Nun laß das visionäre Höhlenbild dunkler Urzeit und geh in eine uns weit näher noch lächelnde Sonne hinaus. Träume dich in die grüne Prärie Nordamerikas, in eine Lederstrumpf-Staffage: zu den Irokesen.
Bei diesen Indianern hast oder besser gesagt, hattest du noch in unsere Zeit ragend, ein prächtig konserviertes Beispiel für jene Zerspaltung des Gesamtvolkes in eine Menge einzelner Sippen.
Diese Sippen stehen zwar nicht mehr wie die Einzel¬ maulwürfe auf "Freß dich, freß dich wieder" miteinander, -- dafür ist man schon zu hoch im Sozialen überhaupt und im Menschlichen. Aber sie bilden trotzdem gewisse kleine Völker noch immer im Volk. Jede Sippe wählt in sich ihre Häupt¬ linge, begräbt und beerbt in sich ihre Mitglieder und hält zur Blutrache zusammen. Sie hat ihr besonderes ganz individuelles Wappen oder Symbol, auf das die Sippenleute sozusagen ver¬ eidigt sind, ihr "Totem", wie sie das nennen: irgend ein Tier etwa, einen Wolf oder Bär oder Büffel; überall wird das Bild dieses Wappenungeheuers angebracht, sein Name ist das Freimaurerzeichen, in dem man sich erkennt.
Hinsichtlich der Ehe aber hast du da ein festes Gesetz. Jede Sippe unter dem Schutz ihres heiligen Totem besteht aus vielen Ehen. Alle diese Ehen seit grauer Zeit sind aber auf folgende merkwürdige Weise zu stande gekommen.
Es heiratet niemals ein Jüngling oder ein Mädchen in die eigene Sippe, in den heiligen Kreis des eigenen Totem hinein.
Niemals nach altgeheiligtem Brauch, der feste "Moral" geworden ist, kann ein Wolfsirokese, der den Wolf als Stammes¬ wappen führt, eine Wolfsirokesin heiraten, niemals ein Büffel¬ mädchen einen Büffeljüngling. Heiraten dürfen unter allen Umständen nur geschlossen werden zwischen Angehörigen zweier verschiedener Sippen. Also Bär darf Wolf oder Büffel und umgekehrt ehelichen, so viel er will, -- in diesem einen einzigen
Nun laß das viſionäre Höhlenbild dunkler Urzeit und geh in eine uns weit näher noch lächelnde Sonne hinaus. Träume dich in die grüne Prärie Nordamerikas, in eine Lederſtrumpf-Staffage: zu den Irokeſen.
Bei dieſen Indianern haſt oder beſſer geſagt, hatteſt du noch in unſere Zeit ragend, ein prächtig konſerviertes Beiſpiel für jene Zerſpaltung des Geſamtvolkes in eine Menge einzelner Sippen.
Dieſe Sippen ſtehen zwar nicht mehr wie die Einzel¬ maulwürfe auf „Freß dich, freß dich wieder“ miteinander, — dafür iſt man ſchon zu hoch im Sozialen überhaupt und im Menſchlichen. Aber ſie bilden trotzdem gewiſſe kleine Völker noch immer im Volk. Jede Sippe wählt in ſich ihre Häupt¬ linge, begräbt und beerbt in ſich ihre Mitglieder und hält zur Blutrache zuſammen. Sie hat ihr beſonderes ganz individuelles Wappen oder Symbol, auf das die Sippenleute ſozuſagen ver¬ eidigt ſind, ihr „Totem“, wie ſie das nennen: irgend ein Tier etwa, einen Wolf oder Bär oder Büffel; überall wird das Bild dieſes Wappenungeheuers angebracht, ſein Name iſt das Freimaurerzeichen, in dem man ſich erkennt.
Hinſichtlich der Ehe aber haſt du da ein feſtes Geſetz. Jede Sippe unter dem Schutz ihres heiligen Totem beſteht aus vielen Ehen. Alle dieſe Ehen ſeit grauer Zeit ſind aber auf folgende merkwürdige Weiſe zu ſtande gekommen.
Es heiratet niemals ein Jüngling oder ein Mädchen in die eigene Sippe, in den heiligen Kreis des eigenen Totem hinein.
Niemals nach altgeheiligtem Brauch, der feſte „Moral“ geworden iſt, kann ein Wolfsirokeſe, der den Wolf als Stammes¬ wappen führt, eine Wolfsirokeſin heiraten, niemals ein Büffel¬ mädchen einen Büffeljüngling. Heiraten dürfen unter allen Umſtänden nur geſchloſſen werden zwiſchen Angehörigen zweier verſchiedener Sippen. Alſo Bär darf Wolf oder Büffel und umgekehrt ehelichen, ſo viel er will, — in dieſem einen einzigen
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Nun laß das viſionäre Höhlenbild dunkler Urzeit und
geh in eine uns weit näher noch lächelnde Sonne hinaus.
Träume dich in die grüne Prärie Nordamerikas, in eine
Lederſtrumpf-Staffage: zu den Irokeſen.
Bei dieſen Indianern haſt oder beſſer geſagt, hatteſt du
noch in unſere Zeit ragend, ein prächtig konſerviertes Beiſpiel
für jene Zerſpaltung des Geſamtvolkes in eine Menge einzelner
Sippen.
Dieſe Sippen ſtehen zwar nicht mehr wie die Einzel¬
maulwürfe auf „Freß dich, freß dich wieder“ miteinander, —
dafür iſt man ſchon zu hoch im Sozialen überhaupt und im
Menſchlichen. Aber ſie bilden trotzdem gewiſſe kleine Völker
noch immer im Volk. Jede Sippe wählt in ſich ihre Häupt¬
linge, begräbt und beerbt in ſich ihre Mitglieder und hält zur
Blutrache zuſammen. Sie hat ihr beſonderes ganz individuelles
Wappen oder Symbol, auf das die Sippenleute ſozuſagen ver¬
eidigt ſind, ihr „Totem“, wie ſie das nennen: irgend ein Tier
etwa, einen Wolf oder Bär oder Büffel; überall wird das
Bild dieſes Wappenungeheuers angebracht, ſein Name iſt das
Freimaurerzeichen, in dem man ſich erkennt.
Hinſichtlich der Ehe aber haſt du da ein feſtes Geſetz.
Jede Sippe unter dem Schutz ihres heiligen Totem beſteht
aus vielen Ehen. Alle dieſe Ehen ſeit grauer Zeit ſind aber
auf folgende merkwürdige Weiſe zu ſtande gekommen.
Es heiratet niemals ein Jüngling oder ein Mädchen in
die eigene Sippe, in den heiligen Kreis des eigenen Totem
hinein.
Niemals nach altgeheiligtem Brauch, der feſte „Moral“
geworden iſt, kann ein Wolfsirokeſe, der den Wolf als Stammes¬
wappen führt, eine Wolfsirokeſin heiraten, niemals ein Büffel¬
mädchen einen Büffeljüngling. Heiraten dürfen unter allen
Umſtänden nur geſchloſſen werden zwiſchen Angehörigen zweier
verſchiedener Sippen. Alſo Bär darf Wolf oder Büffel und
umgekehrt ehelichen, ſo viel er will, — in dieſem einen einzigen
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/232>, abgerufen am 23.02.2025.
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