Wenn man heute eine größere Anzahl Kulturfrauen entkleidet, so zeigen sich beispielsweise an dem nackten Leibe die unheimlichen entstellenden Wirkungen einer künstlichen Taillenverengung durch die gangbare Frauenkleidung. Aufs Gröblichste ist das Ideal des Frauenkörpers, wie es bei allen Meistern der großen Kulturkunstlinie vor Augen steht, darin malträtiert und verfälscht. Und zugleich ist die Urhandschrift der Natur verdorben bis zur wahnsinnigsten Ungesundheit durch Quetschung der Innenorgane. Schultze-Naumburg hat das neuerdings noch wieder an so drastischen Figuren gezeigt, die ein Freund der harmonischen Schönheit des Weibesleibes (die zugleich Harmonie in seiner Gesundheit bedeutet) nur mit Grauen anschauen kann. In diesem Falle gerade ist aber sehr leicht zu zeigen, was unsere Frauen und Mädchen getrieben hat, so selbstmörderisch gegen ihren eigenen Nacktkörper vorzugehen.
In jenem Markten des lockenden Frühlings mit der ver¬ hüllenden Moral war seit alters ein Trick durchpassiert: das Kleid wurde zugestanden, aber es wurde vom erotischen Be¬ dürfnis der Schaustellung so angelegt, daß es selber schließlich die Plastik der nackten Unterlage möglichst deutlich wiedergab. Die Maximalleistung in dieser Hinsicht ist das Bühnentricot. Versuche aber sind mehr oder minder verstreut über alle neueren Frauentrachten. Du kennst vielleicht die Broschüre des "Auch Einer"-Vischer über "Mode und Cynismus," in der dieser treffliche Alte mit Entsetzen die Entdeckung verkündet, die er auf seine ganz späten Tage noch gemacht hat: nämlich eben diese simple Sache, daß das erotische Bedürfnis immer im stillen bestrebt ist, die Nacktheit sozusagen wieder außen aufs Kleid zu bringen, wenn's denn einmal nicht ohne Kleid gehen soll. Vischer denunzierte das in seinem Schrecken bei der Moral als unerhörte Mogelei. Wäre er aber lieber auch hier seiner Ästhetik treu geblieben, so würde er die einzige wirklich gefährliche Seite des Prinzips gesehen haben, die mit Moral an sich absolut nichts zu thun hat.
Wenn man heute eine größere Anzahl Kulturfrauen entkleidet, ſo zeigen ſich beiſpielsweiſe an dem nackten Leibe die unheimlichen entſtellenden Wirkungen einer künſtlichen Taillenverengung durch die gangbare Frauenkleidung. Aufs Gröblichſte iſt das Ideal des Frauenkörpers, wie es bei allen Meiſtern der großen Kulturkunſtlinie vor Augen ſteht, darin malträtiert und verfälſcht. Und zugleich iſt die Urhandſchrift der Natur verdorben bis zur wahnſinnigſten Ungeſundheit durch Quetſchung der Innenorgane. Schultze-Naumburg hat das neuerdings noch wieder an ſo draſtiſchen Figuren gezeigt, die ein Freund der harmoniſchen Schönheit des Weibesleibes (die zugleich Harmonie in ſeiner Geſundheit bedeutet) nur mit Grauen anſchauen kann. In dieſem Falle gerade iſt aber ſehr leicht zu zeigen, was unſere Frauen und Mädchen getrieben hat, ſo ſelbſtmörderiſch gegen ihren eigenen Nacktkörper vorzugehen.
In jenem Markten des lockenden Frühlings mit der ver¬ hüllenden Moral war ſeit alters ein Trick durchpaſſiert: das Kleid wurde zugeſtanden, aber es wurde vom erotiſchen Be¬ dürfnis der Schauſtellung ſo angelegt, daß es ſelber ſchließlich die Plaſtik der nackten Unterlage möglichſt deutlich wiedergab. Die Maximalleiſtung in dieſer Hinſicht iſt das Bühnentricot. Verſuche aber ſind mehr oder minder verſtreut über alle neueren Frauentrachten. Du kennſt vielleicht die Broſchüre des „Auch Einer“-Viſcher über „Mode und Cynismus,“ in der dieſer treffliche Alte mit Entſetzen die Entdeckung verkündet, die er auf ſeine ganz ſpäten Tage noch gemacht hat: nämlich eben dieſe ſimple Sache, daß das erotiſche Bedürfnis immer im ſtillen beſtrebt iſt, die Nacktheit ſozuſagen wieder außen aufs Kleid zu bringen, wenn's denn einmal nicht ohne Kleid gehen ſoll. Viſcher denunzierte das in ſeinem Schrecken bei der Moral als unerhörte Mogelei. Wäre er aber lieber auch hier ſeiner Äſthetik treu geblieben, ſo würde er die einzige wirklich gefährliche Seite des Prinzips geſehen haben, die mit Moral an ſich abſolut nichts zu thun hat.
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Wenn man heute eine größere Anzahl Kulturfrauen
entkleidet, ſo zeigen ſich beiſpielsweiſe an dem nackten Leibe
die unheimlichen entſtellenden Wirkungen einer künſtlichen
Taillenverengung durch die gangbare Frauenkleidung. Aufs
Gröblichſte iſt das Ideal des Frauenkörpers, wie es bei allen
Meiſtern der großen Kulturkunſtlinie vor Augen ſteht, darin
malträtiert und verfälſcht. Und zugleich iſt die Urhandſchrift
der Natur verdorben bis zur wahnſinnigſten Ungeſundheit durch
Quetſchung der Innenorgane. Schultze-Naumburg hat das
neuerdings noch wieder an ſo draſtiſchen Figuren gezeigt, die
ein Freund der harmoniſchen Schönheit des Weibesleibes (die
zugleich Harmonie in ſeiner Geſundheit bedeutet) nur mit
Grauen anſchauen kann. In dieſem Falle gerade iſt aber ſehr
leicht zu zeigen, was unſere Frauen und Mädchen getrieben
hat, ſo ſelbſtmörderiſch gegen ihren eigenen Nacktkörper vorzugehen.
In jenem Markten des lockenden Frühlings mit der ver¬
hüllenden Moral war ſeit alters ein Trick durchpaſſiert: das
Kleid wurde zugeſtanden, aber es wurde vom erotiſchen Be¬
dürfnis der Schauſtellung ſo angelegt, daß es ſelber ſchließlich
die Plaſtik der nackten Unterlage möglichſt deutlich wiedergab.
Die Maximalleiſtung in dieſer Hinſicht iſt das Bühnentricot.
Verſuche aber ſind mehr oder minder verſtreut über alle neueren
Frauentrachten. Du kennſt vielleicht die Broſchüre des „Auch
Einer“-Viſcher über „Mode und Cynismus,“ in der dieſer
treffliche Alte mit Entſetzen die Entdeckung verkündet, die er
auf ſeine ganz ſpäten Tage noch gemacht hat: nämlich eben
dieſe ſimple Sache, daß das erotiſche Bedürfnis immer im
ſtillen beſtrebt iſt, die Nacktheit ſozuſagen wieder außen aufs
Kleid zu bringen, wenn's denn einmal nicht ohne Kleid
gehen ſoll. Viſcher denunzierte das in ſeinem Schrecken bei
der Moral als unerhörte Mogelei. Wäre er aber lieber auch
hier ſeiner Äſthetik treu geblieben, ſo würde er die einzige
wirklich gefährliche Seite des Prinzips geſehen haben, die
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/152>, abgerufen am 23.11.2024.
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