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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Mutter. Bekanntlich wurzelt das Kind im nährenden Mutterleibe
durch eine Art wirklichen äußerlichen Wurzelorgans, den so¬
genannten Mutterkuchen (Placenta). Ein langer Wurzelschlauch,
die Nabelschnur, leitet vom Nabel des Kindes in diese Blut¬
wurzel kunstvoll hinein, offen im Innern für den pulsenden
Lebenssaft. Nun kommt die Geburt: das Kindlein fliegt
plötzlich durch das weit geöffnete Geschlechtsthor der Mutter
ins Freie hinaus. Der ganze anhängende Apparat, Schlauch
wie Wurzel, geht mit. Aber da draußen ohne Zusammenhang
mit der Mutter sind sie fortan überflüssig. Die Wurzel, dem
Nährboden entfremdet, stirbt und fault. Jetzt würde der offen
leitende Schlauch am Kindesnabel nicht Leben mit Leben
speisen, sondern das Los schaffen eines siamesischen Zwillings¬
paares, von dem der eine Zwilling stirbt und alsbald den un¬
trennbar verwachsenen anderen tödlich vergiftet, daß er auch
sterben muß. So müßte das Kind jetzt sterben an der faulen¬
den Nachgeburt, wenn nicht eine eingreifende Hand resolut
die Verbindung löste. Das allbekannte Bild der Hebamme
taucht dir auf mit ihrer großen Klappschere. Sie durchschneidet
einfach die Nabelschnur. Wie bei einem jäh durchschnittenen
Stengel möchte es aber da geschehen, daß nun der Lebenssaft
von der Kindesseite her sich todbringend ergösse, denn die
Hohlheit des Wurzelschlauches mündete ja ohne Verschluß
bisher in die Blutbahnen des Kindes ein. Darum wird von
der Hebamme gleich nach dem entscheidenden Schnitt für einen
künstlichen Verschluß gesorgt.

Was uns nun nicht ein will, ist, daß diese ganze ver¬
wickelte Prozedur von Abschneiden und Zuschließen die eben
entbundene Mutter selber sollte vollziehen können. Hier vergiß
aber wieder einmal nicht, daß jene ganze seltsame Einwurzelung
des Kindes im Mutterleibe schon bei der ganzen Masse der
höheren Säugetiere oberhalb des Beuteltiers vorhanden ist.

Die erste Anlage dazu findet sich noch bei einem Beutel¬
tier selber, dem seltsamen Beuteldachs Australiens. Bei allen

Mutter. Bekanntlich wurzelt das Kind im nährenden Mutterleibe
durch eine Art wirklichen äußerlichen Wurzelorgans, den ſo¬
genannten Mutterkuchen (Placenta). Ein langer Wurzelſchlauch,
die Nabelſchnur, leitet vom Nabel des Kindes in dieſe Blut¬
wurzel kunſtvoll hinein, offen im Innern für den pulſenden
Lebensſaft. Nun kommt die Geburt: das Kindlein fliegt
plötzlich durch das weit geöffnete Geſchlechtsthor der Mutter
ins Freie hinaus. Der ganze anhängende Apparat, Schlauch
wie Wurzel, geht mit. Aber da draußen ohne Zuſammenhang
mit der Mutter ſind ſie fortan überflüſſig. Die Wurzel, dem
Nährboden entfremdet, ſtirbt und fault. Jetzt würde der offen
leitende Schlauch am Kindesnabel nicht Leben mit Leben
ſpeiſen, ſondern das Los ſchaffen eines ſiameſiſchen Zwillings¬
paares, von dem der eine Zwilling ſtirbt und alsbald den un¬
trennbar verwachſenen anderen tödlich vergiftet, daß er auch
ſterben muß. So müßte das Kind jetzt ſterben an der faulen¬
den Nachgeburt, wenn nicht eine eingreifende Hand reſolut
die Verbindung löſte. Das allbekannte Bild der Hebamme
taucht dir auf mit ihrer großen Klappſchere. Sie durchſchneidet
einfach die Nabelſchnur. Wie bei einem jäh durchſchnittenen
Stengel möchte es aber da geſchehen, daß nun der Lebensſaft
von der Kindesſeite her ſich todbringend ergöſſe, denn die
Hohlheit des Wurzelſchlauches mündete ja ohne Verſchluß
bisher in die Blutbahnen des Kindes ein. Darum wird von
der Hebamme gleich nach dem entſcheidenden Schnitt für einen
künſtlichen Verſchluß geſorgt.

Was uns nun nicht ein will, iſt, daß dieſe ganze ver¬
wickelte Prozedur von Abſchneiden und Zuſchließen die eben
entbundene Mutter ſelber ſollte vollziehen können. Hier vergiß
aber wieder einmal nicht, daß jene ganze ſeltſame Einwurzelung
des Kindes im Mutterleibe ſchon bei der ganzen Maſſe der
höheren Säugetiere oberhalb des Beuteltiers vorhanden iſt.

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[96/0110] Mutter. Bekanntlich wurzelt das Kind im nährenden Mutterleibe durch eine Art wirklichen äußerlichen Wurzelorgans, den ſo¬ genannten Mutterkuchen (Placenta). Ein langer Wurzelſchlauch, die Nabelſchnur, leitet vom Nabel des Kindes in dieſe Blut¬ wurzel kunſtvoll hinein, offen im Innern für den pulſenden Lebensſaft. Nun kommt die Geburt: das Kindlein fliegt plötzlich durch das weit geöffnete Geſchlechtsthor der Mutter ins Freie hinaus. Der ganze anhängende Apparat, Schlauch wie Wurzel, geht mit. Aber da draußen ohne Zuſammenhang mit der Mutter ſind ſie fortan überflüſſig. Die Wurzel, dem Nährboden entfremdet, ſtirbt und fault. Jetzt würde der offen leitende Schlauch am Kindesnabel nicht Leben mit Leben ſpeiſen, ſondern das Los ſchaffen eines ſiameſiſchen Zwillings¬ paares, von dem der eine Zwilling ſtirbt und alsbald den un¬ trennbar verwachſenen anderen tödlich vergiftet, daß er auch ſterben muß. So müßte das Kind jetzt ſterben an der faulen¬ den Nachgeburt, wenn nicht eine eingreifende Hand reſolut die Verbindung löſte. Das allbekannte Bild der Hebamme taucht dir auf mit ihrer großen Klappſchere. Sie durchſchneidet einfach die Nabelſchnur. Wie bei einem jäh durchſchnittenen Stengel möchte es aber da geſchehen, daß nun der Lebensſaft von der Kindesſeite her ſich todbringend ergöſſe, denn die Hohlheit des Wurzelſchlauches mündete ja ohne Verſchluß bisher in die Blutbahnen des Kindes ein. Darum wird von der Hebamme gleich nach dem entſcheidenden Schnitt für einen künſtlichen Verſchluß geſorgt. Was uns nun nicht ein will, iſt, daß dieſe ganze ver¬ wickelte Prozedur von Abſchneiden und Zuſchließen die eben entbundene Mutter ſelber ſollte vollziehen können. Hier vergiß aber wieder einmal nicht, daß jene ganze ſeltſame Einwurzelung des Kindes im Mutterleibe ſchon bei der ganzen Maſſe der höheren Säugetiere oberhalb des Beuteltiers vorhanden iſt. Die erſte Anlage dazu findet ſich noch bei einem Beutel¬ tier ſelber, dem ſeltſamen Beuteldachs Auſtraliens. Bei allen

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/110>, abgerufen am 24.11.2024.