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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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leider nach dem Erotischen, die nicht freiwillig indifferent,
sondern aus innerer Unsicherheit intolerant wurden. Jede
Quelle der Intoleranz ist aber eine Grund- und Erzgefahr
für den Anstieg der Menschheit.

Unendlich viel schlimmer doch als alles religiöse Cölibat,
das schließlich wenigstens eine "Idee" in sich trug und auch
immer nur eine winzige Zahl Menschen getroffen hat, ist in
unserm öffentlichen Leben bis heute das auferzwungene Cölibat
aus sozialen, wirtschaftlichen, nackt materiellen oder gar an¬
geblichen Sitte-Gründen, das nicht theoretisch, aber praktisch
auf tausenden und tausenden lastet.

Bei so vielen, die heute über Moral, Wissenschaft, Kunst
reden und schreiben und die wohl gelegentlich gar nach Staats¬
gesetzen gegen die Freiheit dieser Wissenschaft und Kunst
rufen, sehe ich immer wieder dieses hohläugige Gespenst über
ihre Schulter grinsen, diese unerlöste Braut von Korinth ihres
Lebens, die ihnen das gesunde Blut aussaugt.

Und hier können nur tiefgreifende soziale Besserungen
Rat schaffen. Von ihnen wird wieder ein Hauptteil Wand¬
lungen abhängen in dem, was wir Gesellschaftssitte im kräh¬
winkeligen Sinne nennen. Zum Glück unterliegen diese sozialen
Fortschritte ihren ganz festen eigenen Entwickelungsgesetzen, sie
kommen mit der Wucht einer Naturgewalt, wenn der Becher
voll ist, und alle Angst und reaktionäre Steuerweisheit des
Einzelnen ändert nichts daran. Auch hier ist es der Genius
der Menschheit, der auf alle Fälle durchbricht, wie er noch
immer durchgebrochen ist. Es ist der Genius der aufsteigenden
Natur selber auf ihrer Stufe Mensch, daher die natur¬
gesetzliche Wucht.

Außer dem Sozialen im engeren wirtschaftlichen Sinne
muß aber auch das hinzu, was ich schon in einem früheren
Gespräch berührt habe: eine ganz anders hohe Achtung vor
dem Erotischen selbst. Diese wunderbaren Prozesse, auf denen
die Fortexistenz der Menschheit beruht, müssen als etwas

leider nach dem Erotiſchen, die nicht freiwillig indifferent,
ſondern aus innerer Unſicherheit intolerant wurden. Jede
Quelle der Intoleranz iſt aber eine Grund- und Erzgefahr
für den Anſtieg der Menſchheit.

Unendlich viel ſchlimmer doch als alles religiöſe Cölibat,
das ſchließlich wenigſtens eine „Idee“ in ſich trug und auch
immer nur eine winzige Zahl Menſchen getroffen hat, iſt in
unſerm öffentlichen Leben bis heute das auferzwungene Cölibat
aus ſozialen, wirtſchaftlichen, nackt materiellen oder gar an¬
geblichen Sitte-Gründen, das nicht theoretiſch, aber praktiſch
auf tauſenden und tauſenden laſtet.

Bei ſo vielen, die heute über Moral, Wiſſenſchaft, Kunſt
reden und ſchreiben und die wohl gelegentlich gar nach Staats¬
geſetzen gegen die Freiheit dieſer Wiſſenſchaft und Kunſt
rufen, ſehe ich immer wieder dieſes hohläugige Geſpenſt über
ihre Schulter grinſen, dieſe unerlöſte Braut von Korinth ihres
Lebens, die ihnen das geſunde Blut ausſaugt.

Und hier können nur tiefgreifende ſoziale Beſſerungen
Rat ſchaffen. Von ihnen wird wieder ein Hauptteil Wand¬
lungen abhängen in dem, was wir Geſellſchaftsſitte im kräh¬
winkeligen Sinne nennen. Zum Glück unterliegen dieſe ſozialen
Fortſchritte ihren ganz feſten eigenen Entwickelungsgeſetzen, ſie
kommen mit der Wucht einer Naturgewalt, wenn der Becher
voll iſt, und alle Angſt und reaktionäre Steuerweisheit des
Einzelnen ändert nichts daran. Auch hier iſt es der Genius
der Menſchheit, der auf alle Fälle durchbricht, wie er noch
immer durchgebrochen iſt. Es iſt der Genius der aufſteigenden
Natur ſelber auf ihrer Stufe Menſch, daher die natur¬
geſetzliche Wucht.

Außer dem Sozialen im engeren wirtſchaftlichen Sinne
muß aber auch das hinzu, was ich ſchon in einem früheren
Geſpräch berührt habe: eine ganz anders hohe Achtung vor
dem Erotiſchen ſelbſt. Dieſe wunderbaren Prozeſſe, auf denen
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[144/0158] leider nach dem Erotiſchen, die nicht freiwillig indifferent, ſondern aus innerer Unſicherheit intolerant wurden. Jede Quelle der Intoleranz iſt aber eine Grund- und Erzgefahr für den Anſtieg der Menſchheit. Unendlich viel ſchlimmer doch als alles religiöſe Cölibat, das ſchließlich wenigſtens eine „Idee“ in ſich trug und auch immer nur eine winzige Zahl Menſchen getroffen hat, iſt in unſerm öffentlichen Leben bis heute das auferzwungene Cölibat aus ſozialen, wirtſchaftlichen, nackt materiellen oder gar an¬ geblichen Sitte-Gründen, das nicht theoretiſch, aber praktiſch auf tauſenden und tauſenden laſtet. Bei ſo vielen, die heute über Moral, Wiſſenſchaft, Kunſt reden und ſchreiben und die wohl gelegentlich gar nach Staats¬ geſetzen gegen die Freiheit dieſer Wiſſenſchaft und Kunſt rufen, ſehe ich immer wieder dieſes hohläugige Geſpenſt über ihre Schulter grinſen, dieſe unerlöſte Braut von Korinth ihres Lebens, die ihnen das geſunde Blut ausſaugt. Und hier können nur tiefgreifende ſoziale Beſſerungen Rat ſchaffen. Von ihnen wird wieder ein Hauptteil Wand¬ lungen abhängen in dem, was wir Geſellſchaftsſitte im kräh¬ winkeligen Sinne nennen. Zum Glück unterliegen dieſe ſozialen Fortſchritte ihren ganz feſten eigenen Entwickelungsgeſetzen, ſie kommen mit der Wucht einer Naturgewalt, wenn der Becher voll iſt, und alle Angſt und reaktionäre Steuerweisheit des Einzelnen ändert nichts daran. Auch hier iſt es der Genius der Menſchheit, der auf alle Fälle durchbricht, wie er noch immer durchgebrochen iſt. Es iſt der Genius der aufſteigenden Natur ſelber auf ihrer Stufe Menſch, daher die natur¬ geſetzliche Wucht. Außer dem Sozialen im engeren wirtſchaftlichen Sinne muß aber auch das hinzu, was ich ſchon in einem früheren Geſpräch berührt habe: eine ganz anders hohe Achtung vor dem Erotiſchen ſelbſt. Dieſe wunderbaren Prozeſſe, auf denen die Fortexiſtenz der Menſchheit beruht, müſſen als etwas

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/158>, abgerufen am 23.11.2024.