eigenen Leibe sozusagen erlebt worden: Du sollst nicht töten. Dann endlich wird's ein Wort, eine Sittenlehre, die als solche überliefert wird. So ist jene Unlogik der unzeitigen erotischen Entblößung ebenfalls lange den Ahnen eingepaukt worden als reale Faustthatsache des hauenden Lebens. Nachher ist's als "unschicklich" dann schon "überliefert" worden. Das Bezeichnende aber ist, daß, wenn diese Überlieferung der Sitte einmal aus¬ setzte, unzweifelhaft die Sache selber sich wiederum durchsetzen würde, so gut wie jenes "Du sollst nicht töten." Das Un¬ praktische mit seinen Folgen kröche eben nach und nach wieder so unheimlich heran, daß alles sich abermals regulieren müßte. Und in diesem Sinne kannst du ruhig sagen: auch der Eskimo von heute erkennt, wenn auch mit dem Denkwörtlein "Sitte", die tiefinnerliche Unlogik jenes Aktes an.
Das unmittelbare Gefühl für Unlogik des Geschehens steckt übrigens in uns allen auch in direktester Form noch viel energischer, als man wohl denkt, wenn man ein so philosophisches Kulturwort wie "Unlogik" oder "Logik" hört. Du kannst es erstaunlich scharf beobachten bei Kindern. Ja du stößst auf Schritt und Tritt darauf beim Hunde. Kind wie Hund haben auf Grund gewisser Erfahrungen Vertrauen zum Verlauf einer Handlung gefaßt. Sie haben gemerkt: wenn die und die Um¬ stände eintreten, kommen die und die weiteren Folgen, etwa im Einzelfall angenehme Folgen. Nun ändere plötzlich diese Folgen, handle einmal total anders als sonst, prügle den Hund, wo er eine Liebkosung erwartet -- und du weckst einen doppelten Zorn, -- nicht nur den über die Prügel selbst, sondern vor allem auch über das Inkonsequente, das Unlogische deiner Handlung.
Weil die Scham ihrem tiefsten Kern nach einer Entrüstung entspringt, ein Zornakt ist, hat sich ihr auch ein sonst so un¬ begreifliches Zeichen bei uns zugesellt: nämlich das Erröten. Wer zornig wird, dem schwillt der Kamm vor Blutzufuhr: das kannst du schon am Truthahn studieren. Wäre die Scham
eigenen Leibe ſozuſagen erlebt worden: Du ſollſt nicht töten. Dann endlich wird's ein Wort, eine Sittenlehre, die als ſolche überliefert wird. So iſt jene Unlogik der unzeitigen erotiſchen Entblößung ebenfalls lange den Ahnen eingepaukt worden als reale Fauſtthatſache des hauenden Lebens. Nachher iſt's als „unſchicklich“ dann ſchon „überliefert“ worden. Das Bezeichnende aber iſt, daß, wenn dieſe Überlieferung der Sitte einmal aus¬ ſetzte, unzweifelhaft die Sache ſelber ſich wiederum durchſetzen würde, ſo gut wie jenes „Du ſollſt nicht töten.“ Das Un¬ praktiſche mit ſeinen Folgen kröche eben nach und nach wieder ſo unheimlich heran, daß alles ſich abermals regulieren müßte. Und in dieſem Sinne kannſt du ruhig ſagen: auch der Eskimo von heute erkennt, wenn auch mit dem Denkwörtlein „Sitte“, die tiefinnerliche Unlogik jenes Aktes an.
Das unmittelbare Gefühl für Unlogik des Geſchehens ſteckt übrigens in uns allen auch in direkteſter Form noch viel energiſcher, als man wohl denkt, wenn man ein ſo philoſophiſches Kulturwort wie „Unlogik“ oder „Logik“ hört. Du kannſt es erſtaunlich ſcharf beobachten bei Kindern. Ja du ſtößſt auf Schritt und Tritt darauf beim Hunde. Kind wie Hund haben auf Grund gewiſſer Erfahrungen Vertrauen zum Verlauf einer Handlung gefaßt. Sie haben gemerkt: wenn die und die Um¬ ſtände eintreten, kommen die und die weiteren Folgen, etwa im Einzelfall angenehme Folgen. Nun ändere plötzlich dieſe Folgen, handle einmal total anders als ſonſt, prügle den Hund, wo er eine Liebkoſung erwartet — und du weckſt einen doppelten Zorn, — nicht nur den über die Prügel ſelbſt, ſondern vor allem auch über das Inkonſequente, das Unlogiſche deiner Handlung.
