Fatum regierten Natur. Schöne Mädchen sitzen am Welten¬ wege und er küßt sie. Diese Welt selbst mit Sonne und Meer und Blütenkelchen ist aber vorhanden auch ohne ihn. Er ist bloß etwas der größere, stärkere Mensch darin. Er beherrscht schon die Elektrizität und blitzt, wo Achilles bloß Speere schleudern kann. Er sieht durch Wände wie mit Röntgenstrahlen. Er streut Pestbazillen über ein Griechenheer, dessen Ärzte noch kein Mikroskop besitzen. Er fliegt in die Wolken, wie ein paar Jahrtausende später Montgolfiers Ballon. Wie hübsch klein dieser Gott noch war. Er umspannte die Menschen bloß durch ein paar verbesserte technische Fähigkeiten. Geschweige denn die Natur im ganzen. Aber selbst den Menschen faßte er nicht in die Tiefen seiner Innenwelt hinein. Nur ein schwächlicher Abglanz waren die Leidenschaften, die inneren Schicksale der Götter von dem Ungeheuren, das wirklich in des Menschen ganzer Tiefe lag. Der Mensch, wenn er sich be¬ sann, war größer als sein Gott. Und er besann sich schließlich.
Gott bekam ein neues Reich, nach Innen hinab. Unter dem heiligen Banyanenbaum am Ganges, der noch heute von Buddha rauscht, sank Gott zum erstenmal in die Kniee vor dem Menschen, erfaßt von jenem Ungeheuren des moralischen Schicksals in der Tiefe der Menschenbrust. Und er zerbrach die Königskrone und wurde ganz Mensch. Und nahm das Ungeheure in sich auf: die eine Hälfte der Welt. Es war derselbe Gott, der auf Golgatha seine Arme ausbreitete, die ganze Menschheit zu umfangen, -- sie waren mit Nägeln an¬ geheftet, diese Arme, zum Beweis, daß die Sache nicht so leicht war. Und doch hat er gefaßt, was er wollte.
Nun geht über ein Jahrtausend hin. Neue Zeiten reifen. Da kommt zu der einen auch die andere Hälfte der Welt. Die Naturerkenntnis eröffnet den Kosmos. Und auch dieser Kosmos geht jetzt restlos ein in Gott. Zu den Tiefen des Menschenschicksals kommen die Tiefen des unermeßlichen Sternenmeers. Gott, der Mensch geworden ist, wird jetzt
Fatum regierten Natur. Schöne Mädchen ſitzen am Welten¬ wege und er küßt ſie. Dieſe Welt ſelbſt mit Sonne und Meer und Blütenkelchen iſt aber vorhanden auch ohne ihn. Er iſt bloß etwas der größere, ſtärkere Menſch darin. Er beherrſcht ſchon die Elektrizität und blitzt, wo Achilles bloß Speere ſchleudern kann. Er ſieht durch Wände wie mit Röntgenſtrahlen. Er ſtreut Peſtbazillen über ein Griechenheer, deſſen Ärzte noch kein Mikroſkop beſitzen. Er fliegt in die Wolken, wie ein paar Jahrtauſende ſpäter Montgolfiers Ballon. Wie hübſch klein dieſer Gott noch war. Er umſpannte die Menſchen bloß durch ein paar verbeſſerte techniſche Fähigkeiten. Geſchweige denn die Natur im ganzen. Aber ſelbſt den Menſchen faßte er nicht in die Tiefen ſeiner Innenwelt hinein. Nur ein ſchwächlicher Abglanz waren die Leidenſchaften, die inneren Schickſale der Götter von dem Ungeheuren, das wirklich in des Menſchen ganzer Tiefe lag. Der Menſch, wenn er ſich be¬ ſann, war größer als ſein Gott. Und er beſann ſich ſchließlich.
Gott bekam ein neues Reich, nach Innen hinab. Unter dem heiligen Banyanenbaum am Ganges, der noch heute von Buddha rauſcht, ſank Gott zum erſtenmal in die Kniee vor dem Menſchen, erfaßt von jenem Ungeheuren des moraliſchen Schickſals in der Tiefe der Menſchenbruſt. Und er zerbrach die Königskrone und wurde ganz Menſch. Und nahm das Ungeheure in ſich auf: die eine Hälfte der Welt. Es war derſelbe Gott, der auf Golgatha ſeine Arme ausbreitete, die ganze Menſchheit zu umfangen, — ſie waren mit Nägeln an¬ geheftet, dieſe Arme, zum Beweis, daß die Sache nicht ſo leicht war. Und doch hat er gefaßt, was er wollte.
Nun geht über ein Jahrtauſend hin. Neue Zeiten reifen. Da kommt zu der einen auch die andere Hälfte der Welt. Die Naturerkenntnis eröffnet den Kosmos. Und auch dieſer Kosmos geht jetzt reſtlos ein in Gott. Zu den Tiefen des Menſchenſchickſals kommen die Tiefen des unermeßlichen Sternenmeers. Gott, der Menſch geworden iſt, wird jetzt
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Fatum regierten Natur. Schöne Mädchen ſitzen am Welten¬
wege und er küßt ſie. Dieſe Welt ſelbſt mit Sonne und Meer
und Blütenkelchen iſt aber vorhanden auch ohne ihn. Er iſt
bloß etwas der größere, ſtärkere Menſch darin. Er beherrſcht
ſchon die Elektrizität und blitzt, wo Achilles bloß Speere
ſchleudern kann. Er ſieht durch Wände wie mit Röntgenſtrahlen.
Er ſtreut Peſtbazillen über ein Griechenheer, deſſen Ärzte noch
kein Mikroſkop beſitzen. Er fliegt in die Wolken, wie ein
paar Jahrtauſende ſpäter Montgolfiers Ballon. Wie hübſch
klein dieſer Gott noch war. Er umſpannte die Menſchen bloß
durch ein paar verbeſſerte techniſche Fähigkeiten. Geſchweige
denn die Natur im ganzen. Aber ſelbſt den Menſchen faßte
er nicht in die Tiefen ſeiner Innenwelt hinein. Nur ein
ſchwächlicher Abglanz waren die Leidenſchaften, die inneren
Schickſale der Götter von dem Ungeheuren, das wirklich in
des Menſchen ganzer Tiefe lag. Der Menſch, wenn er ſich be¬
ſann, war größer als ſein Gott. Und er beſann ſich ſchließlich.
Gott bekam ein neues Reich, nach Innen hinab. Unter
dem heiligen Banyanenbaum am Ganges, der noch heute von
Buddha rauſcht, ſank Gott zum erſtenmal in die Kniee vor
dem Menſchen, erfaßt von jenem Ungeheuren des moraliſchen
Schickſals in der Tiefe der Menſchenbruſt. Und er zerbrach
die Königskrone und wurde ganz Menſch. Und nahm das
Ungeheure in ſich auf: die eine Hälfte der Welt. Es war
derſelbe Gott, der auf Golgatha ſeine Arme ausbreitete, die
ganze Menſchheit zu umfangen, — ſie waren mit Nägeln an¬
geheftet, dieſe Arme, zum Beweis, daß die Sache nicht ſo leicht
war. Und doch hat er gefaßt, was er wollte.
Nun geht über ein Jahrtauſend hin. Neue Zeiten reifen.
Da kommt zu der einen auch die andere Hälfte der Welt.
Die Naturerkenntnis eröffnet den Kosmos. Und auch dieſer
Kosmos geht jetzt reſtlos ein in Gott. Zu den Tiefen des
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/42>, abgerufen am 24.11.2024.
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