des Venediger-Männleins, der alle versunkenen Schätze der Tiefe spiegelt, scheint das Mikroskop geworden zu sein. Da drängen sich silberne Kettenpanzer, runde Sarazenenschilde mit Buckeln und scharfen Spitzen, Helme mit feinem Visir und langen Bügeln, köstliches Geschmeide aller Art, Ringe und Spangen, Spielzeug in Edelmetall und von alter Goldschmied¬ arbeit, als sei es für Königskinder geschaffen, Kaiserkronen und Papstkronen, Szepter und altertümliche Schwerter, auch fromme Kreuze und Dornenkronen. Manches zerbrochen, wie es Schätzen aus verschollenen Tagen zukommt. Aber noch jedes Bruchstück ein Wunderwerk der Kunst. Und doch jetzt das alles kein wirklicher Schatz von Menschenhand. Dieses Pröbchen Staub ist eine Hekatombe winzigsten Lebens, das die ungeheure, meilen¬ lange Wassersäule durchwimmelt hat. Es sind die harten Schalen einzelliger Urtiere, der sogenannten Radiolarien, jede aufgebaut aus Kieselerde, also demselben Stoff, der den schönen Bergkristall bildet. Aufgebaut aber nach geheimisvollen Ge¬ setzen rhythmischer Anordnung, die unser Menschenauge als "schön" begrüßt. Aufgebaut vom formlosen Schleimleibe jener niedrigen Wesen in der schwarzen Wassernacht. Zum tiefsten Abgrund hinabgesunken bilden die Schalen heute dort den Schlamm, den Staub. In jeder Schnupftabakpriese solchen Staubes hundert und aberhundert köstlichste Formen, -- Formen, kristallartig vollkommen in ihrem Linienbau und doch schon vergeistigt, vom Organischen, dem unzweideutig "Lebendigen", gleichsam in zweiter Instanz der Natur erzeugt.
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Und nun hebe den Blick wieder auf vom Mikroskop und vergegenwärtige dir. Jeder dieser entzückenden Radiolarien¬ panzer, in die sich dir der "Staub" auflöste, setzt sich inner¬
des Venediger-Männleins, der alle verſunkenen Schätze der Tiefe ſpiegelt, ſcheint das Mikroſkop geworden zu ſein. Da drängen ſich ſilberne Kettenpanzer, runde Sarazenenſchilde mit Buckeln und ſcharfen Spitzen, Helme mit feinem Viſir und langen Bügeln, köſtliches Geſchmeide aller Art, Ringe und Spangen, Spielzeug in Edelmetall und von alter Goldſchmied¬ arbeit, als ſei es für Königskinder geſchaffen, Kaiſerkronen und Papſtkronen, Szepter und altertümliche Schwerter, auch fromme Kreuze und Dornenkronen. Manches zerbrochen, wie es Schätzen aus verſchollenen Tagen zukommt. Aber noch jedes Bruchſtück ein Wunderwerk der Kunſt. Und doch jetzt das alles kein wirklicher Schatz von Menſchenhand. Dieſes Pröbchen Staub iſt eine Hekatombe winzigſten Lebens, das die ungeheure, meilen¬ lange Waſſerſäule durchwimmelt hat. Es ſind die harten Schalen einzelliger Urtiere, der ſogenannten Radiolarien, jede aufgebaut aus Kieſelerde, alſo demſelben Stoff, der den ſchönen Bergkriſtall bildet. Aufgebaut aber nach geheimisvollen Ge¬ ſetzen rhythmiſcher Anordnung, die unſer Menſchenauge als „ſchön“ begrüßt. Aufgebaut vom formloſen Schleimleibe jener niedrigen Weſen in der ſchwarzen Waſſernacht. Zum tiefſten Abgrund hinabgeſunken bilden die Schalen heute dort den Schlamm, den Staub. In jeder Schnupftabakprieſe ſolchen Staubes hundert und aberhundert köſtlichſte Formen, — Formen, kriſtallartig vollkommen in ihrem Linienbau und doch ſchon vergeiſtigt, vom Organiſchen, dem unzweideutig „Lebendigen“, gleichſam in zweiter Inſtanz der Natur erzeugt.
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Und nun hebe den Blick wieder auf vom Mikroſkop und vergegenwärtige dir. Jeder dieſer entzückenden Radiolarien¬ panzer, in die ſich dir der „Staub“ auflöſte, ſetzt ſich inner¬
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des Venediger-Männleins, der alle verſunkenen Schätze der
Tiefe ſpiegelt, ſcheint das Mikroſkop geworden zu ſein. Da
drängen ſich ſilberne Kettenpanzer, runde Sarazenenſchilde mit
Buckeln und ſcharfen Spitzen, Helme mit feinem Viſir und
langen Bügeln, köſtliches Geſchmeide aller Art, Ringe und
Spangen, Spielzeug in Edelmetall und von alter Goldſchmied¬
arbeit, als ſei es für Königskinder geſchaffen, Kaiſerkronen und
Papſtkronen, Szepter und altertümliche Schwerter, auch fromme
Kreuze und Dornenkronen. Manches zerbrochen, wie es Schätzen
aus verſchollenen Tagen zukommt. Aber noch jedes Bruchſtück
ein Wunderwerk der Kunſt. Und doch jetzt das alles kein
wirklicher Schatz von Menſchenhand. Dieſes Pröbchen Staub
iſt eine Hekatombe winzigſten Lebens, das die ungeheure, meilen¬
lange Waſſerſäule durchwimmelt hat. Es ſind die harten
Schalen einzelliger Urtiere, der ſogenannten Radiolarien, jede
aufgebaut aus Kieſelerde, alſo demſelben Stoff, der den ſchönen
Bergkriſtall bildet. Aufgebaut aber nach geheimisvollen Ge¬
ſetzen rhythmiſcher Anordnung, die unſer Menſchenauge als
„ſchön“ begrüßt. Aufgebaut vom formloſen Schleimleibe jener
niedrigen Weſen in der ſchwarzen Waſſernacht. Zum tiefſten
Abgrund hinabgeſunken bilden die Schalen heute dort den
Schlamm, den Staub. In jeder Schnupftabakprieſe ſolchen
Staubes hundert und aberhundert köſtlichſte Formen, — Formen,
kriſtallartig vollkommen in ihrem Linienbau und doch ſchon
vergeiſtigt, vom Organiſchen, dem unzweideutig „Lebendigen“,
gleichſam in zweiter Inſtanz der Natur erzeugt.
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Und nun hebe den Blick wieder auf vom Mikroſkop und
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/47>, abgerufen am 24.11.2024.
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