Unwillkürlich meinen wir, die Welt müsse einen besonderen Tag gehabt haben, als sich das ereignete. Ein Klang müsse durch die Sphären gegangen, aus den Nieren der Erde herauf¬ gekommen sein wie Glockengeläut. In einem Kapitel des Hiob fragt Jehova mit dem Stolz eines wahren Weltpoeten, der an die Stunde denkt, da er seine Welt gedichtet hat und seine Verse ihn zum ersten Mal anblitzten: "Wo warst du, da ich die Erde gründete, -- da mich die Morgensterne miteinander lobeten und jauchzeten alle Kinder Gottes?"
Etwas von diesem Jauchzen der Morgensterne erwartet man mindestens. Aber nichts. Die Geistesgeschichte der Erde ist kein Theater gewesen, das auf uns als Zuschauer zielte. Und im Grunde sollten wir das aus der späteren Geschichte der Menschheit schon wissen. Die Morgensterne haben nicht hörbar gejauchzt und die Sphären geläutet, als "Homer" die Ilias komponierte. Im Gegenteil, der Dichter ist verschollen bis zum Niemehrwiederfinden, bis zum Triumph der Schul¬ meister, die hier wie immer die Person töten möchten. Shake¬ speare ist heute auf dem besten Wege, dieses Los zu teilen. Zoroaster, Buddha, Confutse, Moses sind rote Feuersäulen im Nebel. Der Schein fließt und hellt eine Menschheitsepoche auf. Aber die Hand, die die Fackel gehalten hat, scheint aus dem Nichts zu kommen. Und doch müssen es Riesenhände gewesen sein, die da irgendwo heruntertappten. Christus, über dessen Wiege die Legende wirklich die Engel singen läßt, ist als historische Gestalt wie in einem schwarzen Wasser kritischen Wirrwarrs versunken, er, dessen Geist auf Sturmwassern ging und heute noch geht. Wo ist der Mann, der jenes Buch Hiob gedichtet hat? Wo der Meister von Pergamon? Du mußt in einsamer Sonnenstunde vor der Venus von Milo im Pariser Louvre gestanden haben und dir gesagt haben, daß diese unsagbare Frauenschöne keinen Namen eines Künstlers trägt und daß ihre ganze Fortexistenz an den paar Zoll Näher¬ rücken jener brutalen Kraft hing, die schon ihre Arme zu Staub
Unwillkürlich meinen wir, die Welt müſſe einen beſonderen Tag gehabt haben, als ſich das ereignete. Ein Klang müſſe durch die Sphären gegangen, aus den Nieren der Erde herauf¬ gekommen ſein wie Glockengeläut. In einem Kapitel des Hiob fragt Jehova mit dem Stolz eines wahren Weltpoeten, der an die Stunde denkt, da er ſeine Welt gedichtet hat und ſeine Verſe ihn zum erſten Mal anblitzten: „Wo warſt du, da ich die Erde gründete, — da mich die Morgenſterne miteinander lobeten und jauchzeten alle Kinder Gottes?“
Etwas von dieſem Jauchzen der Morgenſterne erwartet man mindeſtens. Aber nichts. Die Geiſtesgeſchichte der Erde iſt kein Theater geweſen, das auf uns als Zuſchauer zielte. Und im Grunde ſollten wir das aus der ſpäteren Geſchichte der Menſchheit ſchon wiſſen. Die Morgenſterne haben nicht hörbar gejauchzt und die Sphären geläutet, als „Homer“ die Ilias komponierte. Im Gegenteil, der Dichter iſt verſchollen bis zum Niemehrwiederfinden, bis zum Triumph der Schul¬ meiſter, die hier wie immer die Perſon töten möchten. Shake¬ ſpeare iſt heute auf dem beſten Wege, dieſes Los zu teilen. Zoroaſter, Buddha, Confutſe, Moſes ſind rote Feuerſäulen im Nebel. Der Schein fließt und hellt eine Menſchheitsepoche auf. Aber die Hand, die die Fackel gehalten hat, ſcheint aus dem Nichts zu kommen. Und doch müſſen es Rieſenhände geweſen ſein, die da irgendwo heruntertappten. Chriſtus, über deſſen Wiege die Legende wirklich die Engel ſingen läßt, iſt als hiſtoriſche Geſtalt wie in einem ſchwarzen Waſſer kritiſchen Wirrwarrs verſunken, er, deſſen Geiſt auf Sturmwaſſern ging und heute noch geht. Wo iſt der Mann, der jenes Buch Hiob gedichtet hat? Wo der Meiſter von Pergamon? Du mußt in einſamer Sonnenſtunde vor der Venus von Milo im Pariſer Louvre geſtanden haben und dir geſagt haben, daß dieſe unſagbare Frauenſchöne keinen Namen eines Künſtlers trägt und daß ihre ganze Fortexiſtenz an den paar Zoll Näher¬ rücken jener brutalen Kraft hing, die ſchon ihre Arme zu Staub
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Unwillkürlich meinen wir, die Welt müſſe einen beſonderen
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durch die Sphären gegangen, aus den Nieren der Erde herauf¬
gekommen ſein wie Glockengeläut. In einem Kapitel des Hiob
fragt Jehova mit dem Stolz eines wahren Weltpoeten, der an
die Stunde denkt, da er ſeine Welt gedichtet hat und ſeine
Verſe ihn zum erſten Mal anblitzten: „Wo warſt du, da ich
die Erde gründete, — da mich die Morgenſterne miteinander
lobeten und jauchzeten alle Kinder Gottes?“
Etwas von dieſem Jauchzen der Morgenſterne erwartet
man mindeſtens. Aber nichts. Die Geiſtesgeſchichte der Erde
iſt kein Theater geweſen, das auf uns als Zuſchauer zielte.
Und im Grunde ſollten wir das aus der ſpäteren Geſchichte
der Menſchheit ſchon wiſſen. Die Morgenſterne haben nicht
hörbar gejauchzt und die Sphären geläutet, als „Homer“ die
Ilias komponierte. Im Gegenteil, der Dichter iſt verſchollen
bis zum Niemehrwiederfinden, bis zum Triumph der Schul¬
meiſter, die hier wie immer die Perſon töten möchten. Shake¬
ſpeare iſt heute auf dem beſten Wege, dieſes Los zu teilen.
Zoroaſter, Buddha, Confutſe, Moſes ſind rote Feuerſäulen im
Nebel. Der Schein fließt und hellt eine Menſchheitsepoche auf.
Aber die Hand, die die Fackel gehalten hat, ſcheint aus dem
Nichts zu kommen. Und doch müſſen es Rieſenhände geweſen
ſein, die da irgendwo heruntertappten. Chriſtus, über deſſen
Wiege die Legende wirklich die Engel ſingen läßt, iſt als
hiſtoriſche Geſtalt wie in einem ſchwarzen Waſſer kritiſchen
Wirrwarrs verſunken, er, deſſen Geiſt auf Sturmwaſſern ging
und heute noch geht. Wo iſt der Mann, der jenes Buch Hiob
gedichtet hat? Wo der Meiſter von Pergamon? Du mußt
in einſamer Sonnenſtunde vor der Venus von Milo im
Pariſer Louvre geſtanden haben und dir geſagt haben, daß
dieſe unſagbare Frauenſchöne keinen Namen eines Künſtlers
trägt und daß ihre ganze Fortexiſtenz an den paar Zoll Näher¬
rücken jener brutalen Kraft hing, die ſchon ihre Arme zu Staub
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/52>, abgerufen am 24.11.2024.
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