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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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absolut zusammenfällt und der nackte Mensch aus der öffent¬
lichen Gesellschaft überhaupt verschwindet, weil er der erotische
und als solcher der aus Schamgründen zu verhüllende ist.

Auf der Wasserscheide dieser Entwickelung stehen wir selbst.
Auf der einen Seite haben wir uns in der Kultur dahin ge¬
trieben, daß ein Kulturmensch von feinen Nerven errötet, wenn
er öffentlich sich nackt sehen lassen soll. Auf der anderen Seite
freilich erhebt sich auch dagegen wieder eine Reaktion.

Werfen wir einen flüchtigen Blick auf dieses Gegenwarts¬
problem, das sich so scharf aus den einfachen Folgen der Urzeit¬
dinge ergiebt.

[Abbildung]

Das Verschwinden der Nacktheit auf einer gewissen Stufe
der Kultur hatte sein Notwendiges, aber auch sein Mißliches.

Es ist durchaus nicht schwer, Kulturgeschichte so zu schreiben,
daß es wie ein Triumph erwachenden Hochgeistes der Mensch¬
heit erscheint. Je größer die Aufgaben dieser Menschheit, desto
stärker das Bedürfnis strenger Arbeitsregelung. Das Erotische
sollte seine Stelle in höchster Berechtigung wahren, aber es
sollte nicht überwuchern. Ungeheure Ziele waren gesetzt, zu
denen das Erotische nicht unmittelbar gehörte. Ja sie wurden
gestört, wenn es sich einmischte.

Man kann heranziehen, daß die Rolle des Einzelmenschen,
des einzelnen Geistesindividuums in der Kulturmenschheit eine
unvergleichlich größere wurde als je. Die Erhaltung der Art
und alles, was mit ihr zusammenhing, trat daneben höchstens
ins Stadium der Gleichberechtigung für die Wertung. Im
Tier ist das Individuum immer wie eine Welle nur in dieser
großen Artlinie und sein Leben scheint erschöpft in der Arbeit
für die Erhaltung dieser Linie: in der Liebe. Im Menschen

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abſolut zuſammenfällt und der nackte Menſch aus der öffent¬
lichen Geſellſchaft überhaupt verſchwindet, weil er der erotiſche
und als ſolcher der aus Schamgründen zu verhüllende iſt.

Auf der Waſſerſcheide dieſer Entwickelung ſtehen wir ſelbſt.
Auf der einen Seite haben wir uns in der Kultur dahin ge¬
trieben, daß ein Kulturmenſch von feinen Nerven errötet, wenn
er öffentlich ſich nackt ſehen laſſen ſoll. Auf der anderen Seite
freilich erhebt ſich auch dagegen wieder eine Reaktion.

Werfen wir einen flüchtigen Blick auf dieſes Gegenwarts¬
problem, das ſich ſo ſcharf aus den einfachen Folgen der Urzeit¬
dinge ergiebt.

[Abbildung]

Das Verſchwinden der Nacktheit auf einer gewiſſen Stufe
der Kultur hatte ſein Notwendiges, aber auch ſein Mißliches.

Es iſt durchaus nicht ſchwer, Kulturgeſchichte ſo zu ſchreiben,
daß es wie ein Triumph erwachenden Hochgeiſtes der Menſch¬
heit erſcheint. Je größer die Aufgaben dieſer Menſchheit, deſto
ſtärker das Bedürfnis ſtrenger Arbeitsregelung. Das Erotiſche
ſollte ſeine Stelle in höchſter Berechtigung wahren, aber es
ſollte nicht überwuchern. Ungeheure Ziele waren geſetzt, zu
denen das Erotiſche nicht unmittelbar gehörte. Ja ſie wurden
geſtört, wenn es ſich einmiſchte.

Man kann heranziehen, daß die Rolle des Einzelmenſchen,
des einzelnen Geiſtesindividuums in der Kulturmenſchheit eine
unvergleichlich größere wurde als je. Die Erhaltung der Art
und alles, was mit ihr zuſammenhing, trat daneben höchſtens
ins Stadium der Gleichberechtigung für die Wertung. Im
Tier iſt das Individuum immer wie eine Welle nur in dieſer
großen Artlinie und ſein Leben ſcheint erſchöpft in der Arbeit
für die Erhaltung dieſer Linie: in der Liebe. Im Menſchen

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[131/0145] abſolut zuſammenfällt und der nackte Menſch aus der öffent¬ lichen Geſellſchaft überhaupt verſchwindet, weil er der erotiſche und als ſolcher der aus Schamgründen zu verhüllende iſt. Auf der Waſſerſcheide dieſer Entwickelung ſtehen wir ſelbſt. Auf der einen Seite haben wir uns in der Kultur dahin ge¬ trieben, daß ein Kulturmenſch von feinen Nerven errötet, wenn er öffentlich ſich nackt ſehen laſſen ſoll. Auf der anderen Seite freilich erhebt ſich auch dagegen wieder eine Reaktion. Werfen wir einen flüchtigen Blick auf dieſes Gegenwarts¬ problem, das ſich ſo ſcharf aus den einfachen Folgen der Urzeit¬ dinge ergiebt. [Abbildung] Das Verſchwinden der Nacktheit auf einer gewiſſen Stufe der Kultur hatte ſein Notwendiges, aber auch ſein Mißliches. Es iſt durchaus nicht ſchwer, Kulturgeſchichte ſo zu ſchreiben, daß es wie ein Triumph erwachenden Hochgeiſtes der Menſch¬ heit erſcheint. Je größer die Aufgaben dieſer Menſchheit, deſto ſtärker das Bedürfnis ſtrenger Arbeitsregelung. Das Erotiſche ſollte ſeine Stelle in höchſter Berechtigung wahren, aber es ſollte nicht überwuchern. Ungeheure Ziele waren geſetzt, zu denen das Erotiſche nicht unmittelbar gehörte. Ja ſie wurden geſtört, wenn es ſich einmiſchte. Man kann heranziehen, daß die Rolle des Einzelmenſchen, des einzelnen Geiſtesindividuums in der Kulturmenſchheit eine unvergleichlich größere wurde als je. Die Erhaltung der Art und alles, was mit ihr zuſammenhing, trat daneben höchſtens ins Stadium der Gleichberechtigung für die Wertung. Im Tier iſt das Individuum immer wie eine Welle nur in dieſer großen Artlinie und ſein Leben ſcheint erſchöpft in der Arbeit für die Erhaltung dieſer Linie: in der Liebe. Im Menſchen 9*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/145>, abgerufen am 24.11.2024.