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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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und dort erscheint der ehemalige Seeboden als freies Hügel¬
land. Seine Kalklager sind jetzt festes Kalkgestein, um das
der Wind rauscht und die Himmelstropfen sprühen. Das
Regenwasser sammelt sich auf der freien Fläche. Bei den Be¬
wegungen der Erdrinde ist ein Spalt eingerissen in dem ur¬
alten Korallengrund. Da schießen jetzt die Tröpfchen des
Himmelsquells nach. Und mit den Wasserperlchen kommt
Kohlensäure. Sie löst den Kalk der Spaltenwand chemisch auf,
erweitert so die Öffnung, schafft dem Wasser freiere Bahn.
Die Jahrhunderte ziehen und aus dem Spalt wird eine Höhle.
Der Quell, der sie gefressen, durchrauscht sie, nachdem er sich
tief am Kalkhang des Hügels eine Pforte gebrochen, die ihn
wieder ans Sonnenlicht, in den grünen Wald entläßt. Mystisches
Dunkel herrscht da drinnen. Nur die Tropfen fallen von der
Wölbung, und indem jeder etwas gelösten Kalk mitführt und
fallend absetzt, wachsen von der Decke dem Boden und vom
Boden der Decke zu gespenstische Zacken, die sich zu suchen
scheinen, Stalagmiten und Stalaktiten, ein phantastischer Kalk¬
wald in der Finsternis. Der Bär und die Hyäne entdecken
eines Tages den Eingang und machen es sich gemütlich im
Höhlenbauch. In ungezählten schwärzlichen Ballen hängen sich
dunkelliebende Fledermäuse wie Früchte an die Stalaktiten-
Vegetation.

Aber die Stunde ist erfüllt -- und es kommt das Wesen
der Erfüllung: der Mensch. Roter Herdschein erhellt den
Schacht, daß die Fledermäuse entsetzt herabtaumeln, und vor
dem brennenden Ast flüchtet quäkend die Hyäne. Ein Stein¬
pfeil durchs Auge hat den Bären erlegt, sein Pelz liegt auf
der Kalksohle als erste Divandecke. Auf die Wand sind mit
kindlicher Kunst groteske Tierbilder gekratzt: Mammute mit
krummen Stoßzähnen, Steinbock und Wildpferd. Und um das
schwehlende Feuer bewegen sich nackte Gestalten, -- Gestalten
eines Wesens vom Säugetiertypus, mit den Händen des Affen,
aber zugleich mit Gehfüßen, aufrecht schreitend, ohne daß die

und dort erſcheint der ehemalige Seeboden als freies Hügel¬
land. Seine Kalklager ſind jetzt feſtes Kalkgeſtein, um das
der Wind rauſcht und die Himmelstropfen ſprühen. Das
Regenwaſſer ſammelt ſich auf der freien Fläche. Bei den Be¬
wegungen der Erdrinde iſt ein Spalt eingeriſſen in dem ur¬
alten Korallengrund. Da ſchießen jetzt die Tröpfchen des
Himmelsquells nach. Und mit den Waſſerperlchen kommt
Kohlenſäure. Sie löſt den Kalk der Spaltenwand chemiſch auf,
erweitert ſo die Öffnung, ſchafft dem Waſſer freiere Bahn.
Die Jahrhunderte ziehen und aus dem Spalt wird eine Höhle.
Der Quell, der ſie gefreſſen, durchrauſcht ſie, nachdem er ſich
tief am Kalkhang des Hügels eine Pforte gebrochen, die ihn
wieder ans Sonnenlicht, in den grünen Wald entläßt. Myſtiſches
Dunkel herrſcht da drinnen. Nur die Tropfen fallen von der
Wölbung, und indem jeder etwas gelöſten Kalk mitführt und
fallend abſetzt, wachſen von der Decke dem Boden und vom
Boden der Decke zu geſpenſtiſche Zacken, die ſich zu ſuchen
ſcheinen, Stalagmiten und Stalaktiten, ein phantaſtiſcher Kalk¬
wald in der Finſternis. Der Bär und die Hyäne entdecken
eines Tages den Eingang und machen es ſich gemütlich im
Höhlenbauch. In ungezählten ſchwärzlichen Ballen hängen ſich
dunkelliebende Fledermäuſe wie Früchte an die Stalaktiten-
Vegetation.

Aber die Stunde iſt erfüllt — und es kommt das Weſen
der Erfüllung: der Menſch. Roter Herdſchein erhellt den
Schacht, daß die Fledermäuſe entſetzt herabtaumeln, und vor
dem brennenden Aſt flüchtet quäkend die Hyäne. Ein Stein¬
pfeil durchs Auge hat den Bären erlegt, ſein Pelz liegt auf
der Kalkſohle als erſte Divandecke. Auf die Wand ſind mit
kindlicher Kunſt groteske Tierbilder gekratzt: Mammute mit
krummen Stoßzähnen, Steinbock und Wildpferd. Und um das
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[6/0020] und dort erſcheint der ehemalige Seeboden als freies Hügel¬ land. Seine Kalklager ſind jetzt feſtes Kalkgeſtein, um das der Wind rauſcht und die Himmelstropfen ſprühen. Das Regenwaſſer ſammelt ſich auf der freien Fläche. Bei den Be¬ wegungen der Erdrinde iſt ein Spalt eingeriſſen in dem ur¬ alten Korallengrund. Da ſchießen jetzt die Tröpfchen des Himmelsquells nach. Und mit den Waſſerperlchen kommt Kohlenſäure. Sie löſt den Kalk der Spaltenwand chemiſch auf, erweitert ſo die Öffnung, ſchafft dem Waſſer freiere Bahn. Die Jahrhunderte ziehen und aus dem Spalt wird eine Höhle. Der Quell, der ſie gefreſſen, durchrauſcht ſie, nachdem er ſich tief am Kalkhang des Hügels eine Pforte gebrochen, die ihn wieder ans Sonnenlicht, in den grünen Wald entläßt. Myſtiſches Dunkel herrſcht da drinnen. Nur die Tropfen fallen von der Wölbung, und indem jeder etwas gelöſten Kalk mitführt und fallend abſetzt, wachſen von der Decke dem Boden und vom Boden der Decke zu geſpenſtiſche Zacken, die ſich zu ſuchen ſcheinen, Stalagmiten und Stalaktiten, ein phantaſtiſcher Kalk¬ wald in der Finſternis. Der Bär und die Hyäne entdecken eines Tages den Eingang und machen es ſich gemütlich im Höhlenbauch. In ungezählten ſchwärzlichen Ballen hängen ſich dunkelliebende Fledermäuſe wie Früchte an die Stalaktiten- Vegetation. Aber die Stunde iſt erfüllt — und es kommt das Weſen der Erfüllung: der Menſch. Roter Herdſchein erhellt den Schacht, daß die Fledermäuſe entſetzt herabtaumeln, und vor dem brennenden Aſt flüchtet quäkend die Hyäne. Ein Stein¬ pfeil durchs Auge hat den Bären erlegt, ſein Pelz liegt auf der Kalkſohle als erſte Divandecke. Auf die Wand ſind mit kindlicher Kunſt groteske Tierbilder gekratzt: Mammute mit krummen Stoßzähnen, Steinbock und Wildpferd. Und um das ſchwehlende Feuer bewegen ſich nackte Geſtalten, — Geſtalten eines Weſens vom Säugetiertypus, mit den Händen des Affen, aber zugleich mit Gehfüßen, aufrecht ſchreitend, ohne daß die

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/20>, abgerufen am 23.11.2024.