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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Feierliche Bräuche umgeben das bei einer Menge von
Völkern. Das rote Tröpflein im Linnen des Brautbettes
wird da zum heiligen Zeichen. So wichtig, so wirklich heilig
ist es, daß es sogar die Öffentlichkeit nicht mehr zu scheuen
braucht. Bei den orientalischen Kulturvölkern wird vielfach
ein besonderer Ehrenrat von Freunden und Verwandten be¬
rufen, um das Zeichen zu bestätigen. Wenn bei den Zulu¬
kaffern das Segelchen sich nicht finden will, so muß Bruder
oder Vater der Braut dem Manne einen Ochsen zur Strafe
zahlen. Im Gebot des Moses trifft die unverschlossene Braut
Steinigung.

Bei solchen Bräuchen geht schließlich eine Todesangst um
dieses Häutlein durch die Mädchenwelt ganzer Völker. An
die Stelle der Angst vor allzu gutem Naturverschluß treten
künstliche Operationen, um ihm nachzuhelfen, ihn noch einmal
zu ersetzen, wo er schon verloren war. In Persien, wo der
Mann auf alle Fälle das Recht hat, seine Frau nach der
Brautnacht noch zu verstoßen, wenn ihm hier ein Zweifel
bleibt, näht der willige Chirurge dem deflorierten Mädchen,
das heiraten soll, künstlich die Schamlippen durch eine leicht
zerreißbare Naht zusammen. Oder ein blutgetränktes Schwämm¬
chen wird heimlich in die Scheide gebracht. Solche Spiegel¬
fechtereien gehen, wie du weißt, bis in unsere europäische
Kultur hinein. Was aber dem Ganzen einen Stich ins
wirklich Tragische giebt, ist die sichere Thatsache, daß das
Jungfernhäutchen, ein unklares, schwankendes Naturding, wie
es bei uns ist, jenes Vertrauen selber gar nicht in dem Maße,
wie dort erwartet wird, verdient. Wie es sich oft sperrt, wenn
es nicht soll, so erweist es sich gar nicht so selten umgekehrt
als weich und lässig und läßt sich im Akt beiseite schieben ohne
einzureißen, Verdacht also weckend, wo nicht der leiseste Grund
vorliegt. Und die Menschheit der Zukunft mag wohl den
Tag segnen, wo sie auf Treu und Glauben, auf moralische
Logik ihre Schlüsse bauen darf, wofern sie sie hier noch

Feierliche Bräuche umgeben das bei einer Menge von
Völkern. Das rote Tröpflein im Linnen des Brautbettes
wird da zum heiligen Zeichen. So wichtig, ſo wirklich heilig
iſt es, daß es ſogar die Öffentlichkeit nicht mehr zu ſcheuen
braucht. Bei den orientaliſchen Kulturvölkern wird vielfach
ein beſonderer Ehrenrat von Freunden und Verwandten be¬
rufen, um das Zeichen zu beſtätigen. Wenn bei den Zulu¬
kaffern das Segelchen ſich nicht finden will, ſo muß Bruder
oder Vater der Braut dem Manne einen Ochſen zur Strafe
zahlen. Im Gebot des Moſes trifft die unverſchloſſene Braut
Steinigung.

Bei ſolchen Bräuchen geht ſchließlich eine Todesangſt um
dieſes Häutlein durch die Mädchenwelt ganzer Völker. An
die Stelle der Angſt vor allzu gutem Naturverſchluß treten
künſtliche Operationen, um ihm nachzuhelfen, ihn noch einmal
zu erſetzen, wo er ſchon verloren war. In Perſien, wo der
Mann auf alle Fälle das Recht hat, ſeine Frau nach der
Brautnacht noch zu verſtoßen, wenn ihm hier ein Zweifel
bleibt, näht der willige Chirurge dem deflorierten Mädchen,
das heiraten ſoll, künſtlich die Schamlippen durch eine leicht
zerreißbare Naht zuſammen. Oder ein blutgetränktes Schwämm¬
chen wird heimlich in die Scheide gebracht. Solche Spiegel¬
fechtereien gehen, wie du weißt, bis in unſere europäiſche
Kultur hinein. Was aber dem Ganzen einen Stich ins
wirklich Tragiſche giebt, iſt die ſichere Thatſache, daß das
Jungfernhäutchen, ein unklares, ſchwankendes Naturding, wie
es bei uns iſt, jenes Vertrauen ſelber gar nicht in dem Maße,
wie dort erwartet wird, verdient. Wie es ſich oft ſperrt, wenn
es nicht ſoll, ſo erweiſt es ſich gar nicht ſo ſelten umgekehrt
als weich und läſſig und läßt ſich im Akt beiſeite ſchieben ohne
einzureißen, Verdacht alſo weckend, wo nicht der leiſeſte Grund
vorliegt. Und die Menſchheit der Zukunft mag wohl den
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Logik ihre Schlüſſe bauen darf, wofern ſie ſie hier noch

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[150/0164] Feierliche Bräuche umgeben das bei einer Menge von Völkern. Das rote Tröpflein im Linnen des Brautbettes wird da zum heiligen Zeichen. So wichtig, ſo wirklich heilig iſt es, daß es ſogar die Öffentlichkeit nicht mehr zu ſcheuen braucht. Bei den orientaliſchen Kulturvölkern wird vielfach ein beſonderer Ehrenrat von Freunden und Verwandten be¬ rufen, um das Zeichen zu beſtätigen. Wenn bei den Zulu¬ kaffern das Segelchen ſich nicht finden will, ſo muß Bruder oder Vater der Braut dem Manne einen Ochſen zur Strafe zahlen. Im Gebot des Moſes trifft die unverſchloſſene Braut Steinigung. Bei ſolchen Bräuchen geht ſchließlich eine Todesangſt um dieſes Häutlein durch die Mädchenwelt ganzer Völker. An die Stelle der Angſt vor allzu gutem Naturverſchluß treten künſtliche Operationen, um ihm nachzuhelfen, ihn noch einmal zu erſetzen, wo er ſchon verloren war. In Perſien, wo der Mann auf alle Fälle das Recht hat, ſeine Frau nach der Brautnacht noch zu verſtoßen, wenn ihm hier ein Zweifel bleibt, näht der willige Chirurge dem deflorierten Mädchen, das heiraten ſoll, künſtlich die Schamlippen durch eine leicht zerreißbare Naht zuſammen. Oder ein blutgetränktes Schwämm¬ chen wird heimlich in die Scheide gebracht. Solche Spiegel¬ fechtereien gehen, wie du weißt, bis in unſere europäiſche Kultur hinein. Was aber dem Ganzen einen Stich ins wirklich Tragiſche giebt, iſt die ſichere Thatſache, daß das Jungfernhäutchen, ein unklares, ſchwankendes Naturding, wie es bei uns iſt, jenes Vertrauen ſelber gar nicht in dem Maße, wie dort erwartet wird, verdient. Wie es ſich oft ſperrt, wenn es nicht ſoll, ſo erweiſt es ſich gar nicht ſo ſelten umgekehrt als weich und läſſig und läßt ſich im Akt beiſeite ſchieben ohne einzureißen, Verdacht alſo weckend, wo nicht der leiſeſte Grund vorliegt. Und die Menſchheit der Zukunft mag wohl den Tag ſegnen, wo ſie auf Treu und Glauben, auf moraliſche Logik ihre Schlüſſe bauen darf, wofern ſie ſie hier noch

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/164>, abgerufen am 27.11.2024.