Diese Nachahmung des Nackten durch die Kleidung ist es nämlich, die zu solchen Unglücksirrungen geführt hat wie zu jener künstlichen Taillenverunstaltung. Am unverbildeten lebendigen Nacktkörper, wie am nackten Kunstideal etwa der Venus von Milo oder einer Schöpfung Tizians, liegt eine ganz besondere Wohlgefälligkeit in den Linien der Brust, der Körperseiten, der Hüftenansätze, des Rückens bis zum Gesäßansatz. Diese Linien wirkten ebenso schön wie erotisch. Das sollte nun im Kleide nachgemacht werden. Um auch nur etwas, wenn schon karikiert, davon äußerlich herauszuarbeiten, mußte aber der wahre Nacktkörper darunter ins Prokrustesbett. Das Korsett trieb ihm glühende Foltereisen ins Fleisch, damit oben darauf die Taille eine annähernde Silhouettenähnlichkeit mit dem ästhetisch-erotischen Nacktideal bekam. Unsagbar roh wie der Kleiderstoff für solche Imitationen ist, kam es im Grunde nicht viel über eine Art Symbol des Gewollten auch äußer¬ lich hinaus, und das ist dann als mathematische Figur bald ins ganz Verrückte übertrieben worden, so daß der Weibesleib schließlich ausschaute wie eine Sanduhr, womit jeder Faden und Anschluß verloren war. Um dieser Sanduhr willen aber wurde die wahre Haut- und Fleisch- und Knochenunterlage lebendig geschunden. Doch danach fragte kein Mensch -- weil man sie nicht sah. Wenigstens öffentlich im ungetrübten Licht nicht sah.
Aus solchen Fällen leuchtet gewiß ein Mene Tekel auf. Mit einer Reformtracht im Einzelfalle ist das Übel aber noch nicht bei der Wurzel gefaßt.
Was wir brauchten, wäre eben doch wieder mehr un¬ mittelbare Anschauung des lebendigen nackten Körpers. Wie aber dazu kommen, ohne die berechtigten Schutzwälle der Moral mutwillig zu zerstören, ein Unterfangen, das so wie so utopistisch wäre, denn die Menschheit läßt sich nichts zerstören, was sie braucht?
Wir haben zum Glück noch ganz vereinzelte Fälle, wo wir die Nacktheit ertragen ohne erotische Entfesselung, -- so
Dieſe Nachahmung des Nackten durch die Kleidung iſt es nämlich, die zu ſolchen Unglücksirrungen geführt hat wie zu jener künſtlichen Taillenverunſtaltung. Am unverbildeten lebendigen Nacktkörper, wie am nackten Kunſtideal etwa der Venus von Milo oder einer Schöpfung Tizians, liegt eine ganz beſondere Wohlgefälligkeit in den Linien der Bruſt, der Körperſeiten, der Hüftenanſätze, des Rückens bis zum Geſäßanſatz. Dieſe Linien wirkten ebenſo ſchön wie erotiſch. Das ſollte nun im Kleide nachgemacht werden. Um auch nur etwas, wenn ſchon karikiert, davon äußerlich herauszuarbeiten, mußte aber der wahre Nacktkörper darunter ins Prokruſtesbett. Das Korſett trieb ihm glühende Foltereiſen ins Fleiſch, damit oben darauf die Taille eine annähernde Silhouettenähnlichkeit mit dem äſthetiſch-erotiſchen Nacktideal bekam. Unſagbar roh wie der Kleiderſtoff für ſolche Imitationen iſt, kam es im Grunde nicht viel über eine Art Symbol des Gewollten auch äußer¬ lich hinaus, und das iſt dann als mathematiſche Figur bald ins ganz Verrückte übertrieben worden, ſo daß der Weibesleib ſchließlich ausſchaute wie eine Sanduhr, womit jeder Faden und Anſchluß verloren war. Um dieſer Sanduhr willen aber wurde die wahre Haut- und Fleiſch- und Knochenunterlage lebendig geſchunden. Doch danach fragte kein Menſch — weil man ſie nicht ſah. Wenigſtens öffentlich im ungetrübten Licht nicht ſah.
Aus ſolchen Fällen leuchtet gewiß ein Mene Tekel auf. Mit einer Reformtracht im Einzelfalle iſt das Übel aber noch nicht bei der Wurzel gefaßt.
Was wir brauchten, wäre eben doch wieder mehr un¬ mittelbare Anſchauung des lebendigen nackten Körpers. Wie aber dazu kommen, ohne die berechtigten Schutzwälle der Moral mutwillig zu zerſtören, ein Unterfangen, das ſo wie ſo utopiſtiſch wäre, denn die Menſchheit läßt ſich nichts zerſtören, was ſie braucht?
Wir haben zum Glück noch ganz vereinzelte Fälle, wo wir die Nacktheit ertragen ohne erotiſche Entfeſſelung, — ſo
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Dieſe Nachahmung des Nackten durch die Kleidung iſt es
nämlich, die zu ſolchen Unglücksirrungen geführt hat wie zu jener
künſtlichen Taillenverunſtaltung. Am unverbildeten lebendigen
Nacktkörper, wie am nackten Kunſtideal etwa der Venus von
Milo oder einer Schöpfung Tizians, liegt eine ganz beſondere
Wohlgefälligkeit in den Linien der Bruſt, der Körperſeiten,
der Hüftenanſätze, des Rückens bis zum Geſäßanſatz. Dieſe
Linien wirkten ebenſo ſchön wie erotiſch. Das ſollte nun im
Kleide nachgemacht werden. Um auch nur etwas, wenn ſchon
karikiert, davon äußerlich herauszuarbeiten, mußte aber der
wahre Nacktkörper darunter ins Prokruſtesbett. Das Korſett
trieb ihm glühende Foltereiſen ins Fleiſch, damit oben darauf
die Taille eine annähernde Silhouettenähnlichkeit mit dem
äſthetiſch-erotiſchen Nacktideal bekam. Unſagbar roh wie der
Kleiderſtoff für ſolche Imitationen iſt, kam es im Grunde
nicht viel über eine Art Symbol des Gewollten auch äußer¬
lich hinaus, und das iſt dann als mathematiſche Figur bald
ins ganz Verrückte übertrieben worden, ſo daß der Weibesleib
ſchließlich ausſchaute wie eine Sanduhr, womit jeder Faden und
Anſchluß verloren war. Um dieſer Sanduhr willen aber wurde
die wahre Haut- und Fleiſch- und Knochenunterlage lebendig
geſchunden. Doch danach fragte kein Menſch — weil man ſie
nicht ſah. Wenigſtens öffentlich im ungetrübten Licht nicht ſah.
Aus ſolchen Fällen leuchtet gewiß ein Mene Tekel auf.
Mit einer Reformtracht im Einzelfalle iſt das Übel aber noch
nicht bei der Wurzel gefaßt.
Was wir brauchten, wäre eben doch wieder mehr un¬
mittelbare Anſchauung des lebendigen nackten Körpers. Wie
aber dazu kommen, ohne die berechtigten Schutzwälle der
Moral mutwillig zu zerſtören, ein Unterfangen, das ſo wie ſo
utopiſtiſch wäre, denn die Menſchheit läßt ſich nichts zerſtören,
was ſie braucht?
Wir haben zum Glück noch ganz vereinzelte Fälle, wo
wir die Nacktheit ertragen ohne erotiſche Entfeſſelung, — ſo
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/153>, abgerufen am 23.11.2024.
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