Weil die Scham ihrem tiefſten Kern nach einer Entrüſtung entſpringt, ein Zornakt iſt, hat ſich ihr auch ein ſonſt ſo un¬ begreifliches Zeichen bei uns zugeſellt: nämlich das Erröten. Wer zornig wird, dem ſchwillt der Kamm vor Blutzufuhr: das kannſt du ſchon am Truthahn ſtudieren. Wäre die Scham
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0124"n="110"/>
eigenen Leibe ſozuſagen erlebt worden: Du ſollſt nicht töten.<lb/>
Dann endlich wird's ein Wort, eine Sittenlehre, die als ſolche<lb/>
überliefert wird. So iſt jene Unlogik der unzeitigen erotiſchen<lb/>
Entblößung ebenfalls lange den Ahnen eingepaukt worden als<lb/>
reale Fauſtthatſache des hauenden Lebens. Nachher iſt's als<lb/>„unſchicklich“ dann ſchon „überliefert“ worden. Das Bezeichnende<lb/>
aber iſt, daß, wenn dieſe Überlieferung der Sitte einmal aus¬<lb/>ſetzte, unzweifelhaft die Sache ſelber ſich wiederum durchſetzen<lb/>
würde, ſo gut wie jenes „Du ſollſt nicht töten.“ Das Un¬<lb/>
praktiſche mit ſeinen Folgen kröche eben nach und nach wieder<lb/>ſo unheimlich heran, daß alles ſich abermals regulieren müßte.<lb/>
Und in dieſem Sinne kannſt du ruhig ſagen: auch der Eskimo<lb/>
von heute erkennt, wenn auch mit dem Denkwörtlein „Sitte“,<lb/>
die tiefinnerliche Unlogik jenes Aktes an.</p><lb/><p>Das unmittelbare Gefühl für Unlogik des Geſchehens<lb/>ſteckt übrigens in uns allen auch in direkteſter Form noch viel<lb/>
energiſcher, als man wohl denkt, wenn man ein ſo philoſophiſches<lb/>
Kulturwort wie „Unlogik“ oder „Logik“ hört. Du kannſt es<lb/>
erſtaunlich ſcharf beobachten bei Kindern. Ja du ſtößſt auf<lb/>
Schritt und Tritt darauf beim Hunde. Kind wie Hund haben<lb/>
auf Grund gewiſſer Erfahrungen Vertrauen zum Verlauf einer<lb/>
Handlung gefaßt. Sie haben gemerkt: wenn die und die Um¬<lb/>ſtände eintreten, kommen die und die weiteren Folgen, etwa<lb/>
im Einzelfall angenehme Folgen. Nun ändere plötzlich dieſe<lb/>
Folgen, handle einmal total anders als ſonſt, prügle den Hund,<lb/>
wo er eine Liebkoſung erwartet — und du weckſt einen doppelten<lb/>
Zorn, — nicht nur den über die Prügel ſelbſt, ſondern vor<lb/>
allem auch über das Inkonſequente, das Unlogiſche deiner<lb/>
Handlung.</p><lb/><p>Weil die Scham ihrem tiefſten Kern nach einer Entrüſtung<lb/>
entſpringt, ein Zornakt iſt, hat ſich ihr auch ein ſonſt ſo un¬<lb/>
begreifliches Zeichen bei uns zugeſellt: nämlich das Erröten.<lb/>
Wer zornig wird, dem ſchwillt der Kamm vor Blutzufuhr:<lb/>
das kannſt du ſchon am Truthahn ſtudieren. Wäre die Scham<lb/></p></div></body></text></TEI>
[110/0124]
eigenen Leibe ſozuſagen erlebt worden: Du ſollſt nicht töten.
Dann endlich wird's ein Wort, eine Sittenlehre, die als ſolche
überliefert wird. So iſt jene Unlogik der unzeitigen erotiſchen
Entblößung ebenfalls lange den Ahnen eingepaukt worden als
reale Fauſtthatſache des hauenden Lebens. Nachher iſt's als
„unſchicklich“ dann ſchon „überliefert“ worden. Das Bezeichnende
aber iſt, daß, wenn dieſe Überlieferung der Sitte einmal aus¬
ſetzte, unzweifelhaft die Sache ſelber ſich wiederum durchſetzen
würde, ſo gut wie jenes „Du ſollſt nicht töten.“ Das Un¬
praktiſche mit ſeinen Folgen kröche eben nach und nach wieder
ſo unheimlich heran, daß alles ſich abermals regulieren müßte.
Und in dieſem Sinne kannſt du ruhig ſagen: auch der Eskimo
von heute erkennt, wenn auch mit dem Denkwörtlein „Sitte“,
die tiefinnerliche Unlogik jenes Aktes an.
Das unmittelbare Gefühl für Unlogik des Geſchehens
ſteckt übrigens in uns allen auch in direkteſter Form noch viel
energiſcher, als man wohl denkt, wenn man ein ſo philoſophiſches
Kulturwort wie „Unlogik“ oder „Logik“ hört. Du kannſt es
erſtaunlich ſcharf beobachten bei Kindern. Ja du ſtößſt auf
Schritt und Tritt darauf beim Hunde. Kind wie Hund haben
auf Grund gewiſſer Erfahrungen Vertrauen zum Verlauf einer
Handlung gefaßt. Sie haben gemerkt: wenn die und die Um¬
ſtände eintreten, kommen die und die weiteren Folgen, etwa
im Einzelfall angenehme Folgen. Nun ändere plötzlich dieſe
Folgen, handle einmal total anders als ſonſt, prügle den Hund,
wo er eine Liebkoſung erwartet — und du weckſt einen doppelten
Zorn, — nicht nur den über die Prügel ſelbſt, ſondern vor
allem auch über das Inkonſequente, das Unlogiſche deiner
Handlung.
Weil die Scham ihrem tiefſten Kern nach einer Entrüſtung
entſpringt, ein Zornakt iſt, hat ſich ihr auch ein ſonſt ſo un¬
begreifliches Zeichen bei uns zugeſellt: nämlich das Erröten.
Wer zornig wird, dem ſchwillt der Kamm vor Blutzufuhr:
das kannſt du ſchon am Truthahn ſtudieren. Wäre die Scham
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/124>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.