Sohn aber ſteht zur
Mutter im Verhältnis der abſoluten Blutsverwandtſchaft. Sein
Mord war alſo unendlich mehr als jener: er ſchnitt ins eigene Blut.
Wir heute würden ganz anders urteilen. Uns ſtänden
Vater und Mutter zum Sohne völlig gleich. Die Erinnyen
des Dramas aber urteilen vom Standpunkt des Totemismus
mit Mutterrecht!
Hochintereſſant aber iſt nun wieder, daß ſie ſelber in der
Dichtung des Äſchylus nicht Recht behalten. Apollo und Athene
legen ſich ins Mittel zu Gunſten des Oreſtes. Die Mutter
ſei keineswegs mehr als der Vater! Und der Schluß iſt, daß
Oreſtes wirklich entſühnt wird: das „Vaterrecht“ ſiegt. Es
iſt die neue Zeit, die Kultur, der Fortſchritt im großem Völker¬
märchen ſelber, die ihren Stimmſtein in die Wage werfen.
Willſt du das Mutterrecht in ſeinen letzten Kulturſchlupf¬
winkel noch bei uns heute verfolgen, ſo findeſt du es noch
in dem konventionellen Bilde oder Zerrbilde der „Schwieger¬
mutter“, die den Mann als Eindringling in ihre Familie auf¬
faßt und ſich auch in die Ehe der Tochter hinein ein engeres
Verhältnis zu dieſer Tochter und ihren Kindern anmaßen
möchte, als der Ehemann ſelber beſitzen ſoll. Es iſt die äußerſte,
kleine, ſchwache, mehr gluckſende, als donnernde Welle des
Totemismus mit Mutterrecht, die hier an unſeren ſonſt überall
veränderten Kulturſtrand brandet.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/236>, abgerufen am 23.02.2025.
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