Nimm die kleine, eben aus dem violetten Knöspchen ent¬ faltete Vergißmeinnichtblüte hier. Sie schaut dich an wie ein liebes taufrisches Mädchenantlitz, ein Zwergenmädchen, auf einen grünen Stengel verzaubert. Und doch ist es kein Ge¬ sicht, du irrst dich. Es ist der Liebesschoß des Pflanzenelfchens. Der köstlichste, heiligste Teil des ganzen grünen Pflanzenleibes ist es. Und auch dieser kleine Leib ist ein Wissender: ohne Scheu, in klarer Erkenntnis seiner Bestimmung, reckt er dieses wichtigste Glied am offensten in die Sonne vor. Das Blau der weichen Elfenhaut soll Insekten anlocken, daß sie den Liebes¬ boten spielen. Das gelbe Kränzlein, das so lieblich in dem blauen Stern glänzt, wirkt auf das Insekt wie ein treues Wirtshausschild: hier giebt's Honig. Indem das Insekt den Honig nascht, trägt es den Samen auf den Griffel einer Nachbar¬ pflanze. Alles nur Geschlechtsteile und Geschlechtssachen. Jedes farbenprangende Blumenparkett eine einzige ungeheure An¬ preisung zahlloser Geschlechtsglieder. Geschlechtsteile sind die weißen Myrtensternchen, die du der Braut ins Haar windest. Ein Geschlechtsglied ist die lackrote Nelke deines Knopflochs. Männliche Geschlechtsglieder sind die goldig stäubenden Hasel¬ kätzchen, die du als erste liebe Frühlingsboten dir ins Glas stellst; bei diesen Haseln sind die Geschlechter getrennt: das Kätzchen ist bloß Mannesblüte; am gleichen Zweige aber findest du aus der Spitze brauner Blattknöspchen auch winzige rote Federblütchen vorschauend, -- das sind die Weibesteile, die sehnsüchtig den goldenen Lebensstaub der anderen aufsaugen und so begattet werden.
Und doch, wenn du das alles dir sagst, was ändert sich im Grunde dir nun an der Schönheit, Reinheit, Lieblichkeit dieser bunten Blumenkinder, an der unschuldige Augen sich erfreuen werden, solange die Sonne diesen heiteren Planeten wärmt und Farben und Düfte kocht in lebendigen Pflanzen¬ zellen? Ich denke doch, sie bleiben dir erst recht so lieb wie zuvor. Bloß daß du jetzt noch ein intimeres Verhältnis zu
Nimm die kleine, eben aus dem violetten Knöſpchen ent¬ faltete Vergißmeinnichtblüte hier. Sie ſchaut dich an wie ein liebes taufriſches Mädchenantlitz, ein Zwergenmädchen, auf einen grünen Stengel verzaubert. Und doch iſt es kein Ge¬ ſicht, du irrſt dich. Es iſt der Liebesſchoß des Pflanzenelfchens. Der köſtlichſte, heiligſte Teil des ganzen grünen Pflanzenleibes iſt es. Und auch dieſer kleine Leib iſt ein Wiſſender: ohne Scheu, in klarer Erkenntnis ſeiner Beſtimmung, reckt er dieſes wichtigſte Glied am offenſten in die Sonne vor. Das Blau der weichen Elfenhaut ſoll Inſekten anlocken, daß ſie den Liebes¬ boten ſpielen. Das gelbe Kränzlein, das ſo lieblich in dem blauen Stern glänzt, wirkt auf das Inſekt wie ein treues Wirtshausſchild: hier giebt's Honig. Indem das Inſekt den Honig naſcht, trägt es den Samen auf den Griffel einer Nachbar¬ pflanze. Alles nur Geſchlechtsteile und Geſchlechtsſachen. Jedes farbenprangende Blumenparkett eine einzige ungeheure An¬ preiſung zahlloſer Geſchlechtsglieder. Geſchlechtsteile ſind die weißen Myrtenſternchen, die du der Braut ins Haar windeſt. Ein Geſchlechtsglied iſt die lackrote Nelke deines Knopflochs. Männliche Geſchlechtsglieder ſind die goldig ſtäubenden Haſel¬ kätzchen, die du als erſte liebe Frühlingsboten dir ins Glas ſtellſt; bei dieſen Haſeln ſind die Geſchlechter getrennt: das Kätzchen iſt bloß Mannesblüte; am gleichen Zweige aber findeſt du aus der Spitze brauner Blattknöſpchen auch winzige rote Federblütchen vorſchauend, — das ſind die Weibesteile, die ſehnſüchtig den goldenen Lebensſtaub der anderen aufſaugen und ſo begattet werden.
