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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Arme den Körper in der verrenkten Stellung des Gibbon
balancieren müssen, der Schädel prachtvoll gewölbt, -- wie
beim Gibbon und Orang hinten kein sichtbarer Schwanz, --
aber das Fell nahezu ganz nackt. Mann und Weib streng
geschieden nach dem Gesetz aller höheren Tierentwickelung, mit
dem Geschlechtsapparat der obersten Säugetierstufe. Aber
nackt sie beide. Schemenhaft fällt ihr Umriß als Schatten
auf die Kalkwand: scharf stellt sich die rein herausgearbeitete
Körpersilhouette vom Halse an abwärts dar ohne die schwankende
Umrißlinie des deckenden Pelzes oder Federkleides wie bei dem
Bär oder der Höhlentaube. Wenn er sich an der Taube
mißt, dieser Mensch, so steht er wie gerupft da.

Der nackte Mensch.

Ein Zaubersesam des Märchens ist dieses Wörtchen "nackt".

Je nach dem Geistesklang, den ich ihm gebe, reißt es
verschiedene Thore auf. Ich spreche es aus: und die Association
der Ideen stellt sich ein: kalt. Unbekleidet, ausgezogen im
nordischen Klima, -- frierend. Ich gebe ihm einen anderen
Sinn -- und es heißt Kunst. Der nackte David des Michel¬
angelo, der nackte Hermes des Praxiteles steigen auf. Aber
eine dritte Bedeutung will alle anderen verschlingen. Ein
heißer Atem haucht von dem Worte her. Für unsere Kultur¬
welt ist es ein erotisches Wort, in seiner Allgemeinheit und
doch plastischen Sinnfälligkeit das stärkste von allen.

In weit getrennte Linien scheint das auseinander zu
laufen. Und doch ist der schlichte Associationsapparat unseres
Gehirns dabei eine wunderbar zuverlässige Maschine.

Einst, in seltsamen Tagen des Menschheitsdenkens, als
die mittelalterliche Scholastik im Anschluß an Aristoteles alle
Welträtsel lösen zu können glaubte in ein kleines Rechen¬
exempel hinein, hat der Spanier Raimundus Lullus eine
philosophische "Gedankenmaschine" als äußerlichen Apparat
konstruiert. Die Idee war eigentlich köstlich. Man setzte eine
Frage ein und ließ die Räder schnurren. Wie im Kaleidoskop

Arme den Körper in der verrenkten Stellung des Gibbon
balancieren müſſen, der Schädel prachtvoll gewölbt, — wie
beim Gibbon und Orang hinten kein ſichtbarer Schwanz, —
aber das Fell nahezu ganz nackt. Mann und Weib ſtreng
geſchieden nach dem Geſetz aller höheren Tierentwickelung, mit
dem Geſchlechtsapparat der oberſten Säugetierſtufe. Aber
nackt ſie beide. Schemenhaft fällt ihr Umriß als Schatten
auf die Kalkwand: ſcharf ſtellt ſich die rein herausgearbeitete
Körperſilhouette vom Halſe an abwärts dar ohne die ſchwankende
Umrißlinie des deckenden Pelzes oder Federkleides wie bei dem
Bär oder der Höhlentaube. Wenn er ſich an der Taube
mißt, dieſer Menſch, ſo ſteht er wie gerupft da.

Der nackte Menſch.

Ein Zauberſeſam des Märchens iſt dieſes Wörtchen „nackt“.

Je nach dem Geiſtesklang, den ich ihm gebe, reißt es
verſchiedene Thore auf. Ich ſpreche es aus: und die Aſſociation
der Ideen ſtellt ſich ein: kalt. Unbekleidet, ausgezogen im
nordiſchen Klima, — frierend. Ich gebe ihm einen anderen
Sinn — und es heißt Kunſt. Der nackte David des Michel¬
angelo, der nackte Hermes des Praxiteles ſteigen auf. Aber
eine dritte Bedeutung will alle anderen verſchlingen. Ein
heißer Atem haucht von dem Worte her. Für unſere Kultur¬
welt iſt es ein erotiſches Wort, in ſeiner Allgemeinheit und
doch plaſtiſchen Sinnfälligkeit das ſtärkſte von allen.

In weit getrennte Linien ſcheint das auseinander zu
laufen. Und doch iſt der ſchlichte Aſſociationsapparat unſeres
Gehirns dabei eine wunderbar zuverläſſige Maſchine.

Einſt, in ſeltſamen Tagen des Menſchheitsdenkens, als
die mittelalterliche Scholaſtik im Anſchluß an Ariſtoteles alle
Welträtſel löſen zu können glaubte in ein kleines Rechen¬
exempel hinein, hat der Spanier Raimundus Lullus eine
philoſophiſche „Gedankenmaſchine“ als äußerlichen Apparat
konſtruiert. Die Idee war eigentlich köſtlich. Man ſetzte eine
Frage ein und ließ die Räder ſchnurren. Wie im Kaleidoſkop

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[7/0021] Arme den Körper in der verrenkten Stellung des Gibbon balancieren müſſen, der Schädel prachtvoll gewölbt, — wie beim Gibbon und Orang hinten kein ſichtbarer Schwanz, — aber das Fell nahezu ganz nackt. Mann und Weib ſtreng geſchieden nach dem Geſetz aller höheren Tierentwickelung, mit dem Geſchlechtsapparat der oberſten Säugetierſtufe. Aber nackt ſie beide. Schemenhaft fällt ihr Umriß als Schatten auf die Kalkwand: ſcharf ſtellt ſich die rein herausgearbeitete Körperſilhouette vom Halſe an abwärts dar ohne die ſchwankende Umrißlinie des deckenden Pelzes oder Federkleides wie bei dem Bär oder der Höhlentaube. Wenn er ſich an der Taube mißt, dieſer Menſch, ſo ſteht er wie gerupft da. Der nackte Menſch. Ein Zauberſeſam des Märchens iſt dieſes Wörtchen „nackt“. Je nach dem Geiſtesklang, den ich ihm gebe, reißt es verſchiedene Thore auf. Ich ſpreche es aus: und die Aſſociation der Ideen ſtellt ſich ein: kalt. Unbekleidet, ausgezogen im nordiſchen Klima, — frierend. Ich gebe ihm einen anderen Sinn — und es heißt Kunſt. Der nackte David des Michel¬ angelo, der nackte Hermes des Praxiteles ſteigen auf. Aber eine dritte Bedeutung will alle anderen verſchlingen. Ein heißer Atem haucht von dem Worte her. Für unſere Kultur¬ welt iſt es ein erotiſches Wort, in ſeiner Allgemeinheit und doch plaſtiſchen Sinnfälligkeit das ſtärkſte von allen. In weit getrennte Linien ſcheint das auseinander zu laufen. Und doch iſt der ſchlichte Aſſociationsapparat unſeres Gehirns dabei eine wunderbar zuverläſſige Maſchine. Einſt, in ſeltſamen Tagen des Menſchheitsdenkens, als die mittelalterliche Scholaſtik im Anſchluß an Ariſtoteles alle Welträtſel löſen zu können glaubte in ein kleines Rechen¬ exempel hinein, hat der Spanier Raimundus Lullus eine philoſophiſche „Gedankenmaſchine“ als äußerlichen Apparat konſtruiert. Die Idee war eigentlich köſtlich. Man ſetzte eine Frage ein und ließ die Räder ſchnurren. Wie im Kaleidoſkop

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/21>, abgerufen am 24.11.2024.