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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Der männliche Paradiesvogel in seiner Schönheit erscheint
als das Produkt des Schönheitssinnes seines Weibchens, ge¬
nau so wie Rafaels Sixtinische Madonna das Produkt von
Rafaels künstlerisch erhabenem Schönheitssinn ist.

Auch hier erscheint das Schöne auf der vollkommenen
Wanderschaft durch den Geist zurück zum Geist.

Die Mittel sind gröber, es bedarf gewaltiger Zeit dazu,
Vererbung muß in dunkler Arbeit fixieren, was Rafael in der
Gunst kurzer Stunden eines kurzen Menschenlebens mit Hand
und Pinsel zum Gemälde festigt. Aber in der Grundlage ist
der Kreis der Dinge dort geschlossen wie hier. Rafael mit
seinem mir verwandten Schönheitssinne schafft die Madonna,
und sie wirkt auf mich kraft meines eigenen von ihr geweckten
Schönheitssinnes. Das Paradiesvogelweibchen mit seinem mir
verwandten Schönheitssinne schafft die Farbenpracht des männ¬
lichen Paradisiers, und sie wirkt auf mich kraft meines eigenen,
von ihr nur geweckten Schönheitssinnes.

Es liegt in dem Gedankengange Darwins, wie er hier
im Kern wenigstens zu Grunde gelegt ist, eine logische Gewalt
ersten Ranges. Alle haben das empfunden, die aus der gang¬
baren älteren Schulästhetik zum erstenmale vor diese scharfe Schlu߬
kette des Naturforschers gerieten. Zum erstenmale zeigte sich eine
Möglichkeit, eine Schönheit wie die des Paradiesvogels wirklich
in den Rahmen echter menschlicher Schönheitslehre einzuordnen.

Zugleich aber erschien etwas innerlich noch viel bedeut¬
sameres. Der Weg, wie dieses Tier "Schönes" schuf, war
ein umständlicher, grober, niederer. Aber die Wurzel auch
seines Schaffens war im Grunde genau die gleiche wie bei
Rafael: ein geheimnisvolles "Schönfinden" gewisser Dinge
in den seelischen Tiefen seines Gehirns. Nie ist das Tier in
der neueren Naturforschung seelisch dem Menschen näher ge¬
rückt worden als hier. Die ganze Frage war, das darf nicht
vergessen werden, übergespielt in das seelische Gebiet, trotz
aller Strenge naturwissenschaftlichen Denkens.

Der männliche Paradiesvogel in ſeiner Schönheit erſcheint
als das Produkt des Schönheitsſinnes ſeines Weibchens, ge¬
nau ſo wie Rafaels Sixtiniſche Madonna das Produkt von
Rafaels künſtleriſch erhabenem Schönheitsſinn iſt.

Auch hier erſcheint das Schöne auf der vollkommenen
Wanderſchaft durch den Geiſt zurück zum Geiſt.

Die Mittel ſind gröber, es bedarf gewaltiger Zeit dazu,
Vererbung muß in dunkler Arbeit fixieren, was Rafael in der
Gunſt kurzer Stunden eines kurzen Menſchenlebens mit Hand
und Pinſel zum Gemälde feſtigt. Aber in der Grundlage iſt
der Kreis der Dinge dort geſchloſſen wie hier. Rafael mit
ſeinem mir verwandten Schönheitsſinne ſchafft die Madonna,
und ſie wirkt auf mich kraft meines eigenen von ihr geweckten
Schönheitsſinnes. Das Paradiesvogelweibchen mit ſeinem mir
verwandten Schönheitsſinne ſchafft die Farbenpracht des männ¬
lichen Paradiſiers, und ſie wirkt auf mich kraft meines eigenen,
von ihr nur geweckten Schönheitsſinnes.

Es liegt in dem Gedankengange Darwins, wie er hier
im Kern wenigſtens zu Grunde gelegt iſt, eine logiſche Gewalt
erſten Ranges. Alle haben das empfunden, die aus der gang¬
baren älteren Schuläſthetik zum erſtenmale vor dieſe ſcharfe Schlu߬
kette des Naturforſchers gerieten. Zum erſtenmale zeigte ſich eine
Möglichkeit, eine Schönheit wie die des Paradiesvogels wirklich
in den Rahmen echter menſchlicher Schönheitslehre einzuordnen.

Zugleich aber erſchien etwas innerlich noch viel bedeut¬
ſameres. Der Weg, wie dieſes Tier „Schönes“ ſchuf, war
ein umſtändlicher, grober, niederer. Aber die Wurzel auch
ſeines Schaffens war im Grunde genau die gleiche wie bei
Rafael: ein geheimnisvolles „Schönfinden“ gewiſſer Dinge
in den ſeeliſchen Tiefen ſeines Gehirns. Nie iſt das Tier in
der neueren Naturforſchung ſeeliſch dem Menſchen näher ge¬
rückt worden als hier. Die ganze Frage war, das darf nicht
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[383/0399] Der männliche Paradiesvogel in ſeiner Schönheit erſcheint als das Produkt des Schönheitsſinnes ſeines Weibchens, ge¬ nau ſo wie Rafaels Sixtiniſche Madonna das Produkt von Rafaels künſtleriſch erhabenem Schönheitsſinn iſt. Auch hier erſcheint das Schöne auf der vollkommenen Wanderſchaft durch den Geiſt zurück zum Geiſt. Die Mittel ſind gröber, es bedarf gewaltiger Zeit dazu, Vererbung muß in dunkler Arbeit fixieren, was Rafael in der Gunſt kurzer Stunden eines kurzen Menſchenlebens mit Hand und Pinſel zum Gemälde feſtigt. Aber in der Grundlage iſt der Kreis der Dinge dort geſchloſſen wie hier. Rafael mit ſeinem mir verwandten Schönheitsſinne ſchafft die Madonna, und ſie wirkt auf mich kraft meines eigenen von ihr geweckten Schönheitsſinnes. Das Paradiesvogelweibchen mit ſeinem mir verwandten Schönheitsſinne ſchafft die Farbenpracht des männ¬ lichen Paradiſiers, und ſie wirkt auf mich kraft meines eigenen, von ihr nur geweckten Schönheitsſinnes. Es liegt in dem Gedankengange Darwins, wie er hier im Kern wenigſtens zu Grunde gelegt iſt, eine logiſche Gewalt erſten Ranges. Alle haben das empfunden, die aus der gang¬ baren älteren Schuläſthetik zum erſtenmale vor dieſe ſcharfe Schlu߬ kette des Naturforſchers gerieten. Zum erſtenmale zeigte ſich eine Möglichkeit, eine Schönheit wie die des Paradiesvogels wirklich in den Rahmen echter menſchlicher Schönheitslehre einzuordnen. Zugleich aber erſchien etwas innerlich noch viel bedeut¬ ſameres. Der Weg, wie dieſes Tier „Schönes“ ſchuf, war ein umſtändlicher, grober, niederer. Aber die Wurzel auch ſeines Schaffens war im Grunde genau die gleiche wie bei Rafael: ein geheimnisvolles „Schönfinden“ gewiſſer Dinge in den ſeeliſchen Tiefen ſeines Gehirns. Nie iſt das Tier in der neueren Naturforſchung ſeeliſch dem Menſchen näher ge¬ rückt worden als hier. Die ganze Frage war, das darf nicht vergeſſen werden, übergeſpielt in das ſeeliſche Gebiet, trotz aller Strenge naturwiſſenſchaftlichen Denkens.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/399>, abgerufen am 22.11.2024.