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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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ein Wunderwerk der Entwickelung, das aber in sich kein Ge¬
schlecht mehr als Schranke kennt.

Mache nun einen großen Sprung und vergleiche ein Tier
mit dem Menschen, das nach deiner Schätzung wohl schwerlich
als schön gelten kann und das dir höchstens komisch erscheint:
den Igel.

Du kennst die köstliche Geschichte vom Wettlauf des Hasen
und Swinegel. Jedesmal, wenn der Hase ans Ziel saust, er¬
hebt sich dort aus der Ackerfurche Swinegel als "längst ange¬
kommen". Der Kern des Scherzes steckt darin, daß Swinegel
in Wahrheit gar nicht gelaufen ist, sondern nur seine Frau am
Zielpunkt verborgen hat, die jedesmal "Ich bin schon da" ruft,
wenn der Hase keuchend anlangt. Swinegel und Swinegels
Frau sind sich eben so ähnlich, daß der dumme Hase überlistet
wird. Und das Märchen giebt die nette Nutzanwendung,
daß, wer ein braver Swinegel ist, sorgen soll, daß er auch
einen Swinegel zur Frau bekomme. Das Märchen hat aber
auch eine zoologische Nutzanwendung, wie sich denn aus den
meisten Offenbarungen des sinnigen Volksgeistes vielerlei
"Wahres" herauslesen läßt.

Es hat zur Voraussetzung die wirkliche zoologische That¬
sache, daß der männliche und der weibliche Igel sich nur ganz
verschwindend wenig von einander unterscheiden. Es bedarf
hier nicht der Maßstäbe Schön und Häßlich: der Unterschied
der Geschlechter fällt überhaupt so gut wie ganz für den
äußeren Anblick fort. Nun ist der wohlbelobte Herr Swinegel
aber, wie du dich erinnerst, eines der Tiere, die zwischen
Beuteltier und Affe ziemlich nahe deinem eigenen menschlichen
Stammbaum gestanden haben. Um so bedeutsamer, daß ihn
nun schon das Volksmärchen benutzen darf als Vertreter einer
zum Verwechseln ähnlichen äußeren Körpergestalt bei Swinegel-
Mann und Swinegel-Frau. Man bekommt die Idee, daß selbst
der positive Unterschied, der heute zwischen Mann und Frau
beim Menschen besteht (der aber auch schon keinen Unterschied

ein Wunderwerk der Entwickelung, das aber in ſich kein Ge¬
ſchlecht mehr als Schranke kennt.

Mache nun einen großen Sprung und vergleiche ein Tier
mit dem Menſchen, das nach deiner Schätzung wohl ſchwerlich
als ſchön gelten kann und das dir höchſtens komiſch erſcheint:
den Igel.

Du kennſt die köſtliche Geſchichte vom Wettlauf des Haſen
und Swinegel. Jedesmal, wenn der Haſe ans Ziel ſauſt, er¬
hebt ſich dort aus der Ackerfurche Swinegel als „längſt ange¬
kommen“. Der Kern des Scherzes ſteckt darin, daß Swinegel
in Wahrheit gar nicht gelaufen iſt, ſondern nur ſeine Frau am
Zielpunkt verborgen hat, die jedesmal „Ich bin ſchon da“ ruft,
wenn der Haſe keuchend anlangt. Swinegel und Swinegels
Frau ſind ſich eben ſo ähnlich, daß der dumme Haſe überliſtet
wird. Und das Märchen giebt die nette Nutzanwendung,
daß, wer ein braver Swinegel iſt, ſorgen ſoll, daß er auch
einen Swinegel zur Frau bekomme. Das Märchen hat aber
auch eine zoologiſche Nutzanwendung, wie ſich denn aus den
meiſten Offenbarungen des ſinnigen Volksgeiſtes vielerlei
„Wahres“ herausleſen läßt.

Es hat zur Vorausſetzung die wirkliche zoologiſche That¬
ſache, daß der männliche und der weibliche Igel ſich nur ganz
verſchwindend wenig von einander unterſcheiden. Es bedarf
hier nicht der Maßſtäbe Schön und Häßlich: der Unterſchied
der Geſchlechter fällt überhaupt ſo gut wie ganz für den
äußeren Anblick fort. Nun iſt der wohlbelobte Herr Swinegel
aber, wie du dich erinnerſt, eines der Tiere, die zwiſchen
Beuteltier und Affe ziemlich nahe deinem eigenen menſchlichen
Stammbaum geſtanden haben. Um ſo bedeutſamer, daß ihn
nun ſchon das Volksmärchen benutzen darf als Vertreter einer
zum Verwechſeln ähnlichen äußeren Körpergeſtalt bei Swinegel-
Mann und Swinegel-Frau. Man bekommt die Idee, daß ſelbſt
der poſitive Unterſchied, der heute zwiſchen Mann und Frau
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[363/0379] ein Wunderwerk der Entwickelung, das aber in ſich kein Ge¬ ſchlecht mehr als Schranke kennt. Mache nun einen großen Sprung und vergleiche ein Tier mit dem Menſchen, das nach deiner Schätzung wohl ſchwerlich als ſchön gelten kann und das dir höchſtens komiſch erſcheint: den Igel. Du kennſt die köſtliche Geſchichte vom Wettlauf des Haſen und Swinegel. Jedesmal, wenn der Haſe ans Ziel ſauſt, er¬ hebt ſich dort aus der Ackerfurche Swinegel als „längſt ange¬ kommen“. Der Kern des Scherzes ſteckt darin, daß Swinegel in Wahrheit gar nicht gelaufen iſt, ſondern nur ſeine Frau am Zielpunkt verborgen hat, die jedesmal „Ich bin ſchon da“ ruft, wenn der Haſe keuchend anlangt. Swinegel und Swinegels Frau ſind ſich eben ſo ähnlich, daß der dumme Haſe überliſtet wird. Und das Märchen giebt die nette Nutzanwendung, daß, wer ein braver Swinegel iſt, ſorgen ſoll, daß er auch einen Swinegel zur Frau bekomme. Das Märchen hat aber auch eine zoologiſche Nutzanwendung, wie ſich denn aus den meiſten Offenbarungen des ſinnigen Volksgeiſtes vielerlei „Wahres“ herausleſen läßt. Es hat zur Vorausſetzung die wirkliche zoologiſche That¬ ſache, daß der männliche und der weibliche Igel ſich nur ganz verſchwindend wenig von einander unterſcheiden. Es bedarf hier nicht der Maßſtäbe Schön und Häßlich: der Unterſchied der Geſchlechter fällt überhaupt ſo gut wie ganz für den äußeren Anblick fort. Nun iſt der wohlbelobte Herr Swinegel aber, wie du dich erinnerſt, eines der Tiere, die zwiſchen Beuteltier und Affe ziemlich nahe deinem eigenen menſchlichen Stammbaum geſtanden haben. Um ſo bedeutſamer, daß ihn nun ſchon das Volksmärchen benutzen darf als Vertreter einer zum Verwechſeln ähnlichen äußeren Körpergeſtalt bei Swinegel- Mann und Swinegel-Frau. Man bekommt die Idee, daß ſelbſt der poſitive Unterſchied, der heute zwiſchen Mann und Frau beim Menſchen beſteht (der aber auch ſchon keinen Unterſchied

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/379>, abgerufen am 22.11.2024.