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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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duellen örtlichen Lage angepaßt werden. Und das vollbringen
alljährlich in ihrer Nistzeit nun so und so viel Millionen kleiner
und kleinster Vögelchen, mit einer schier unendlichen Beweglich¬
keit ihres winzigen Gehirns in der Wahl des Ortes für jeden
neuen Einzelfall und in der Anpassung des allgemeinen Schemas
der Nestform an die gegebene Einzelmöglichkeit dieses Ortes.

Wer auch hier noch von blindem Instinkt reden will,
wirft alles durcheinander. Jedem, der logisch vergleichen gelernt
hat, erscheint in dieser Individualisierung das denkbar schärfste
Merkmal einer geistigen Thätigkeit, die schlechterdings nur mit
unserer eigenen verglichen werden kann.

Nun meine ich aber, es sei für unsere ganze Erörterung
doch nicht unwichtig, daß wir von einer anderen Stelle her
gerade so aufdringlich an das Dasein eines denkenden Gehirns
beim Vogel gemahnt werden.

Auch unser schöner blauer Rudolfs-Paradiesvogel, von
dem wir ausgingen, besitzt ein solches Gehirn.

Unsere Kunstvergleichung hatte uns aber auf der Seite
des Rafaelschen Gemäldes so sehr nachhaltig auf das Wörtchen
Gehirn gestoßen. In Rafaels Gehirn lebte Gefühl für Schön¬
heit. In das Bild der Sixtinischen Madonna wurde dieses
Gefühl -- gleichsam ein Stück Gehirn Rafaels -- hinein¬
projiziert. Durch diese Projektion, als dauerndes, in der Galerie
hängendes Gemälde vermag das Gefühl heute noch auf mich
zu wirken: es weckt meinen eigenen Schönheitssinn in meinem
Gehirn. Der vollkommene Kreislauf!

Bei dem Vogel wirkte auch etwas auf mich so, daß ich
sagte: ich fühle meinen Schönheitssinn erregt, zur höchsten Be¬
wunderung hingerissen. Aber ich wußte nicht, wo diesmal die
Schönheit herkam. Es fehlte mir die Hälfte der Kreislinie.

Jetzt scheint ein Lichtpunkt mindestens mehr aufzudämmern.
Der Paradiesvogel hat ja auch ein Gehirn!

Es ist zunächst nur ein Lichtpunkt, ganz und gar nicht etwa
schon das fehlende Kreisstück. Denn bei dem Gehirn Rafaels

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duellen örtlichen Lage angepaßt werden. Und das vollbringen
alljährlich in ihrer Niſtzeit nun ſo und ſo viel Millionen kleiner
und kleinſter Vögelchen, mit einer ſchier unendlichen Beweglich¬
keit ihres winzigen Gehirns in der Wahl des Ortes für jeden
neuen Einzelfall und in der Anpaſſung des allgemeinen Schemas
der Neſtform an die gegebene Einzelmöglichkeit dieſes Ortes.

Wer auch hier noch von blindem Inſtinkt reden will,
wirft alles durcheinander. Jedem, der logiſch vergleichen gelernt
hat, erſcheint in dieſer Individualiſierung das denkbar ſchärfſte
Merkmal einer geiſtigen Thätigkeit, die ſchlechterdings nur mit
unſerer eigenen verglichen werden kann.

Nun meine ich aber, es ſei für unſere ganze Erörterung
doch nicht unwichtig, daß wir von einer anderen Stelle her
gerade ſo aufdringlich an das Daſein eines denkenden Gehirns
beim Vogel gemahnt werden.

Auch unſer ſchöner blauer Rudolfs-Paradiesvogel, von
dem wir ausgingen, beſitzt ein ſolches Gehirn.

Unſere Kunſtvergleichung hatte uns aber auf der Seite
des Rafaelſchen Gemäldes ſo ſehr nachhaltig auf das Wörtchen
Gehirn geſtoßen. In Rafaels Gehirn lebte Gefühl für Schön¬
heit. In das Bild der Sixtiniſchen Madonna wurde dieſes
Gefühl — gleichſam ein Stück Gehirn Rafaels — hinein¬
projiziert. Durch dieſe Projektion, als dauerndes, in der Galerie
hängendes Gemälde vermag das Gefühl heute noch auf mich
zu wirken: es weckt meinen eigenen Schönheitsſinn in meinem
Gehirn. Der vollkommene Kreislauf!

Bei dem Vogel wirkte auch etwas auf mich ſo, daß ich
ſagte: ich fühle meinen Schönheitsſinn erregt, zur höchſten Be¬
wunderung hingeriſſen. Aber ich wußte nicht, wo diesmal die
Schönheit herkam. Es fehlte mir die Hälfte der Kreislinie.

Jetzt ſcheint ein Lichtpunkt mindeſtens mehr aufzudämmern.
Der Paradiesvogel hat ja auch ein Gehirn!

Es iſt zunächſt nur ein Lichtpunkt, ganz und gar nicht etwa
ſchon das fehlende Kreisſtück. Denn bei dem Gehirn Rafaels

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[353/0369] duellen örtlichen Lage angepaßt werden. Und das vollbringen alljährlich in ihrer Niſtzeit nun ſo und ſo viel Millionen kleiner und kleinſter Vögelchen, mit einer ſchier unendlichen Beweglich¬ keit ihres winzigen Gehirns in der Wahl des Ortes für jeden neuen Einzelfall und in der Anpaſſung des allgemeinen Schemas der Neſtform an die gegebene Einzelmöglichkeit dieſes Ortes. Wer auch hier noch von blindem Inſtinkt reden will, wirft alles durcheinander. Jedem, der logiſch vergleichen gelernt hat, erſcheint in dieſer Individualiſierung das denkbar ſchärfſte Merkmal einer geiſtigen Thätigkeit, die ſchlechterdings nur mit unſerer eigenen verglichen werden kann. Nun meine ich aber, es ſei für unſere ganze Erörterung doch nicht unwichtig, daß wir von einer anderen Stelle her gerade ſo aufdringlich an das Daſein eines denkenden Gehirns beim Vogel gemahnt werden. Auch unſer ſchöner blauer Rudolfs-Paradiesvogel, von dem wir ausgingen, beſitzt ein ſolches Gehirn. Unſere Kunſtvergleichung hatte uns aber auf der Seite des Rafaelſchen Gemäldes ſo ſehr nachhaltig auf das Wörtchen Gehirn geſtoßen. In Rafaels Gehirn lebte Gefühl für Schön¬ heit. In das Bild der Sixtiniſchen Madonna wurde dieſes Gefühl — gleichſam ein Stück Gehirn Rafaels — hinein¬ projiziert. Durch dieſe Projektion, als dauerndes, in der Galerie hängendes Gemälde vermag das Gefühl heute noch auf mich zu wirken: es weckt meinen eigenen Schönheitsſinn in meinem Gehirn. Der vollkommene Kreislauf! Bei dem Vogel wirkte auch etwas auf mich ſo, daß ich ſagte: ich fühle meinen Schönheitsſinn erregt, zur höchſten Be¬ wunderung hingeriſſen. Aber ich wußte nicht, wo diesmal die Schönheit herkam. Es fehlte mir die Hälfte der Kreislinie. Jetzt ſcheint ein Lichtpunkt mindeſtens mehr aufzudämmern. Der Paradiesvogel hat ja auch ein Gehirn! Es iſt zunächſt nur ein Lichtpunkt, ganz und gar nicht etwa ſchon das fehlende Kreisſtück. Denn bei dem Gehirn Rafaels 23

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/369>, abgerufen am 22.11.2024.