Und doch, wenn du das alles dir ſagſt, was ändert ſich im Grunde dir nun an der Schönheit, Reinheit, Lieblichkeit dieſer bunten Blumenkinder, an der unſchuldige Augen ſich erfreuen werden, ſolange die Sonne dieſen heiteren Planeten wärmt und Farben und Düfte kocht in lebendigen Pflanzen¬ zellen? Ich denke doch, ſie bleiben dir erſt recht ſo lieb wie zuvor. Bloß daß du jetzt noch ein intimeres Verhältnis zu
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Nimm die kleine, eben aus dem violetten Knöſpchen ent¬
faltete Vergißmeinnichtblüte hier. Sie ſchaut dich an wie ein
liebes taufriſches Mädchenantlitz, ein Zwergenmädchen, auf
einen grünen Stengel verzaubert. Und doch iſt es kein Ge¬
ſicht, du irrſt dich. Es iſt der Liebesſchoß des Pflanzenelfchens.
Der köſtlichſte, heiligſte Teil des ganzen grünen Pflanzenleibes
iſt es. Und auch dieſer kleine Leib iſt ein Wiſſender: ohne
Scheu, in klarer Erkenntnis ſeiner Beſtimmung, reckt er dieſes
wichtigſte Glied am offenſten in die Sonne vor. Das Blau
der weichen Elfenhaut ſoll Inſekten anlocken, daß ſie den Liebes¬
boten ſpielen. Das gelbe Kränzlein, das ſo lieblich in dem
blauen Stern glänzt, wirkt auf das Inſekt wie ein treues
Wirtshausſchild: hier giebt's Honig. Indem das Inſekt den
Honig naſcht, trägt es den Samen auf den Griffel einer Nachbar¬
pflanze. Alles nur Geſchlechtsteile und Geſchlechtsſachen. Jedes
farbenprangende Blumenparkett eine einzige ungeheure An¬
preiſung zahlloſer Geſchlechtsglieder. Geſchlechtsteile ſind die
weißen Myrtenſternchen, die du der Braut ins Haar windeſt.
Ein Geſchlechtsglied iſt die lackrote Nelke deines Knopflochs.
Männliche Geſchlechtsglieder ſind die goldig ſtäubenden Haſel¬
kätzchen, die du als erſte liebe Frühlingsboten dir ins Glas
ſtellſt; bei dieſen Haſeln ſind die Geſchlechter getrennt: das
Kätzchen iſt bloß Mannesblüte; am gleichen Zweige aber findeſt
du aus der Spitze brauner Blattknöſpchen auch winzige rote
Federblütchen vorſchauend, — das ſind die Weibesteile, die
ſehnſüchtig den goldenen Lebensſtaub der anderen aufſaugen
und ſo begattet werden.
Und doch, wenn du das alles dir ſagſt, was ändert ſich
im Grunde dir nun an der Schönheit, Reinheit, Lieblichkeit
dieſer bunten Blumenkinder, an der unſchuldige Augen ſich
erfreuen werden, ſolange die Sonne dieſen heiteren Planeten
wärmt und Farben und Düfte kocht in lebendigen Pflanzen¬
zellen? Ich denke doch, ſie bleiben dir erſt recht ſo lieb wie
zuvor. Bloß daß du jetzt noch ein intimeres Verhältnis zu
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/73>, abgerufen am 24.11.2024.
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